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23. November 2011 um 8:56 Uhr
Sozialarbeiter, das „Schmierfett“ der Gesellschaft
Verantwortlich: Wolfgang Lieb |
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Als damals die Gewalt in England eskalierte, die sogenannten
Riots, da fragten hier alle, ob das auch bei uns passieren könnte. Hat
da jemand mal die Sozialarbeiter gefragt? Natürlich nicht! Unter mir und
meinen Kollegen herrscht Einigkeit diesbezüglich…unter der Oberfläche
brodelt es bei weitem mehr als die Öffentlichkeit wissen möchte…deshalb
werden wir auch nicht gefragt – clever! Von
Tim Schumacher.
Ich bin seit etwa 15 Jahren in der Sozialen Arbeit tätig (Dipl.
Sozialpädagoge/Sozialarbeiter) und habe verschiedene Berufsfelder
kennengelernt.
Ich hatte das Pech, direkt in der Zeit des Niedergangs der Sozialen
Arbeit in diese Profession geraten zu sein (Ökonomisierung,
Kolonialisierung durch das System, etc.).
Meine Eltern, beide Erzieher im öffentlichen Dienst seit über 25 Jahren,
konnten vernünftig von ihrem Gehalt leben (Hauskauf, Abbezahlt bis zur
Rente, hoher Lebensstandart ohne Angst vorm Alter)…den ökonomischen
Druck freilich haben auch sie gespürt, ähnlich einer Schraubzwinge, die
immer fester zugreift. Stressbedingte Krankheiten inklusive. Aber, sie
haben es geschafft.
Ich dagegen habe nun nach etwa 15 Jahren in der Sozialen Arbeit
meinen ersten unbefristeten Anstellungsvertrag bekommen und arbeite seit
2 Jahren bei einem kleinen, etwas sozialistisch geprägten
Bildungsträger im Berliner Wedding. Ich habe hier im Soldiner Kiez auch
schon 5 Jahre gelebt, in der Koloniestraße. Hier in Berlin gilt diese
Gegend als berüchtigt. Noch vor wenigen Jahren haben sich die Gangs
dieser überwiegend durch Menschen mit arabischen Hintergrund geprägten
Wohngegend auf offener Straße erschossen und Raub und Mord standen auf
der Tagesordnung.
Das Projekt “Soziale Stadt” brachte hier den Wandel. Intensive
Betreuung des Stadtteils zeigten Erfolge, das scharfe Eingreifen der
Polizei zerstreute die Banden (Die meisten Anführer mussten lange
Haftstrafen verbüßen). Der Kiez war im Aufbau als ich dort hin zog. Ich
arbeitete etwa 2 Jahre als Schulsozialarbeiter an den Oberschulen
entlang der Pankstraße in Wedding. Die Theodor-Plivier-Oberschule und
die Oberschule-Am-Brunnenplatz. Jeweils eine ganze Stelle pro Schule.
Diese Schulen waren in großen Schwierigkeiten, ähnlich der Rütlischule
damals, aber eigentlich geht es fast allen Oberschulen ähnlich,
zumindest in den Problemvierteln.
In diesen Schulen lernt man nicht mehr, man kämpft die ganze Zeit. Um
Geduld, um Aufmerksamkeit, um Anerkennung, um Ruhe…ein ewiger Kampf.
Die Lehrer sind erschöpft. Viele von ihnen methodisch und didaktisch
total überfordert mit dieser Art Schülerschaft. Sie sind zu wenige und
von den wenigen werden viele auch noch Stressbedingt krank. Der Rest
kämpft meist verbissen ums Überleben. Mangelnder Respekt vor den Lehrern
bis hin zu offenen Drohungen, Erpressung, Dealerei, Gewalt auf dem
Schulhof und bei den Schülern ist eine Neigung zur Schulverweigerung
weit verbreitet. Etliche verlassen die Schulen ohne Abschluss.
Nach der Schulsozialarbeit übernahm ich mit einer Kollegin zusammen
ein Jugendzentrum direkt in meiner Straße, Ecke
Kolonie-/Soldienerstraße. Die Jugendbanden hatten das Jugendzentrum, das
ehemals unter staatlicher Trägerschaft stand, gesprengt. Die
Sozialarbeiter kamen mit den massiven Gewaltübergriffen und dem Druck
durch die Gangs nicht klar und verließen nach und nach das
Jugendzentrum, bis es ganz geschlossen wurde und nun in freie
Trägerschaft übergehen sollte.
Mein damaliger Träger gewann die Ausschreibung und aus ehemals 5
eingeplanten Vollzeitstellen, wurden 2 x 30 Std. Stellen. Diese wurden
jeweils mit etwa 1250 Euro brutto vergütet. Unser Träger hingegen konnte
bei diesem Geschäft wunderbare Gewinne einstreichen. Er darf als
gemeinnütziger Träger zwar keine Gewinne erzielen, um sie auszuschütten,
aber er darf erzielte Gewinne reinvestieren. Dieser Träger kauft sich
z.B. gerne Gebäude und bezahlt seine höchsten Angestellten in der Etappe
bei weitem nicht so mies, wie seine Mitarbeiter an der Front. Das, so
habe ich gelernt, nennt man Sozial Management! Ich musste mich von
diesem Träger nach kurzer Zeit trennen, obwohl mir die Arbeit in meinem
“eigenen” Jugendclub sehr gefiel, doch das Gehalt sank immer weiter, es
wurde immer weiter eingespart und gepresst, da habe ich dann irgendwann
aufgegeben und bin gegangen.
Nun bin ich bei besagten Bildungsträger, immer noch im Kiez und immer
noch gerne hier im Wedding. Allerdings wohne ich hier nicht mehr, das
wurde meiner Freundin doch zu unheimlich hier. Nachts mit der U-Bahn und
durch (kaputtgesparte) dunkle Straßen? In manchen Vierteln ein Risiko
in Berlin.
Mein Träger bewirbt sich sowohl auf Ausschreibungen für Maßnahmen des
Jobcenters, als auch um Projekte des ESF (Europäischer Sozial Fond).
Das sind unsere Hauptarbeitsfelder. Eine Hälfte des Teams betreut und
qualifiziert Erwachsene, ich mit der anderen Hälfte betreue und schule
Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren. Wir bereiten sie auf die externen
Schulprüfungen der Stadt Berlin vor, bei denen sie den einfachen und
erweiterten Hauptschulabschluss, sowie den mittleren Schulabschluss mit
einer staatlichen Prüfung nachholen können. Die meisten haben keinen,
oder einen sehr schlechten Hauptschulabschluss, aber es gibt auch viele,
die hier bei uns auf den mittleren Abschluss hinarbeiten.
Bei uns sind die absoluten „Knaller“. Oft Jugendliche die kaum eine
Schule von innen gesehen haben. Oft mehrfach vorbestraft, manche auf
Freigang. Wir arbeiten mit der Jugendgerichtshilfe, dem Jobcenter, dem
Jugendamt und diverser anderer Träger Sozialer Dienste zusammen und
stehen bei Bedarf auch mit den Sozialarbeitern im Gefängnis, den Eltern
der Jugendlichen oder den Anwälten in Kontakt. Wir rufen im Notfall die
Härtefallkommission an oder begleiten die Jungs zur Ausländerbehörde
oder ins Gericht. Wir sind ein Team aus überwiegend Sozialarbeitern und
Lehrern. Wir sind ein gutes Beispiel dafür, dass ein Träger, der seine
Angestellten gut behandelt und Teams mit Bedacht und unter Einbindung
der Mitarbeiter bildet, auch großen Erfolg bei der Arbeit haben kann.
Dennoch: Trotz aller Erfolge, trotz des guten Klimas bei der Arbeit,
wir, die wir an der Basis dieser gesellschaftlichen Pathologien
arbeiten, sehen den Abgrund auf den wir zurasen genau. Die Soziale
Arbeit dieser Zeit wurde von einem Kollegen von mir auf den Punkt
gebracht: “Wir”, sagte er, “sind das Schmierfett der Gesellschaft”.
Klingt banal, aber wenn man länger drüber nachdenkt…
Exakt während meiner “Karriere” in der Sozialen Arbeit hat sich
diese, ähnlich wie der Rest unseres Landes, auf bizarre Art verändert.
Gerade als sich die Profession als “Sozialarbeitswissenschaft” eine
eigene handlungswissenschaftliche Disziplin schaffen wollte, kam die
Ökonomisierung mit Neusprech und normierten Beobachtungsbögen. Mensch,
mehre deinen Nutzwert. Der Staat gab seine Einrichtungen und Aufgaben an
nun freie Träger der Wohlfahrtshilfe. Die “Alteingesessenen” AWO,
CARITAS; DIAKONIE; usw. wurden nervös. Schnell kroch der Kapitalismus in
alle Ecken und die angedachte, anregende “Trägervielfalt” verkam zu
großen Monopolen. Korruption und Veruntreuung, wohin man auch schaut.
Der kleine Mitarbeiter in diesem “Sozial Management Betrieb” wird mit
unangemessenen Löhnen ausgebeutet und kann praktisch zu keiner Zeit den
Idealen der professionellen Sozialen Arbeit gerecht werden, die noch vor
gar nicht so langer Zeit, das “
Jahrhundert der sozialen Arbeit” ausgerufen
hat. Wir hatten damals die Chance eine echte Wissenschaft zu werden.
Eine eigene Ethik, einen eigenen Forschungsgegenstand, eine eigene
Definitionshoheit in unserer Profession. Nichts davon ist geblieben. Die
getroffenen Positionsbestimmungen der akademischen Impulsgeber haben
uns an das Monster verraten.
Nun sind wir für “Soziale Probleme” zuständig und was ein “Soziales
Problem” ist, das sagt uns der Staat. Der gleiche Staat, das System, das
unsere “Klienten” zu Hauf ins Unglück drängt, beauftragt uns, sie zu
”disziplinieren”, sie auf “Kurs” zu bringen, “Fit” zu machen…usw. Für
Menschlichkeiten zahlt aber keiner, nur für Fallzahlen. Wir sind das
Schmierfett der Gesellschaft.
Unsere Aufgabe ist es den sozialen Frieden, den “Status Quo” aufrecht
zu erhalten. Wenn dabei noch ein paar “verwertbare” Individuen
rauskommen, umso besser. Da der Sozialarbeiter, ebenso wie der Pfleger
oder Erzieher, keine “Werte” produziert – es wird ja nichts verkauft,
nicht wahr? – so hat auch der Sozialarbeiter, Erzieher, Pfleger an sich
keinen Wert. Ganz im Gegenteil. Er ist potentiell gefährlich. Denn würde
er sich auf das besinnen, was unsere Profession im Kern eigentlich
ausmacht; käme er zurück auf die altruistisch/humanistischen Wurzeln der
Sozialen Arbeit, der grandiosen theoretischen Aufbauarbeit unserer
Vordenker, nicht nur aus den Bezugswissenschaften der Soziologie und
Philosophie, sondern auch aus unserer eigener Profession (z.B.
die lebensweltorientierte Soziale Arbeit
nach Thiersch 1992). Würden wir das alles, was uns in diese neue,
aufregende Wissenschaft mitgegeben wurde verstehen und auch
umsetzen…herje, wir wären eine echte Gefahr für das Establishment. Wir
wären Kämpfer im Namen “
Lebenswelt”. Wir würden zusammen mit der Soziologie (Protosoziologie) das destruktive Wirken des “
Systems”
auf die Lebenswelt untersuchen, dokumentieren. Wir wären auf der Seite
der Menschen, die unter diesem System leiden. Wir würden uns verbandlich
organisieren, politisch wirken, öffentlich Stellung beziehen,
Nachhaltig und ganzheitlich arbeiten und forschen. Wir wären der
Chefankläger dieses Menschenverachtenden Systems…denn wir sind es, die
bei den Menschen sind und alles “erleben” was sie erleben…
Doch nichts davon ist geblieben…Wir sind das Schmierfett der Gesellschaft…
Als damals die Gewalt in England eskalierte, die sogenannten Riots, da
fragten hier alle, ob das auch bei uns passieren könnte. Hat da jemand
mal die Sozialarbeiter gefragt? Natürlich nicht! Unter mir und meinen
Kollegen herrscht Einigkeit diesbezüglich…unter der Oberfläche brodelt
es bei weitem mehr als die Öffentlichkeit wissen möchte…deshalb wird
auch nicht gefragt – clever.
Mechthild Seithes Appell
an meine Kollegen kann ich nur unterstützen. Wenn wir uns gegen diese
Instrumentalisierung nicht wehren, scheitern wir als Professionelle und
als Menschen. Ich möchte nicht als Schmierfett enden…
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Von Wirkungsvolle Jugendhilfe - Gegen die Ökonomiesierung der Sozialen
Arbeit am 11/23/2011 11:49:00 PM unter
Wirkungsvolle Jugendhilfe eingestellt