[Wirkungsvolle Jugendhilfe] Non scolae, sed vitae discimus!

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Wirkungsvolle Jugendhilfe - Gegen die Ökonomisierung der Sozialen Arbeit

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Jul 20, 2012, 4:20:48 PM7/20/12
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Non scolae, sed vitae discimus!

Nun, allgemein mag die Redewendung “Bildung schadet nicht” stimmen. Im Kontext wie aber im Namen von Bildung ein ganzer Fachbereich umgepflügt wird – mit dem bloßen Zweck der Kostenminimierung – das benötigt schon einiger kruder Gedanken.
Hamburg ist ein Bundesland, welches sich der Aufmerksamkeit der breiten Fachwelt der gesamten Bundesrepublik sicher sein kann. So angelegt ist die Jugendhilfepolitik des Senators Scheeles und seiner Schergen Pörksen, Riez und Konsorten. Diese pflügen in unglaublichem Tempo stumpf die gesamte Jugendhilfe um (unter). In einem Haushaltsjahr, in dem es Steuereinnahmen in ungeahntem Ausmaße gab, wird dennoch gespart. Die Schuldenbremse erzwinge eine Streichung in der Jugendhilfe von zunächst 3,5 mio Euro – oder versehentlich auch 4,5 mio. Euro? So gleich brüstet sich Senator Scheele bei „Spalthoff live“, wir retten immerhin 90%! Warum werden wir (gemeint sich die SPD-Genossen) dafür kritisiert, so fragt er am 25.06.12 in der Sendung auf Hamburg Eins? Die Sendung wendet sich den Einsparungen der OKJA (Offenen Kinder und Jugendarbeit) zu. Die sogenannten Freiwilligen Leistungen sollen den Einsparetat bringen, welchen sich die Sozialbehörde selber auferlegt hat. Gefordert wird dieser Etat freilich nicht – weder von der Finanzbehörde noch von einer bürgerschaftlich geleiteten Beschlusslage!

Halten wir zunächst kurz fest: Die Ausstattung der OKJA ist seit nun mehr 10 Jahren hinter allen Standards bundesweit zurück. Löhne und Gehälter sind weder im Verhältnis zu den Preissteigerungen kongruent noch angesichts des graduierten Personals angemessen gestiegen. Ein Dipl.Soz.Päd. (so es ihn denn noch gibt, angesichts des tiefergelegten Studienganges Bachelor der Sozialarbeit) verdient brutto E9/Stufe 1 derzeit 2.351,08 das macht in Steuerklasse 1 sagenhafte € 1.546,63 netto. In Hamburg beträgt die Miete für eine kleine 1 1/2 Zimmer Wohnung mindestens 700,-.

Im ambulanten Bereich der Hilfen zur Erziehung erzwingt der Arbeitgeber in den allermeisten Fällen einen eigenen PKW. Nur wenige Träger fahren das Konzept der Dienstwagenregelung.
Nun ja, verlieren wir uns nicht in den Ernüchterungen des von der BASFI erzwungenen kapitalistischen Marktwirtschaft……denn, alle Träger der Hilfen zur Erziehung schließen auf gleicher Grundlage eine Leistungs- und Qualitätsvereinbarung und danach eine Entgeltvereinbarung ab – oder? Privat Gewerbliche Träger, Vereine, kirchliche Einrichtungen, alle werden nach dem Grundsatz der pauschalen Kostenübernahme in Fachleistungsstundensätze gezwungen. Dabei fallen reale Kosten, wie etwa Anstiegsraten im Energiesektor, oder Tarifsteigerungen gar nicht eins zu eins in Gewicht. Das unternehmerische Risiko (etwa der Vollauslastung) liegt einseitig beim Träger, im §34 SGB VIII werden weder Wochenendzuschläge noch Feiertagsentgelte gesondert berücksichtigt, die anfallenden Kosten im Einzelfall für Rechtsanwaltskosten einzelner Jugendlicher werden im Rahmen von sogenannten Pauschalen gleich komplett in das Risiko der Träger verlagert. Hat er keine Jugendliche, die in Konflikt mit dem Gesetz geraten (es reicht das Schwarzfahren), so hat er wirtschaftlich Glück gehabt.
Nun gibt Herr Riez – Leiter der BASFI -  als Argumentum ad absurdum der TAZ genau dieses zur Antwort: Die MIKO ist ein gewerblicher Träger – die verdienen ihr Geld mit Hilfen zur Erziehung. Ich habe lange über diese Aussage nachdenken müssen und möchte an dieser Stelle einmal das Gesagte ernstnehmen: Add 1) heißt die nüchterne Feststellung, dass ein Träger in seiner Unternehmensform als GmbH der Einzige ist, welcher Geld mit Sozialarbeit verdient? Oder im Umkehrschluss: Herr Riez arbeitet ehrenamtlich? Und Senator Scheele auch (und die HAB auch? – für die werden schließlich 10 mio. Euro benötigt). Heißt das auch, dass die Mitarbeiter aller anderen kirchlichen, caritativen Einrichtungen ohne Geld arbeiten? Das hieße ja unter Umständen die Verbände in Hamburg hätten außer inhaltlicher Gestaltung von Jugendarbeit keine Interessen….komisch, GEW, Verdi alle versuchen vergebens ihre Mitglieder zu einer einigermaßen angemessenen Gehaltsstruktur (kilometerweit unterhalb von LKW Fahrern, Bahnführern und anderen Berufsgruppen) zu verhelfen. Add 2) die Unternehmensform der GmbH sagt irgendetwas aus über die Beschäftigungsverhältnisse in Hamburg? Privat Gewerblich = böse?
Wie ist es denn um die Arbeitsverträge in Hamburg bestellt? Welcher Träger bietet denn noch unbefristete Arbeitsverträge auf Grundlage des TVL? Welcher Träger stellt denn Dienstwagen, Laptop und Handyvertrag ohne Selbstbehalt? Welcher Träger hält sich denn an die Qualitätsvorgaben der BASFI ( 6 SPFH á 5,2 FLS/ volle Stelle)?
Und das Dilemma geht noch weiter. So wie der „Spiegel“ in einem Beitrag 2010 berichtete, expandiert die Jugendhilfe quasi gezwungener Maßen durch die Investitionsleistung der sogenannten gemeinnützigen Träger. Diese dürfen nämlich im Falle einer Gewinnerzielung nicht die Gelder ausschütten sondern müssten reinvestieren. Dieses freilich in neue Angebote, welche wiederum einen Bedarf auslösen und so weiter…

Bei Ärzten, Rechtsanwälten, Psychotherapeuten und anderen macht sich niemand Gedanken über die Gewinnerzielungsabsicht oder anders ausgedrückt, die Honorarsätze, Stundensätze oder Pflegesätze sind irgendwie schon gerecht fertigt. Allerdings, wenn eine Einrichtung mit einem nachgewiesenen Standard an Fachpersonal und Methoden für € 41,35/FLS im Rahmen  der Jugendhilfe an den Start geht, dann schreit der Hamburger Senat „Wucher“ und deklariert die Sozialpädagogische Familienhilfe als „menschenunwürdigen Eingriff!. Mutet schon ein bischen komisch an: Wir bringen unser Auto für € 75,- in die Inspektion und halten die Unterstützung eines Alkoholkranken Elternteils für „rausgeworfenes Geld“!
Geld scheint dabei zur Zeit alles zu sein. Hamburg fährt eine Reform von der sie weiß, dass sie rechtswidrig ist. Minutiös wurde dem Hamburger Senat über die Mitarbeiter der BASFI, den Vorsitzenden der Jugendhilfeausschüsse dargelegt, dass die Steuerung wie sie in der Globalrichtlinie verifiziert ist, rechtlich nicht haltbar ist. Es existiert ein Rechtsgutachten von Prof. Dr. Knut Hinrichsen, in dieser Abhandlung ist für den Laien nachvollziehbar dargelegt wie und an welchen Punkt die Rechtwidrigkeit eintritt – nämlich am Punkt der Verschränkung von Einzelfallhilfen und Zuwendung.

Nun soll in Hamburg seit dem 01.02.2012 die geneigte Mitarbeiterschaft des ASD so tun, als wüsste sie nicht mehr um den Unterschied von Einzelfallhilfen und sozialräumlichen Angeboten. Jeder weiß wie die Mitarbeiter in den Dienststellen unter Druck gesetzt werden um dieser Steuerung nachzukommen. JUS IT  setzt diesem Wahnsinn nur noch die Krone auf.

„Warum aber steht niemand auf und wehrt sich? Warum schweigen alle Jugendhilfeträger? Möglicherweise wartet jeder auf den Zeitpunkt an dem sich die Wogen wieder glätten. Nur wird es diesen wahrscheinlich nicht geben….wer heute nicht weggekürzt wird, wird es morgen.

An dieser Stelle möge man mir persönlich nachsehen und verstehen, ich kann diesen Weg nicht mitgehen. Die MIKO Kinder- & Jugendhilfe hat in den letzten 15 Jahren gezeigt, dass Jugendhilfe auf hohem Niveau eine erfolgreiche Unternehmung sein kann. Als Geschäftsführer lag mir immer daran, den Berufsethos mit seinen Bedingungen zu fördern als auch den Menschen, die  ausgeschlossen von der Teilhabe zu sein scheinen, maximal zu unterstützen. Dazu gehören für mich: Motivationen an Mitarbeiter sich für Menschen einzusetzen, Ernsthaftigkeit gegenüber dem Gesetzgeber. Eine Regierung, die sich nicht an bestehende Gesetze hält – sie zugleich mir aber auferlegt – kann für mich keine Autorität darstellen. Wenn Hamburg sich zukünftig so darstellen will, dann ist das in meinen Augen ein Skandal. Zugleich fühlt es sich nicht gut an, in Hamburg der Einzige zu sein, der dieses so auch ausspricht. Ich habe lernen müssen, dass dieses so sehr gefährlich ist. Dennoch, es muss gesagt werden. Ich will in so einem Staat nicht leben.“

Was hinter den verschlossenen Türen des Hamburger Senates vorbereitet wird, findet man in den Beschlüssen der JFMK (Jugend- und Familienministerkonferenz): Ausführlich nachzulesen unter:
http://www.ms.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=29377&article_id=101826&_psmand=17
Die dort gemachten planerischen Änderungen zur Vorlage als Gesetzeserweiterung (siehe Dr. Hammer, Standpunkt Sozial 5/11 – als Erweiterung des §36a SGB VIII, allgemeine Gewährleistungsverpflichtung) stellen im Ergebnis nichts anderes dar, als das der begonnene Umbau der Jugendhilfe/Hilfen zur Erziehung weder in Frage gestellt wird, noch die dadurch in Hamburg hervorgebrachten Probleme ernstgenommen werden. Die durch die SPD angeschobene Umsteuerung leugnet die gesellschaftlichen Ursachen der menschlichen Problemlagen. Und obwohl man durchaus sieht, dass diese Ursachen erhöhte Bedarfe nach Hilfen zur Erziehung bedingen, sieht man sich ausschließlich der Fallreduktion und der Kostendämpfung verpflichtet und verordnet der Jugendhilfe weitere Steuerungsstrategien und glaubt, über Kontrollsysteme, sowohl die Kosten als auch das Funktionieren der Jugendhilfe (z.B. kein „Versagen“ bei Kindeswohlgefährdung) in den Griff zu kriegen.[1]
Am 21.06.12 hat die MIKO Kinder- & Jugendhilfe eine Einstweilige Anordnung und eine verwaltungsrechtliche Klage vor dem Hamburger Verwaltungsgericht eingereicht. Um nachzuzeichnen, welche Schritte und Unterlassungen u.E. notwendig sind, stellen wir dem geneigten Leser nachfolgend die Antragschrift zur Verfügung.

Anträge:

1.  Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache verpflichtet, die Durchführung und den Vollzug der Globalrichtlinie GR J 1/12 (Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe) insoweit zu unterlassen, als dadurch bei der Antragsgegnerin ein System der Zuwendungsfinanzierung im Bereich der Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII implementiert wird.

2. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache verpflichtet, es zu unterlassen, auf Basis der Globalrichtlinie GR J 1/12 (Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe) im Bezirk Hamburg Mitte sog. SHA-Mittel im Wege der Pauschalfinanzierung an ausgewählte Träger der freien Jugendhilfe zur Durchführung von „Sozialräumlichen Angeboten“ zu vergeben.

3. Der Antragstellerin wird Einsicht in sämtliche Verfahrensakten und Materialien zur Einführung des Konzepts „Neue Hilfen / Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe“ gewährt.

Hilfsweise:

4.  Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache verpflichtet, es zu unterlassen, einzelnen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe Zuwendungen zur Durchführung von rechtsanspruchsgebundenen Einzelfallhilfen, insbesondere für

·         verbindliche Gruppenangebote (BASFI, Globalrichtlinie GR J 1/12 3.2) sowie für
·         verbindliche Hilfen in der familialen Privatsphäre in Form von verbindlichen „Frühen Hilfen“ sowie von „verbindlichen Einzelhilfen“ (BASFI, Globalrichtlinie GR J 1/12, 3.1, 3.2, 5,1)

zu gewähren.

Weiter hilfsweise:

5. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache verpflichtet, es zu unterlassen, auf Basis der Globalrichtlinie GR J 1/12 (Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe) im Bezirk Hamburg Mitte sog. SHA-Mittel an ausgewählte Träger der freien Jugendhilfe zur Durchführung von „Sozialräumlichen Angeboten“ zu vergeben, soweit diese Angebote auch Hilfen zur Erziehung, verbindliche Einzelhilfen, mit umfassen.

Weiter hilfsweise:

6. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache verpflichtet, die Antragstellerin an der Vergabe von Mitteln für Sozialräumliche Hilfen, auf Basis der Globalrichtlinie GR J 1/12 (Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe) zur Durchführung von „Sozialräumlichen Angeboten“ im Bezirk Hamburg Mitte zu beteiligen.


Begründung:

I. Tatbestand


1. Zum Antrag zu 1.

a)

Die Antragsstellerin will mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verhindern,  dass die Antragsgegnerin rechtsanspruchsgebundene Leistungen im Bereich der Hilfen zur Erziehung im Wege der Zuwendungsfinanzierung an ausgewählte Träger der freien Jugendhilfe „vergibt“. Sie stützt sich dabei auf einen Abwehranspruch aus Art. 12 Abs.1 GG. Sie will eine Rückkehr zur gesetzlich vorgeschriebenen Finanzierung dieser Jugendhilfeleistungen durch Leistungsentgelte über das rechtliche Dreiecksverhältnis erreichen.

b)

Im Einzelnen:

Die Antragstellerin ist ein Träger der freien Jugendhilfe. Sie bietet in Hamburg unter anderem ambulante Jugendhilfemaßnahmen im Bereich der Hilfen zur Erziehung auf Grundlage des SGB VIII (Kinder – und Jugendhilfe) an. Ich gehe davon aus, dass dieses zwischen den Parteien unstreitig ist. Ich verzichte deshalb einstweilen auf die Vorlage entsprechender Leistungsbeschreibungen der Antragstellerin.

Die Antragsgegnerin hat ein Konzept zur Einführung einer so genannten sozialraumorientierten Steuerung in der Jugendhilfe entwickelt und betreibt dessen Umsetzung unter dem Titel „Neue Hilfen / Sozialräumliche Hilfen und Angebote“. Sie setzt dieses Konzept im Rahmen einer umfassenden Verwaltungsreform im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe um. Die Antragsgegnerin hat das Konzept in einer Vielzahl von Papieren unter verschiedenen Titeln niedergelegt. Die wesentlichen Inhalte des Konzepts sowie dessen Umsetzung in die Verwaltungspraxis ergeben sich aus folgenden Papieren:

·         BASFI, Globalrichtlinie GR J 1/12 Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe vom 01.02.2012 (zitiert: „Globalrichtlinie GR J 1/11“);
·         Neue Hilfen als Alternative zur Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) – Inhalt und Gestaltung, Konzeptpapier der BSG vom 09.07.2010 (zitiert: „BSG, Neue Hilfen – Inhalt und Gestaltung“);
·         Eckpunkte des Programms Neue Hilfen, Konzeptpapier der BSG vom 04.10.2010 (zitiert: BSG, Eckpunkte Neue Hilfen“)


c)

Die Antragstellerin intendiert mit dem Konzept „Neue Hilfen / Sozialräumliche Hilfen und Angebote“ einen grundlegenden Richtungswechsel sowie eine Neuausrichtung der Jugendhilfelandschaft im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Diese soll ihren Ausgangspunkt im Bereich der ambulanten Hilfen, namentlich im Bereich der Sozialpädagogischen Familienhilfe nach § 31 SGB VIII nehmen. Erklärtes Steuerungsziel ist eine „Verringerung der Fallzahlen und Kosten der Hilfen zur Erziehung“;

            vgl. Eckpunkte Neue Hilfen, S. 1.

Die Finanzierung des Programms erfolgt durch eine „Umschichtung im Budget der Hilfen zur Erziehung“ im Gesamtumfang von 10 Mio Euro;

            ebd.

d)

Die „Neuen Hilfen“ sollen „neben bzw. anstelle von Hilfen zur Erziehung (HzE) zur Verfügung stehen bzw. diese verkürzen“;

            BASFI, Globalrichtlinie GR J 1/12, S.2.

In diesem Sinne formuliert auch der Titel des o.a. Konzeptpapiers die Intention des Konzepts deutlich: „Neue Hilfen als Alternative zur SPFH“;

            ebd., S.1

e)

Mit den „Neuen Hilfen“ sollen im Interesse der genannten Sparziele die Fallzahlen verringert und die Gewährung von Einzelfallhilfen möglichst vermieden werden. Inhaltlich soll dieses wesentlich durch Schaffung „verbindlicher Gruppenangebote“, durch die Einbindung  von und Vernetzung mit Regeleinrichtungen (Schule, Kita, etc.) sowie durch Aktivierung von „Nachbarschaftshilfe“ erreicht werden. Darüber hinaus sollen über die neuen Hilfen auch die – aus Sicht der Antragsgegnerin zu vermeidenden – rechtsanspruchsgebundenen Leistungen aus dem Bereich der ambulanten Hilfen zur Erziehung erbracht und finanziert werden;

vgl. hierzu im Einzelnen die unter 1. b) genannten Papiere.

f)

Die Finanzierung der Neuen Hilfen soll durch die Gewährung von Zuwendungen an Träger der freien Jugendhilfe erfolgen;

vgl.  BSG, Eckpunkte Neue Hilfen, S.8:

„Die Umsetzung der Angebote von Neuen Hilfen durch Träger erfolgt durch eine Zuwendungsfinanzierung, die Flexibilität für unterschiedliche Modelle der Bezirksämter ermöglicht.“

Die Mittel hierzu sollen aus dem Budget der Hilfen zur Erziehung geschöpft werden;

vgl. ebd., S. 1.

g)

Voraussetzung einer Förderung der jeweiligen sozialräumlichen Angebote der Träger der freien Jugendhilfe ist, dass sie den fachlichen Vorgaben der Neuen Hilfen folgen. Insbesondere geht es dabei um Vernetzung mit anderen Trägern und Regeleinrichtungen im Sozialraum sowie die Unterwerfung unter das beschriebene sozialräumliche Konzept;

BASFI, Globalrichtlinie GR J 1/12, S.2.

e)

Das Konzept „Neue Hilfe / Sozialräumliche Hilfen und Angebote“ sieht vor, dass Nutzerinnen und Nutzer „sich ohne Einschaltung des ASD direkt an das Angebot wenden“;

BASFI, Globalrichtlinie GR J 1/12, S.2.
f)

Wegen der weiteren Einzelheiten verweise ich auf den Inhalt der unter 1 b) zitierten Papiere.

g)

Die Antragsgegnerin wurde unter Fristsetzung bis zum 20. Juni 2012 aufgefordert, den mit den Anträgen geltend gemachten Begehren nachzukommen;

vgl. Schreiben vom 25. Mai 2012.

Eine Antwort ist nicht erfolgt.

2. Zum Antrag zu 2.

Die Antragsgegnerin hat im Bezirk Hamburg Mitte mit den Verfahren zur Vergabe von pauschalen Zuwendungen an ausgewählte Träger der freien Jugendhilfe begonnen. Ausweislich der Protokolle der bezirklichen „AG § 78 SGB VIII Hamburg-Mitte – Hilfen zur Erziehung“ hat der Jugendhilfeausschuss verschiedenen Projektskizzen zugestimmt und offensichtlich bereits Träger ausgewählt. Die Vergabe von pauschalen Mitteln für Einzelfallhilfen ist daher bereits erfolgt oder steht unmittelbar bevor;

vgl.: Protokolle der bezirklichen AG § 78 SGB VIII Hamburg-Mitte – Hilfen zur Erziehung – vom 13.02.2012 (TOP 3), 19.03.2012 (TOP 4), 04.04.2012 (TOP 4)


II. Anordnungsanspruch

1. Abwehranspruch aus Art. 12 Abs.1 GG

Die Einführung und Umsetzung des Konzepts „Neue Hilfen / Sozialräumliche Hilfen und Angebote“ sowie die damit verbundene Finanzierung von Einzelfallhilfen im Wege der Zuwendungsfinanzierung verletzt die Antragstellerin in ihrer Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs.1 GG.

Dieser Abwehranspruch steht in engem Zusammenhang zum Leistungserbringungsrecht in der Jugendhilfe, insbesondere zur der jugendhilferechtlichen Dogmatik zum sog. rechtlichen Dreiecksverhältnis. Ich gehe daher zunächst kurz auf das jugendhilferechtliche Dreiecksverhältnis sowie weitere Aspekte des Leistungserbringungsrechtes ein, um sodann den Abwehranspruch aus Art. 12 Abs.1 GG herzuleiten.

a) Leistungserbringung im rechtlichen Dreiecksverhältnis

Jugendhilfeleistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, sind zwingend im jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnis abzuwickeln. Rechtsprechung und Literatur zum Leistungserbringungsrecht in der Kinder- und Jugendhilfe gehen davon aus, dass es im Rahmen der Leistungserbringung zu drei Rechtsbeziehungen zwischen den an der Leistungserbringung beteiligten Rechtssubjekten kommt. Deshalb wird auch vom rechtlichen Dreiecksverhältnis gesprochen.

Die erste Seite des Dreiecks bildet der Sozialleistungsanspruch des Hilfesuchenden gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Dieser Sozialleistungsanspruch wird vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht „in Natur“ erbracht. Seine Rolle ist zunächst darauf beschränkt, das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen, sowie im Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII gemeinsam mit dem Hilfesuchenden Art und Umfang der Hilfe zu konkretisieren. Die zweite Seite des Dreiecks bildet die vertragliche Rechtsbeziehung zwischen Hilfesuchendem und dem Träger der freien Jugendhilfe. Hierbei handelt es sich um eine (privatrechtliche) vertragliche Rechtsbeziehung. Der Hilfesuchende „kauft“ Dienstleistung gegen Geld. Die dritte Seite des Dreiecks bildet die Rechtsbeziehung zwischen dem Träger der freien Jugendhilfe und dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet sich in diesem Verhältnis, den Hilfesuchenden diejenigen Kosten zu erstatten, welche dem Hilfesuchenden im Verhältnis zum Träger der freien Jugendhilfe entstehen (Kostenerstattungsverhältnis). Rechtlich wird dieses Rechtsverhältnis als öffentlich-rechtlicher Schuldbeitritt oder als öffentlich-rechtliche Schuldübernahme gewertet. Die Kostenerstattung erfolgt durch Gewährung sog. Leistungsentgelte, die nach §§ 77, 78a ff. SGB VIII zwischen den zwischen den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe und den Trägern der freien Jugendhilfe auszuhandeln sind;

Diese Auffassung ist seit Neumann, RsDE 1 (1988), 1-31; Neumann, RsDE 2
(1988), 45-61; Neumann, Freiheitsgefährdung kooperativen Sozialstaat; Münder, ZfSH/SGB 1988, 225-240; Münder, RsDE 5 (1989), 1-20; Münder, ZfJ 1990, 488-493 führend. In der Rechtsprechung ist die Lehre vom Dreiecksverhältnis bereits für das bis 1990 geltende JWG vom BVerwG ausdrücklich anerkannt worden (BVerwG, Beschluss vom 25.08.1987, Az. 5 B 50.87, in: RsDE 1 (1988), 67-70 = FEVS 37, 133 = NVwZ-RR 1989, 252-253 = Buchholz 436.51 Nr.2 zu § 5 JWG und BVerwG, Urteil vom 19.04.1991, Az. 5 CB 2/91) und wird seither durchgängig angewandt. Vgl. etwa zuletzt: OVG Schleswig, Urteil vom 31.08.2007, Az. 7 A 85/06 und BSG, Urteil vom
28.10.2008,Az. B 8 SO 22.07 = FEVS 60 (2009), 481-490.

Diese Finanzierungsform über Leistungsentgelte ist bei Jugendhilfeleistungen, auf die der Hilfesuchende einen Rechtsanspruch bzw. einen Anspruch auf Ermessensfehlerfreie Entscheidung hat, zwingend;

vgl. Wiesner, a.a.O., vor § 78a Rn.20.

Weil es auf Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) einen Rechtsanspruch gibt, ist deren Finanzierung über Leistungsentgelte im Rahmen des rechtlichen Dreiecksverhältnisses zwingend geboten. Pauschalfinanzierungen, sei es im Wege der Zuwendungsfinanzierung nach § 74 SGB VIII oder im Wege der Vergabe von Dienstleistungen, sind hier unzulässig. Diese Finanzierungarten kommen nur dort in Betracht, wo es um Angebote der allgemeinen Förderung (z.B. §§ 11, 13 SGB VIII) geht.

b) Jugendhilfe als kontrollierter Markt

Jugendhilfe ist damit im Bereich der Leistungen auf die ein Rechtsanspruch besteht, als kontrollierter Markt organisiert, auf dem Träger der freien Jugendhilfe um Belegung und Leistungsentgelte konkurrieren. Dieser kontrollierte Markt  ist kein Selbstzweck und dient auch nicht etwa dazu, Partikularinteressen von Trägern der freien Wohlfahrtspflege zu bedienen. Er folgt vielmehr ganz den Strukturprinzipien der Kinder- und Jugendhilfe, die auf Betroffenenbeteiligung und Akzeptanzförderung ausgerichtet sind:

Art. 6 Abs.2 GG weist die Erziehungsverantwortung für Kinder grundsätzlich den Eltern zu. Die Eltern sind bei der Wahrnehmung ihres Erziehungsauftrages jedoch nicht frei - über ihre Betätigung wacht vielmehr die staatliche Gemeinschaft. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer grundlegenden Entscheidung vom 29. Juli 1968,

BVerfGE 24, 119, NJW 1968 S. 2233;

die Rahmenbedingungen dieses staatlichen Wächteramtes festgezurrt. Es hat insbesondere darauf hingewiesen, dass der Staat versuchen müsse, „durch helfende unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der natürlichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen“. Gleichzeitig hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass der Staat bei seiner Intervention nicht auf helfende und unterstützende Maßnahmen beschränkt sei. Vielmehr müsse er im Zweifelsfall das Kind den Eltern vorübergehend oder dauerhaft entziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat damit dem Jugendamt als zuständiger Behörde eine sowohl helfende als auch eingreifende Funktion zugewiesen. Dieser Dualismus von „Hilfe und Eingriff“ wird als widersprüchlich empfunden, weil das Jugendamt im Rahmen der Wahrnehmung seiner Hilfeaufgaben auf das Vertrauen der Klienten angewiesen ist, welches im Rahmen der Wahrnehmung der Eingriffsaufgaben gerade angegriffen wird.

Der Gesetzgeber des SGB VIII hat sich deshalb für einen Modell entschieden, bei dem die Aufgabe der Hilfeleistung weitgehend auf die so genannten Träger der freien Jugendhilfe übertragen ist. Dies kommt insbesondere in dem in § 4 Abs. 2 SGB VIII niedergelegten Subsidiaritätsprinzip zum Ausdruck, wonach der Träger der öffentlichen Jugendhilfe von eigenen Maßnahmen absehen soll, wenn hinreichend Angebote von Trägern der freien Jugendhilfe vorhanden sind.

Die Erbringung von sozialen Dienstleistungen, insbesondere diejenige von sozialpädagogischen Leistungen, verlangt eine umfassende Mitwirkung des Klienten am Hilfeprozess. Leistungserbringer im Bereich sozialer Dienstleistungen sind deshalb auf eine Akzeptanz der Hilfe durch den Hilfesuchenden angewiesen. Diese Akzeptanz herzustellen, ist wesentlicher Teil des Hilfeprozesses. Der Gesetzgeber des SGB VIII hatte dieses erkannt und deshalb Strukturprinzipien etabliert, die diese Akzeptanz des Hilfesuchenden für die jeweilige Hilfe befördern sollen. Zu diesen zentralen Strukturprinzipien gehören

·         die Trägerpluralität,
·         das Wunsch- und Wahlrecht der Hilfesuchenden,
·         der Bedarfsdeckungsgrundsatz
·         sowie die kooperative Ausgestaltung des Entscheidungsprozesses im Hilfeplanverfahren
Wegen dieses Interesses an Akzeptanzförderung hat der Gesetzgeber des SGB VIII ein Steuerungsmodell gewählt, bei dem dem Hilfesuchenden nicht ein bestimmter Träger der freien Jugendhilfe oder gar das Jugendamt selbst aufgeherrscht wird; vielmehr liegt es im Interesse des Gesetzgebers, dass der jeweilige Hilfesuchende aus einer „Vielfalt von Trägern unterschiedlicher Werteorientierung“ mit einer „Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen“ (§ 3 Abs.1 SGB VIII) „wählen“ kann (§ 5 SGB VIII). Nur eine Hilfe, die vom Hilfesuchenden gewollt und akzeptiert wird, kann im Ergebnis zum Erfolg führen – so die „Idee“ des Gesetzgebers.
Eben wegen dieses Interesses hat der Gesetzgeber mit § 3 Abs. 1 SGB VIII das Prinzip der sogenannten „Trägerpluralität" etabliert und die Jugendhilfe als „Markt“ von Dienstleistungen organisiert;

            vgl. hierzu Wiesner, SGB VIII, Kommentar, 4. Auflage, § 3 Rn. 6,

der darauf hinweist, dass die „Interessen, Wünsche und Bedürfnisse (…) der eigentliche Grund dafür (sind), warum der Staat ein möglichst plurales Angebot an Hilfen sicherzustellen hat“.

Gerade diese Trägerpluralität ist im Rahmen zuwendungsfinanzierter Steuerungsmodelle nicht gewährleistet. Auch das Wunsch- und Wahlrecht wird massiv eingeschränkt.

Die geforderte Trägerpluralität kann nur durch das vom Gesetzgeber etablierte Modell der Finanzierung von Einzelfallhilfen über Leistungsentgelte (Entgeltfinanzierung) erhalten werden. Jede Form von Pauschalfinanzierung, sei es über Verträge oder über Zuwendungen, konterkariert die Trägerpluralität. Eben deshalb ist es sowohl in der jugendhilferechtlichen Literatur als auch in der jugendhilferechtlichen Rechtsprechung ganz herrschende Meinung, dass jede Form von Pauschalfinanzierung im Bereich von Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, zu unterbleiben hat.

c) Recht auf Marktzugang – Abwehranspruch aus Art. 12 Abs.1 GG gegen zuwendungsfinanzierte Konzepte sozialraumorientierter Steuerung

Weil Jugendhilfe als kontrollierter Markt organisiert ist, korrespondiert dem Wunsch und Wahlrecht der Betroffenen einerseits ein Recht auf Marktzugang der freien Träger andererseits.

Nach der von den Gerichten zu Art. 12 Abs.1 GG entwickelten Dogmatik zu mittelbaren Grundrechtseingriffen durch faktisches Verwaltungshandeln im Allgemeinen und der Rechtsprechung zu sozialraumorientierten Steuerungsmodellen in der Kinder- und Jugendhilfe sowie zur Krankenhausbedarfsplanung im Besonderen gilt im Kern:

·         Die Tätigkeit frei-gemeinnütziger Träger (und damit erst recht diejenige privat-gewerblicher Träger) ist vom Schutzbereich des Art. 12 erfasst;

vgl. BVerfG,  Beschluss  vom  07.11.2001 Az.  1  BvR  325/94  u.a  =  NJW  2002,
2091; Beschluss vom 04.03.2004, Az. 1 BvR 88/00 = NJW 2004, 1648-1650.

·         Zu einem Eingriff in den Schutzbereich des Art. 12 Abs.1 GG kommt es nicht erst dann, wenn der Eingriff intendiert ist; vielmehr liegt ein Eingriff schon dann vor, wenn das betreffende staatliche Handeln aufgrund seiner tatsächlichen Auswirkungen die Berufsfreiheit lediglich mittelbar beeinträchtigt und eine deutlich erkennbare berufsregelnde Tendenz oder eine voraussehbare und in Kauf genommene schwerwiegende Beeinträchtigung der beruflichen Betätigungsfreiheit zur Folge hat;

vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.08.2004, Az. 1 BvR 378/00 = NJW 2005,
273, 274; Beschluss vom 12.10.1977, Az. 1 BvR 217 u. 216/75 = BVerfGE 46,
120, 137; Beschluss vom 12.06.1990, Az. 1 BvR 355/86 = BVerfGE 82, 209, (223f); BVerwG, Urteil vom 13.05.2004, Az. 3 C 45.03; BVerwGE 121, 23, 27;
Urteil vom 17.01.1991, Az. 1 C 5.88 = BVerwGE 89, 281, 283.

·         Art. 12 Abs.1 GG schützt zwar nicht vor Konkurrenz; eine Wettbewerbsverzerrung durch eine einzelne staatliche Maßnahme, die erhebliche Konkurrenznachteile zur Folge hat, kann aber das Grundrecht der Berufsfreiheit dann beeinträchtigen, wenn sie im Zusammenhang mit staatlicher Planung, der Verteilung staatlicher Mittel oder einer bestimmten Wahrnehmung von Aufgaben der staatlichen Leistungsverwaltung steht. Davon muss insbesondere ausgegangen werden, wenn durch staatliches Handeln der Wettbewerb beeinflusst wird und die Konkurrenten erheblich benachteiligt werden. Schlicht hoheitliches Verwaltungshandeln reicht insoweit aus;

ebd.

·         Entsprechende Eingriffe sind nur aufgrund eines förmliches Gesetzes zulässig;

BVerfGE 82, 209, (224); BVerwGE 89, 281, (285).

·         Sie müssen durch „vorrangige Gemeinwohlbelange“ gerechtfertigt sein;

BVerfGE 93, 362 (369) und BVerfG, NJW 2004, 273; vgl. hierzu auch BVer-
wG, Urteil vom 21.01.2010, Az. 5 CN 1/09, Buchholz 436.511 § 74a KJHG/SGB VIII Nr. 1.

·         Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss beachtet werden;

BVerfGE 93, 362 (369) und BVerfG, NJW 2004, 273.

·         Sozialräumliche Steuerungsmodelle, bei denen Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, durch Zuwendungen an ausgewählte Träger finanziert werden, verletzen konkurrierende und übergangene freie Träger in ihrem Recht aus Art. 12 Abs.1 GG;

Verwaltungsgericht Osnabrück, Urteil vom 20.01.2011, Az. 4 A 102/09 (bislang unveröffentlicht);Verwaltungsgericht Osnabrück, Beschluss vom 13.11. 2009 - Az. 4 B 13/09 - juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 09.07.2010, Az. 4 ME 306/09 - juris, Verwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 05.08.07, Az. 13 E 2873/04, Oberverwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 10.11.04, Az. 4 Bs 388/04, Zentralblatt für Jugendrecht (ZfJ) 2005, S. 118 ff.; Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 19.10.04, Az. 18 A 404/04, Zentralblatt für Jugendrecht (ZfJ) 2005, S. 114 ff.; Oberverwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 04.04.2005, 6 S 415/04, juris; Verwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss vom 20.12.05, Az. 4 B 50/05, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 13.03.2006, 4 ME 1/06, juris.

·         Eine gesetzliche Grundlage, die einen solchen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit rechtfertigte, ist im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe nicht ersichtlich;

Verwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 05.08.07, Az. 13 E 2873/04, Oberverwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 10.11.04, Az. 4 Bs 388/04, Zentralblatt für Jugendrecht (ZfJ) 2005, S. 118 ff.; Verwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss vom 20.12.05, Az. 4 B 50/05, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 13.03.2006, 4 ME 1/06, juris.; Verwaltungsgericht  Münster, Beschluss vom 18.08.04, Az. 9 L 970/04, Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen (RsDE) Nr. 58, S. 100, Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.03.05, Az. 12 B 1931/04, Zentralblatt für Jugendrecht (ZfJ) 2005, S. 484 ff.

Auch in der Literatur geht die ganz herrschende Meinung davon aus, dass die Einführung zuwendungsfinanzierter sozialraumorientierter Steuerungsmodelle gegen höherrangiges Recht verstößt, wenn es um die Finanzierung von rechtsanspruchsgebundenen Einzelfallhilfen geht:

Münder (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe, 6. Aufl. 2006, vor § 69, Rn. 24 - 39, mit zahlreichen weiteren Nachweisen und einer Einführung in den rechtlichen Stand (Rn. 32 ff.); derselbe: Sozialraumkonzepte auf dem rechtlichen Prüfstand, in: ZfJ 2005, S. 89 ff.; derselbe: Finanzierung der Leistungserbringung durch Dritte: zwischen jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnis, Vergabeverfahren und Sozialraumorientierung, in: Jugendamt 2005, S. 161 ff.; Wiesner, SGB VIII, Kommentar, 4. Aufl., vor § 78 a, Rn. 15 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen; einen umfassenden Überblick enthält die Literaturübersicht bei Wiesner vor § 78 a, am Anfang (S. 1070). Hier findet sich auch ein Überblick über die zum Problem geführte Fachdebatte.

d) Konsequenzen für die Neuen Hilfen / Sozialräumliche Angebote der Kinder- und Jugendhilfe

Bei den „Neuen Hilfen“ handelt es sich um ein Konglomerat von Hilfearten, die eine rechtlich eindeutige Zuordnung zu einer der Leistungen des SGB VIII nicht ermöglichen: Sie enthalten zum einen nichtrechtsanspruchsgebundene Angebote der allgemeinen Förderung (z.B. Schaffung von Infrastruktur im Sozialraum für niedrigschwellige Angebote) aber zum anderen in wesentlichem Umfang auch solche Angebote, die klar den rechtsanspruchsgebundenen Leistungen im Bereich der Hilfen zur Erziehung zuzuordnen sind (z.B. verbindliche Einzelhilfen). Es ist erklärtes Ziel der Antragsgegnerin, Hilfen zur Erziehung, also Leistungen, die zwingend im Rahmen des rechtlichen Dreiecksverhältnisses abzuwickeln sind, durch die „Neue Hilfen“ zur ersetzen bzw. überflüssig zu machen.

Weil im Rahmen der Finanzierung der neuen Hilfen auch rechtsanspruchsgebundene Leistungen in nicht unwesentlichem Umfang durch Zuwendungen an Träger der freien Jugendhilfe finanziert werden, ist dieses rechtswidrig und führt zu einem Abwehranspruch der Antragstellerin aus Art. 12 Abs.1 GG. Eine gesetzliche Grundlage für einen entsprechenden Eingriff ist nicht ersichtlich.

Die Mittel für die Einführung dieses neuen Steuerungsmodells werden dem Etat für (ambulante) Hilfen zur Erziehung entzogen. Insofern steht dieser Teil des Etats nicht mehr für den Bereich entgeltfinanzierter Leistungen zur Verfügung. Dieses wirkt marktbegrenzend, wenn nicht marktausschließend.

Eine Aufhebung der zwingenden Strukturprinzipien des Leistungserbringungsrechts in der Kinder- und Jugendhilfe ist nur auf Grundlage eines Gesetzes zulässig. Ein solches Gesetz liegt nicht vor. Bloße Verwaltungsanweisungen können zwingend zu beachtendes Bundesrecht nicht aushebeln. Was den Verstoß gegen die Strukturprinzipien des SGB VIII angeht, kann nicht eingewandt werden, diese seien nicht drittschützend. Grundrechtsrelevantes faktisches Verwaltungshandeln kann nur dann rechtmäßig sein, wenn es insgesamt einer Rechtmäßigkeitskontrolle standhält. Im Rahmen der Verletzung von Grundrechten findet stets eine volle Rechtmäßigkeitsüberprüfung des Verwaltungshandelns statt.

Im Ergebnis ergibt sich daher der geltend gemachte Unterlassungsanspruch.

2. Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip und die Trägerautonomie

Die Einführung des Konzepts „Neue Hilfen / Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe“ verstößt gegen den Grundsatz der Subsidiarität in der Kinder- und Jugendhilfe. Nach § 4 Abs.1 S.2 SGB VIII hat die öffentliche Jugendhilfe „die Selbständigkeit der freien Jugendhilfe in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben … zu achten“.  Diesen Anforderungen wird das Konzept „Neue Hilfen / Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe“ nicht gerecht. § 4 Abs.1 S.2 SGB VIII ist drittschützend.

Die Antragsgegnerin determiniert Zielsetzung und Durchführung der Aufgaben der Träger der freien Jugendhilfe durch das Konzept der „Neuen Hilfen / Sozialräumliche Hilfen und Angebote“ in erheblichem Umfang;

BASFI, Globalrichtlinie GR J 1/12, S.7, Ziff. 4.2.

Insbesondere die Vorgabe, wonach eine – fachlich in keiner Weise zwingend gebotene und auch umstrittene – Fixierung auf den Sozialraum zu erfolgen hat, macht klare Vorgaben hinsichtlich der konzeptionellen Ausrichtung. Gleiches gilt für die Kooperationspflichten. Sie verletzt damit den Grundsatz der Subsidiarität.

3. Steuerung der Fallzuweisung durch die Träger; kein Hilfeplanverfahren mehr

Hilfesuchende sollen sich auch im Bereich verbindlicher Hilfen ohne Einschaltung des ASD direkt an die Leistungserbringer wenden können;

BASFI, Globalrichtlinie GR J 1/12, S.2.

Damit verstößt das Konzept gegen das Gebot der Steuerung des Einzelfalls durch das Jugendamt sowie der Steuerung im Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII. Die fachliche Steuerung der Hilfen ist den Jugendämtern als hoheitliche Aufgabe zugewiesen. Sie kann nicht delegiert werden. Darüber hinaus ist das Jugendamt an die Verfahrensgrundsätze des § 36 SGB VIII gebunden. Beide Prinzipien werden durch Delegation der Fallsteuerung an die freien Träger verletzt. Sie ist rechtswidrig;

vgl. zu dem insoweit vergleichbaren Vorgehen des Landkreises Osnabrück  OVG Lüneburg, Beschluss vom 13.03.2006, 4 ME 1/06, Fundstelle: Juris, welches eine entsprechende Praxis ausdrücklich für rechtswidrig hält.

4. Verstoß gegen weitere Strukturprinzipien des SGB VIII

Außerdem führt die Einführung und Umsetzung des Konzepts „Neue Hilfen / Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe“ zu einer weiteren Verletzung tragender Strukturprinzipien des Kinder- und Jugendhilferechts. Namentlich werden verletzt,

  • das Prinzip der Trägerpluralität (§ 3 Abs. 1 SGB VIII),
  • das Wunsch- und Wahlrecht (§ 5 SGB VIII),
  • der Bedarfsdeckungsgrundsatz (§ 27 Abs. 2 SGB VIII),
  • die Wahrnehmung der Steuerungsverantwortung durch das Jugendamt als Sozialleistungsträger (§§ 69, 79 SGB VIII).

5. Verstoß gegen Art. 87 EGV

Die Einführung  sozialräumlicher Steuerungsmodelle und die damit verbundene Form der Finanzierung durch Zuwendung verstößt überdies gegen Art. 87 EGV;

Amtsblatt der EU, v. 29.12.2006, C 321.

Darin heißt es:

„Soweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.“

Mit der Gewährung von Zuschüssen an ausgewählte Träger gewährte die Antragsgegnerin diesen Beihilfen im Sinne des Art. 87 EGV. Die Gewährung von Zuschüssen führt nicht nur zu einer nach EU-Wettbewerbsrecht unzulässigen Benachteiligung ausländischer Leistungserbringer; sie stellt sich vielmehr auch im Verhältnis zu den inländischen Leistungserbringern als wettbewerbsverfälschend dar und beeinträchtigt den innergemeinschaftlichen Handel.

vgl.: Boetticher, Die frei-gemeinnützige Wohlfahrtspflege und das europäische Beihilferecht, Baden-Baden, 2003; Münder/Boetticher, Wettbewerbsverzerrungen im Kinder- und Jugendhilferecht im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechtes, Schriftenreihe des VPK Bundesverbandes e.V., Band 1; Boysen/Neukirchen, Europäisches Beihilferecht und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, Baden-Baden 2007.

Von einer umfassenden europarechtlichen Bewertung sehe ich im Interesse einer Begrenzung des Streitstandes einstweilen ab. Ich gehe davon aus, dass sich das Konzept „Neue Hilfen / Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe“ bereits vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen als rechtswidrig erweist. Sollte das Gericht zu diesem Punkt Substantiierung fordern, erbitte ich einen Hinweis.

6. Rechtswidrige Auswahlentscheidung

Wie dargelegt, begehrt die Antragsgegnerin primär die Verhinderung des Konzepts „Sozialräumliche Hilfen und Angebote“. Sollte das Gericht jedoch zu der Auffassung gelangen, dass das angegriffene Konzept rechtmäßig ist, rügt die Antragstellerin die Auswahl der Träger selbst. Das Auswahlverfahren ist nicht transparent. Der Antragstellerin ist auf mündliche Nachfrage mitgeteilt worden, dass sie nicht an der Auswahl beteiligt werde. Konkrete Gründe wurden hierfür nicht genannt.
Selbst wenn also das Gericht zu der Auffassung kommen würde, dass für das vorliegende Konzept eine Förderungsfinanzierung nach § 74 SGB VIII zulässig wäre, wäre die Auswahlentscheidung in jedem Fall ermessensfehlerhaft. Bei richtiger Auswahl wäre die Antragstellerin zu beteiligen gewesen. Da die Antragsgegnerin nichteinmal offen legt, welche Projekte sie wie ausschreibt, ist eine konkrete Bewerbung auf Projekte auch nicht möglich. Die Vergabe erfolgt nach völlig intransparenten Kriterien. Die Antragstellerin geht davon aus, dass es sich dabei um sachfremde Erwägungen handelt. Eine präzise Bewertung kann jedoch erst nach Akteneinsicht erfolgen.

III. Anordnungsgrund

Die Sache ist eilbedürftig. Die Antragsgegnerin hat mit der Implementierung des neuen Steuerungsmodells begonnen. Mit der Einführung des neuen Steuerungssystems wird die Antragstellerin in ihrer Konkurrenzsituation nachhaltig und unwiederbringlich beeinträchtigt. Die Antragsgegnerin strukturiert die betroffenen Sozialen Dienste im Sinne des neuen Steuerungsmodells grundlegend und unumkehrbar um. Auch die Bezirksämter werden verpflichtet, die Vorgaben des neuen Steuerungsmodells umzusetzen. Eine stattgebende Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren käme für die Antragstellerin zu spät. Im Hinblick auf die Bedeutung des hier betroffenen Grundrechts und des nach summarischer Prüfung zu bejahenden Unterlassungsanspruches ist der Antragstellerin ein so langes Abwarten nicht zumutbar. Im Übrigen verweise ich darauf, dass in sämtlichen der oben zitierten verwaltungsgerichtlichen Verfahren zur Sozialraumorientierung entsprechende Entscheidungen im Eilverfahren ergangen sind. Die dort gegebenen Begründungen zur Eilbedürftigkeit mache ich mir zu Eigen.

IV. Weitere Begründung nach Akteneinsicht

Eine weitere Begründung – insbesondere auch zu den weiteren Hilfsanträgen – werde ich nach Akteneinsicht vornehmen.

Akteneinsicht wird sowohl hinsichtlich sämtlicher Papiere und Dokumente zum Gesamtkonzept „Neue Hilfen / SHA“ als auch hinsichtlich der bevorstehenden oder bereits erfolgten Vergaben im Bezirk Hamburg-Mitte begehrt.

Prof. Dr. Florian Gerlach
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Verwaltungsrecht


Nach dieser Vorlage baute sich Staatsrat Pörksen auf dem Sommerfest der Hamburger Bürgerschaft vor mir auf und fragte: „Herr Kolle, was haben Sie denn lustiges vor?“

Soweit aus Hamburg, Mitstreiter sind willkommen!


[1] Vgl. Mechthild Seithe, www.einmischen.com


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Von Wirkungsvolle Jugendhilfe - Gegen die Ökonomisierung der Sozialen Arbeit am 7/20/2012 10:20:00 PM unter Wirkungsvolle Jugendhilfe eingestellt
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