Hallo,
vor etwas über zwei Jahren, als dieses Forum eröffnet wurde, gab es
das Web 2.0 auch schon. Trotzdem habe ich stark den Eindruck, als ob
sich auch in diesen zwei Jahren schon wieder unglaublich viel
verändert hat.
Drehte sich damals noch alles ums Bloggen, so sind es heute Twitter
und die neueren Social Networks, über die am meisten geredet wird.
Neulich bin ich dafür auf den treffsicheren und zum Ausdruck
"Blogosphäre" prima passenden Ausdruck "Statusphäre" gestoßen. Der
Ausdruck selbst ist zumindest im Englischen wohl schon älter und
bezeichnet dort laut Urban Dictionary die Welt der Schönen und Reichen
rund um Hollywood
(
http://www.urbandictionary.com/define.php?term=statusphere).
Mittlerweile wird er aber auch dort immer häufiger im Zusammenhang mit
neueren Micro-News-Webanwendungen verwendet.
Was damit gemeint ist, werden wohl alle, die täglich mit den
Engabefeldern von Twitter, Facebook und Co. zu tun haben, sofort
verstehen. Es sind spontane Mini-Statements, die man dort abgeben
kann. Nichts, worüber man lange nachdenken muss. Entdeckt man einen
interessanten Artikel, postet man schnell mal den Link mit einem
kurzen Meinungskommentar dazu. Hat man sich gerade über irgendwas
geärgert, etwa den Kundensupport eines Internetproviders oder die
Verspätung bei der Bahn, kann man schnell eine kleine Wolke Dampf
ablassen. Hat man ein Faible für Sprachspielereien und
Wortschöpfungen, kann man seine neuesten Kreationen unkompliziert
festhalten und mitteilen. Manche verwenden die Status-Mitteil-
Anwendungen sogar für ihr persönliches Getting-Things-Done. Andere
wiederum machen sich zu sogenannten Watchern (Beobachtern) eines
bestimmten Themas und posten unentwegt alles, was sie dazu entdecken.
Und obwohl das alles erst mal sehr danach aussieht, als ob jeder
einzelne einfach nur vor sich hinzwitschert, ohne Interesse für das
Gezwitscher der anderen, so wird man, nachdem man sich erst mal näher
darauf eingelassen hat, nach einer gewissen Zeit eines Besseren
belehrt. Innerhalb der Statusphäre findet nicht nur ansatzweise,
sondern sogar massenhaft und sehr vielfältig Kommunikation statt. Da
wird gefragt und geantwortet, weitergesagt, argumentiert und
gekontert.
Das alles ist nur nicht mehr "tiefgründig" im Sinne der
abendländischen Diskurstradition. Abgesehen von ein paar genialen
Aphorismen lässt halt kaum irgendwas "Elaboriertes" in 140 (Twitter)
oder 420 (Facebook) Zeichen packen. Keine Chance für große Rhetorik,
kein Platz für lange Begründungen. Es bleibt bei Argumenten (statt
ganzen Theorien mit all ihrem Absolutheitsanspruch) und bei
Beobachtungen (statt ganzer Lebenserfahrungen mit all ihrem
bedrohlichen Besserwissen). Dadurch bleibt alles auf eine seltsame
Weise freundlich. Die Teilnehmer sind weniger mit der Pflege von
Verletzungen beschäftigt und haben dadurch mehr Zeit zum
Weiterzwitschern. Im Ganzen betrachtet, erhöht sich die Produktivität
beim Kommunizieren enorm.
Beim Bloggen ist das zumindest formal noch ganz anders. Dort ist noch
Platz genug, um wortreich über Ansichtengegner herzuziehen und aus
jedem Link ein Review mit aufgesetzter Richtermiene zu machen.
Allerdings machen viele Blogger gar nicht mehr so viel Gebrauch von
den unendlich vielen Zeichen, die ihnen beim Schreiben zur Verfügung
stehen. Viele von ihnen hatten schon seit Jahren einen Hang zum reinen
Statusmelden. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum so manch ein Ex-
Blogger heute lieber twittert.
Statusphäre und Blogosphäre laufen derzeit parallel, und um die etwas
provokant gestellte Ausgangsfrage im Titel dieses Threads gleich
selber zu beantworten: nein, ich glaube nicht, dass die Statusphäre
die Blogosphäre oder andere Publikationsformen im Web verdrängen wird
(ich lass mir ja auch dieses "entschleunigte Forum" - Wortprägung:
Claudia Klinger - nicht wegzwitschern!). Sie ist jedoch eine mächtige
neue Sphäre, die genauso ernst genommen werden sollte wie die übrigen
Spären. Und die abendländische Diskurstradition wird um eine
interessante, sehr produktive Kommunikationstechnik bereichert.
viele Grüße
Stefan Münz