Fwd: H Zeller zu Robert Brandom

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Hans-Gert Gräbe

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Feb 1, 2022, 5:00:23 AM2/1/22
to rohrbach...@googlegroups.com
Liebe Rohrbachianer,

wir beschäftigen uns im Projekt "Systematische Innovationsmethoden" am
Leipziger InfAI seit mehreren Jahren mit Prozessen kooperativen Handelns
und den diese begleitenden Begriffsbildungsprozessen. Ähnliche Fragen
spielen auch in der Philosophie eine wichtige Rolle. Unser Referenzpunkt
waren dabei bisher vor allem die Ansätze von G.P. Shchedrovitsky
<https://wumm-project.github.io/PhiloBasics>, die in der philosophischen
Fundierung der TRIZ eine Rolle spielen. Dazu insbesondere

> V. B. Khristenko, A. G. Reus, A. P. Zinchenko et al. The Methodological School of Management. Bloomsbury Publishing, 2014.
> https://books.google.by/books?id=_8wXBAAAQBAJ
> Part I: Selected Works by G.P. Shchedrovitsky

Den folgende (von mir leicht modifizierte) Text, der wohl auf Haziran
Zeller
<https://www.philsem.uni-kiel.de/de/lehrstuehle/philosophie-und-ethik-der-umwelt/uebersicht/haziran-zeller>
zurückgeht, hat Uli Fritsche gerade herumgeschickt.

Mit freundlichen Grüßen,
Hans-Gert Gräbe

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Hegel ist für Brandom ein konservativer Denker. In seiner Absage an
(das nur gemeinte) Überschreiten der Verhältnisse liegt die
eigentlich revolutionäre Kraft seiner , Hegel, Philosophie: Wahre
Kritik besteht nicht darin zu sagen, dass sich alles ändern
kann,..., sondern schonungslos zu benennen, was sich in der
Gegenwart zuträgt, die bei Brandom so sehr fehlt, wie er dem Denken
einen »erbaulichen Zweck« unterstellt.

Seine philosophische Position bezeichnet Brandom, in erklärter
Frontstellung zu empiristisch
<https://de.wikipedia.org/wiki/Empirismus> oder naturalistisch
<https://de.wikipedia.org/wiki/Naturalismus_(Philosophie)> geprägten
Bedeutungstheorien, als „Inferentialismus
<https://de.wikipedia.org/wiki/Inferentielle_Semantik>“. Mit seinem
Verweis auf die Regeln des Sprachgebrauchs versucht er, die
inferentielle Semantik durch eine normative Sprachpragmatik
<https://de.wikipedia.org/wiki/Pragmatik_(Linguistik)> zu begründen.

Eine gut beschriebene Heldenreise eines Bewusstseins "Hegelianischer
Ingenieurskunst": H. Zeller schreibt, dass Robert Brandom mit »Im Geiste
des Vertrauens« ein monumentales Werk gelungen sei.

Wer im dichtbesiedelten Nordrhein-Westfalen aufwächst, hält eine Gegend
wie den Königsforst leicht für unberührte Natur. Dabei ist das
Naherholungsgebiet östlich von Köln alles andere als ein Urwald. Einst
von Eichen bewachsen, wurde die Region in den Napoleonischen Kriegen
schwer verwüstet und nach dem Wiener Kongress von den nunmehr
herrschenden Preußen systematisch mit engstehenden Kiefern
wiederaufgeforstet. Der abseits des Pfades wandelnde Spaziergänger meint
also, die Wildnis zu erkunden, und betritt in Wahrheit eine künstliche
Anlage. Eben diese Diskrepanz zwischen dem sinnlichen Schein der Welt
und ihrem historischen Wesen vernachlässigt die bürgerliche Ideologie.
Sie erkennt nicht, dass die Wirklichkeit ein Produkt der Geschichte ist,
oder mit dem Beispiel aus der »Deutschen Ideologie« von Marx und Engels:
»Der Kirschbaum ist, wie fast alle Obstbäume, bekanntlich erst vor wenig
Jahrhunderten durch den Handel in unsre Zone verpflanzt worden.«

In der angelsächsischen Philosophie nennt man die falsche Unterstellung
einer unvermittelten Faktizität den »Myth of the Given« den »Mythos des
Gegebenen«. Ihm Aufklärung entgegenzusetzen, hat sich der in Pittsburgh
lehrende Robert Brandom zur Aufgabe gemacht. Sein jüngstes Buch »Im
Geiste des Vertrauens« liegt nun in deutscher Übersetzung vor.

Brandom unternimmt darin eine Lektüre der »Phänomenologie des Geistes«,
das heißt, er folgt dem Erkenntnisweg dieser ersten großen
Veröffentlichung Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831), die gerne
mit einem Bildungsroman verglichen wird, denn der Leser begleitet darin
einen zu Beginn noch ganz unbefangenen Helden, das Bewusstsein, beim
Sammeln von Erfahrungen.

Das Prinzip ist: Die Dinge sind nicht so, wie sie auf den ersten Blick
erscheinen. Brandoms Ansatz ist, den Entwicklungsprozess der
»Phänomenologie des Geistes« in seine wesentlichen Etappen zu zerlegen,
um auf dem so entstandenen Fundament sein eigenes Gedankengebäude zu
errichten. Es handelt sich also um eine Rekonstruktion. Die
Wiederaufbauarbeit bündelt zentrale Einsichten des Werkes und nimmt sich
dabei zugleich vor, »Hegels extremes Vokabular auf eine Terminologie
abzubilden, die es erlaubt, seine Ideen mit den wichtigsten und
rätselhaftesten Fragen der zeitgenössischen Philosophie in Kontakt zu
bringen«. »Im Geiste des Vertrauens« ist also Detailanalyse,
Aktualisierung der Hegelschen Philosophie und eigene Theorie zugleich.

*Objekte, Artgenossen, Zeit*

Im Ganzen identifiziert Brandom drei Hauptmodule bei Hegel, die sich mit
Objektivität, Intersubjektivem und der Geschichte befassen: Der
Protagonist der »Phänomenologie« erkenne erst die äußeren Objekte, dann
seine Artgenossen und komme schließlich zu einem Verständnis von
menschlichen Begebenheiten in der Zeit. Das entspricht dem Ablauf des
Originals und ist doch mehr als eine Kopie, da »Im Geiste des
Vertrauens« etwas Eigenes mitbringt: das Konzept der Normativität. Die
Idee ist, dass von Begriffen, die wir im Alltag verwenden, Implikationen
ausgehen, die wie Regeln des Anstandes zu beachten sind. Sprecher seien
an die korrekte Verwendung ihrer Wörter gebunden, da sie beispielsweise
nicht jedes Metall »Kupfer« nennen dürfen. Oder, mit Brandom: »Die
Behauptung, dass die Temperatur des Kupfers über 1.085 Grad Celsius
beträgt, verpflichtet zu der Behauptung, dass es sich nicht in einem
festen Zustand befindet.« Denn der Schmelzpunkt von Kupfer liegt bei
1.085 Grad Celsius.

Für die Hegel-Lektüre ist das ziemlich elegant, weil mit einem
normativen Verständnis der Sprache der Übergang zur nächsten Stufe des
Geistes, dem Reich des Sozialen, bereits gemacht ist. Wenn alle
Tatsachenurteile in Wahrheit Werturteile sind, befindet man sich schon
in einem zwischenmenschlichen Rahmen. Man könnte auch sagen:
Normativität hält theoretische und praktische Philosophie zusammen. Ihre
Bindekraft stabilisiert auch das immer komplexere Gerüst von Brandoms
eigener Erkenntnistheorie, die Hegel so geschickt in einer zwar etwas
spröden und auch nicht stets präzise übersetzten, aber eigenständigen
Diktion nachahmt, dass von großer philosophischer Ingenieurskunst die
Rede sein muss.

Das Ergebnis ist beeindruckend, aber keine Überraschung, denn Brandom
ist einer der bedeutendsten lebenden Philosophen. Gemeinsam mit seinem
Freund und Diskussionspartner John McDowell gilt er als Hauptvertreter
der »Pittsburgh Hegelians«, wie man jene auf Wilfrid Sellars
zurückgehende Strömung nennt, die maßgeblich zur Renaissance des einst
verpönten Deutschen Idealismus in den Vereinigten Staaten beigetragen
hat. Ihre Wirkung beschränkt sich derweil nicht auf die USA, da gerade
Brandom, dessen Hauptwerk bislang »Making It Explicit« von 1994 war,
auch hierzulande tätig gewesen ist, etwa an der Universität Leipzig. Ein
wichtiges Theorem der »Pittsburg Hegelians« ist die Gebrauchstheorie der
Bedeutung, also die Idee, dass der Sinn sprachlicher Ausdrücke in der
Verwendung festgelegt wird.

Die Wurzeln dieser Überlegung liegen bei Ludwig Wittgenstein, und wer
mit dessen Philosophie nicht vertraut ist, kann an Jürgen Habermas
denken, der sich zwar mit Brandom nicht in allen Punkten einig ist, aber
trotzdem eine Diskursethik vertritt, die sich gut mit dem verträgt, was
im dritten Teil von »Im Geiste des Vertrauens« vorgestellt wird.

*Geständnis und Verzeihen*

Denn gegen Ende des Buches *entwirft Brandom eine eigene Theorie des
kommunikativen Handelns,* in welcher die horizontalen Beziehungen
zwischen den Menschen eine historische Dimension erhalten. Wir haben es
jetzt mit einem Aushandlungsprozess zu tun, etwa so: Arthur nennt einen
Gegenstand aufgrund seiner Farbe »Kupfer«, wird aber von Anna
korrigiert, da sie in einem Experiment festgestellt hat, dass der
Schmelzpunkt des in Frage stehenden Metallstücks deutlich unter 1.000
Grad Celsius liegt. Arthur kann also nicht sowohl an seiner ersten
Einschätzung festhalten als auch Annas empirischer Beobachtung Glauben
schenken, wird darum also wahrscheinlich seinen früheren Begriff opfern
und einen Fehler zugeben. In Anlehnung an die Ausdrucksweise der
»Phänomenologie« bezeichnet Brandom dies als Geständnis, dem auf der
Seite der fachkundigeren Person das Verzeihen entspricht. Für Hegel
schloss das Kapitel des Geistes mit einer solchen Struktur ab: Wenn Anna
und Arthur einen Umgang pflegen, in dem Missverständnisse kein
Konfliktpotential bergen, handeln sie im Geiste des Vertrauens, der
Brandoms Buch seinen Namen gibt.

Trotzdem ist der finale Gedanke bei Brandom eigentlich die Erinnerung.
Er zielt auf die »rückblickend erinnernde rationale Rekonstruktion eines
Erfahrungsverlaufs« ab, erklärt also nachträglich, wie Anna und Arthur
zu der Überzeugung gelangt sind, es müsse sich bei dem in Frage
stehenden Objekt um Aluminium handeln, das bereits bei 659 Grad Celsius
flüssig zu werden beginnt. Diese Retrospektive ist der höchste Punkt der
diskursiven Auseinandersetzung, da sie die ideale Sprechsituation in
einer »Anerkennungsgemeinschaft« markiert und zugleich auf die Zukunft
verweist, die möglicherweise noch bessere Deutungen bereithält: Eines
Tages wird man auf Annas jetziges Resultat zurückblicken wie auf die
falsche Hypothese Arthurs. Wirklich schön ist, dass Brandom diesen
Gedanken auch auf das eigene Buch anwendet und zum Schluss die
wechselvolle Geschichte seines mehrere Jahrzehnte währenden Projekts
nacherzählt, dessen Ende natürlich offen ist. Das entspricht
*oberflächlich der Hegelschen Methode, die Fortschritt nur in Einheit
mit dessen Gegenbewegung kannte*, daher den Blick systematisch vom
Resultat her zurückwandte und auch -ging. Allerdings so, dass der
*Begriff der Einheit auch in seinem monistischen Wortsinn von Einzelheit
zur Gültigkeit gelangte*, also *die Gleichzeitigkeit des sich
Widersprechenden* meinte und *nicht in zwei Richtungen zerfiel*.

Diese dialektische Konsequenz samt substantieller Tiefe fehlt »Im Geiste
des Vertrauens«. Sie markiert die Fallhöhe des Buches.

Denn die dialogische Interpretation verzerrt die Perspektive der
»Phänomenologie«, die zwar durchaus eine Bühne ist, auf der Akteure ihre
Rollen spielen, in der sich das Interesse aber zuletzt auf das ganze
Theater richtet. *Dessen Totalität ignoriert Brandom mit Absicht,*
weshalb vom unfreiwilligen Fallen denn auch eigentlich nicht die Rede
sein kann. Von einer Ebenendifferenz jedoch schon: *Der Dialektik geht
es um die Interaktion von Subjekten nur, falls damit auch die Identität
eines sie synthetisierenden Kollektivsubjekts gemeint ist, das eine
emphatische Wahrheit erkennen lässt.*

Für Hegel ist dieser vertikale und objektive Aspekt entscheidend. Bei
Brandom fällt er raus. Am Begriff der Erinnerung lässt sich das gut
zeigen. Während er bei Brandom nur die zukunftsweisende Integration
einer irgendwie gearteten Auseinandersetzung um letztlich beliebige
Inhalte meint, bezeichnet er bei Hegel als »Er-innerung« das Eindringen
der menschlichen Kapazitäten ins Innere der Wirklichkeit, dadurch auch
das Sich-selbst-bewusst-Werden des Geistes, der an seinem anderen auf
sich stößt. Ein solcher Anspruch kann bei Brandom gar nicht aufkommen,
da er als Erkenntnistheoretiker nur die formalen Voraussetzungen eines
gelingenden Realitätsbezugs analysiert. Das erklärt die austauschbaren
Kupferbeispiele.

*In Kant verwandelt*

Man kann dies auch so ausdrücken, dass Brandom den Metaphysiker Hegel
planmäßig in dessen transzendentalphilosophischen Vorgänger Immanuel
Kant verwandelt, der so bescheiden war, nur die Bedingungen der
Möglichkeit von Erkenntnis zu untersuchen, diese selbst aber zu
vertagen. Anders wäre es auch nicht möglich, *die »Phänomenologie« im
Lichte der Normativität zu lesen, also in der Hinsicht eines moralischen
Sollens,* über das sich Hegel stets lustig gemacht hat.

Denn das Sollen ist *die nur geforderte Wirklichkeit,* also *eine, die
noch nicht ist*. Um das wirkliche Sein aber geht es der Philosophie.
Wegen der Beschränkung aufs Wirkliche lautet das Vorurteil über Hegel,
er sei ein konservativer Denker. Dabei liegt in seiner Absage an das nur
gemeinte Überschreiten der Verhältnisse die eigentlich revolutionäre
Kraft seiner Philosophie: Wahre Kritik besteht nicht darin zu sagen,
dass sich alles ändern kann, auch der Schmelzpunkt von Kupfer, sondern
schonungslos zu benennen, was sich in der Gegenwart zuträgt, die bei
Brandom so sehr fehlt, wie er dem Denken einen »erbaulichen Zweck«
unterstellt.

Erbaulichkeit und Lüge liegen so nah beieinander wie Trost und
Vertröstung. Hegel wusste, warum die Erkenntnis jeder Hoffnung
vorzuziehen ist, und hat Brandoms Anliegen schon in der Vorrede zur
»Phänomenologie« eine Absage erteilt, wo zu lesen ist: »Die Philosophie
muss sich hüten, erbaulich sein zu wollen.«

--

Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Univ. Leipzig, InfAI
Hochschullehrer im Ruhestand
Leiter der Arbeitsgruppe Systematische Innovationsmethodiken
tel. : +49-172-7622013
email: gra...@infai.org
Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe
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