Lieber Rainer,
Am 26.12.20 um 18:35 schrieb Rainer Thiel:
> dringend empfehle ich vor allem, was ich weiter unten gelb markiert
> habe. Klick, und man stößt auf den Titel „Epidemiologie des Geistes“.
> Eigentlich: *Die Dialektik* der Pandemie. (Sieben Teile ohne weiteren Klick)
Den Text im Original (und in einem Stück) gibt es hier:
https://www.power-xs.net/jain/pub/epidemiologie_des_geistes.pdf
An deinen Sohn Peter schrieb ich am 12.12.
> Das Kaninchen schaute starr vor Schreck auf die Schlange "Du wirst mich doch nicht fres...".
In einer solchen Angst verengt sich der Blickwinkel auch der Politik
immer weiter.
Nun also "Corona".
In den fünf Jahren davor war es "Klimawandel".
Vor 10 Jahren war es "Peak Oil". Ich dazu: "Peak Oil? Peak everything!"
Hoffnung wurde gesetzt auf eine "wissenschaftlich fundierte Politik" mit
WHO, IPCC, Club of Rome usw.
Vor 11 Jahren diskutierten wir diese Frage bereits anhand von Peter
Fleissners "10 Thesen zur Wissenschaftspolitik"
http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?HansGertGraebe/RohrbacherKreis/Dahlen-09
und diagnostizierten bereits damals einen veritablen Widerspruch
zwischen Wissenschaft und Wissenschafts_politik_, indem wir jene
_Kritikfähigkeit_, die Jain zu Recht einfordert, bereits damals
politisch-strukturell untergraben sahen.
Alles fein publiziert im Heft 16 der Rohrbacher Manuskripte und hier
nachzulesen
http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?HansGertGraebe/RohrbacherKreis/RohrbacherManuskripte/AlteReihe
Gewichtigere Leute als unser kleines Häuflein diagnostizierten diese
massiven Defizite einer grundlegenden Wissenschaftsepistemik bereits
2005 "Learn to think in a new way"
http://www.gcn.de/download/denkschrift_de.pdf
Und schließlich war es eine gewisse Politik, die vor 35 Jahren mit dem
Anspruch eines "neuen Denkens" angetreten ist. Aus jener Zeit habe ich
gerade einen Aufsatz eines deiner Philosophen-Kollegen, Shchedrovitsky
jr., ins Deutsche übersetzt
https://wumm-project.github.io/Texts/PG-1987-de.pdf
Dort (zu einer Zeit, wo der Blick auf die Schlange noch nicht so sehr
fatal verengt war wie auch im Text von Jain) wird der Zusammenhang
zwischen verqueren politischen, wissenschaftlichen und epistemischen
Praxen am "Ende des Industriezeitalters, wie wir es kennen" (einen Titel
von Elmar Altvater paraphrasierend) noch umfassend analysiert.
Ich plädiere also weniger für die dialektische als vielmehr für die
historische Methode, sich all dieser gut vergessenen klugen Gedanken zu
erinnern, um die vor uns stehende Katharsis der Industriegesellschaft in
den nächsten 30..50 Jahre besser zu bestehen als ohne diese.
Allerdings ist aus all diesen klugen Gedanken nur Geschichtspessimismus
abzuleiten: "Wenn ihr das und das tut, dann wird es schlimmer" - und sie
taten das und das, und es wurde schlimmer. Die Katharsis wird also wohl
ablaufen wie immer und als "Naturgewalt" über uns Menschheit
hereinbrechen. Optimismus ergibt sich nur aus der Geschichte der
bisherigen Katharsen - wir haben sie überstanden, weil immer auch schon
die nötigen Mittel zu ihrer Bewältigung produziert waren, auch wenn wir
diese vorab nicht sahen.
Einmal mehr die 11. Feuerbachthese als Geschichtsoptimismus. Man hüte
sich allerdings, jene zu einfach zu interpretieren.
Liebe Grüße,
Hans-Gert
--
apl. Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
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