Re: Die Dialektik der Pandemie

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Hans-Gert Gräbe

unread,
Dec 30, 2020, 5:23:50 AM12/30/20
to Rainer Thiel, rohrbach...@googlegroups.com
Lieber Rainer,

Am 26.12.20 um 18:35 schrieb Rainer Thiel:
> dringend empfehle ich vor allem, was ich weiter unten gelb markiert
> habe. Klick, und man stößt auf den Titel „Epidemiologie des Geistes“.
> Eigentlich: *Die Dialektik* der Pandemie. (Sieben Teile ohne weiteren Klick)

Den Text im Original (und in einem Stück) gibt es hier:
https://www.power-xs.net/jain/pub/epidemiologie_des_geistes.pdf

An deinen Sohn Peter schrieb ich am 12.12.
> Das Kaninchen schaute starr vor Schreck auf die Schlange "Du wirst mich doch nicht fres...".

In einer solchen Angst verengt sich der Blickwinkel auch der Politik
immer weiter.

Nun also "Corona".
In den fünf Jahren davor war es "Klimawandel".
Vor 10 Jahren war es "Peak Oil". Ich dazu: "Peak Oil? Peak everything!"

Hoffnung wurde gesetzt auf eine "wissenschaftlich fundierte Politik" mit
WHO, IPCC, Club of Rome usw.

Vor 11 Jahren diskutierten wir diese Frage bereits anhand von Peter
Fleissners "10 Thesen zur Wissenschaftspolitik"

http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?HansGertGraebe/RohrbacherKreis/Dahlen-09

und diagnostizierten bereits damals einen veritablen Widerspruch
zwischen Wissenschaft und Wissenschafts_politik_, indem wir jene
_Kritikfähigkeit_, die Jain zu Recht einfordert, bereits damals
politisch-strukturell untergraben sahen.

Alles fein publiziert im Heft 16 der Rohrbacher Manuskripte und hier
nachzulesen

http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?HansGertGraebe/RohrbacherKreis/RohrbacherManuskripte/AlteReihe

Gewichtigere Leute als unser kleines Häuflein diagnostizierten diese
massiven Defizite einer grundlegenden Wissenschaftsepistemik bereits
2005 "Learn to think in a new way"

http://www.gcn.de/download/denkschrift_de.pdf

Und schließlich war es eine gewisse Politik, die vor 35 Jahren mit dem
Anspruch eines "neuen Denkens" angetreten ist. Aus jener Zeit habe ich
gerade einen Aufsatz eines deiner Philosophen-Kollegen, Shchedrovitsky
jr., ins Deutsche übersetzt

https://wumm-project.github.io/Texts/PG-1987-de.pdf

Dort (zu einer Zeit, wo der Blick auf die Schlange noch nicht so sehr
fatal verengt war wie auch im Text von Jain) wird der Zusammenhang
zwischen verqueren politischen, wissenschaftlichen und epistemischen
Praxen am "Ende des Industriezeitalters, wie wir es kennen" (einen Titel
von Elmar Altvater paraphrasierend) noch umfassend analysiert.

Ich plädiere also weniger für die dialektische als vielmehr für die
historische Methode, sich all dieser gut vergessenen klugen Gedanken zu
erinnern, um die vor uns stehende Katharsis der Industriegesellschaft in
den nächsten 30..50 Jahre besser zu bestehen als ohne diese.

Allerdings ist aus all diesen klugen Gedanken nur Geschichtspessimismus
abzuleiten: "Wenn ihr das und das tut, dann wird es schlimmer" - und sie
taten das und das, und es wurde schlimmer. Die Katharsis wird also wohl
ablaufen wie immer und als "Naturgewalt" über uns Menschheit
hereinbrechen. Optimismus ergibt sich nur aus der Geschichte der
bisherigen Katharsen - wir haben sie überstanden, weil immer auch schon
die nötigen Mittel zu ihrer Bewältigung produziert waren, auch wenn wir
diese vorab nicht sahen.

Einmal mehr die 11. Feuerbachthese als Geschichtsoptimismus. Man hüte
sich allerdings, jene zu einfach zu interpretieren.

Liebe Grüße,
Hans-Gert

--

apl. Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
postal address: Postfach 100920, D-04009 Leipzig
Hausanschrift: Augustusplatz 10, 04109 Leipzig, Raum P-633
tel. : +49-341-97-32248
email: gra...@informatik.uni-leipzig.de
Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

Hans-Gert Gräbe

unread,
Jan 5, 2021, 1:51:27 PM1/5/21
to rohrbach...@googlegroups.com
Rainer bat mich, diese Mail an die Liste weiterzuleiten, da seine Mail
nicht für die Liste akzeptiert wurde. Sie ist eine Antwort auf meine
Mail vom 30.12. 11:23 Uhr.

hgg

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Lieber Hans-Gert,

Dank auch für diese mail. Mein Blick auf die ungeheure Leistung, die Du
seit vielen Jahren außerhalb Deines akademischen Amtes geleistet hast,
hat sich nun noch erweitert. Und erst recht gilt: Es lebe der Rohrbacher
Kreis in aller Zukunft.

Peter hat die massenhafte Angst vor Corona angesprochen. Sehr richtig.
Mir selbst ist Angst fremd, doch große Sorgen spüre ich seit Jahrzehnten
und auch die Corona-Repressalien der Mächtigen und die Wachstums-Hype
betreffend, sodass ich mich zumeist mit kürzeren, anlassbezogenen Texten
äußere. Zum Widerstand bin ich bis an die Grenzen meiner Kraft bereit.

Was im Rohrbacher Kreis besprochen wurde, hat mich nicht überrascht. Ich
habe nur den Eindruck, dass die vielen Vortragenden mehr Aufmerksamkeit
für die praktisch-politischen Probleme und deren Überwindung entwickeln
müssten. Mir scheint, dass ist das interne Problem der Intelligenz.
Deshalb interessiert mich sehr auch das Problem des Aufstehens gegen
alles, was uns bedrückt. Das mag man als praktische Politik einordnen,
bitteschön, doch auch das sollte im Leibniz-Institut für
interdisziplinäre Studien thematisiert werden. Und das System der
Politik muss analysiert werden. Doch die Massen der Leidenden können die
viele intellektuelle Literatur nicht im entferntesten bewältigen. Was
also müsste getan werden? Sorgen über Sorgen.

Interessant wäre natürlich auch das Verhältnis von Geschichte und
Dialektik und/oder die Problematik, die ich im letzten Teil meines
Vortrags am 13. 9. anlässlich RT90 versucht habe zu behandeln.

Brüderlichen Gruß von Rainer

--
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