Salve allerseits,
Dr. Joachim Neudert schrieb:
> Am 29.03.23 um 07:32 schrieb Michael Bode:
>> Ruediger Lahl <
ruedig...@gmx.de> writes:
>>> *Michael Bode* schrieb:
>>>> "Dr. Joachim Neudert" <
neu...@5sl.org> writes:
>>>>
>>>>> Sag mir doch mal gleich, welche Entschlußkraft einer Abstimmung im
>>>>> EU-Parlament zukommt.
>>>>
>>>> Ich weiß jedenfalls, dass die letzte Wahl zum EU-Parlament meine letzte
>>>> war. Ich hab sonntags schon was vor.
>>>
>>> Damit wählst du auch automatisch dein Recht ab, weiter über die EU
>>> nörgeln zu dürfen. :-P
>>
>> Das wüsste ich aber.
>
> Wir erinnern uns gut an die letzte Wahl des EU-Parlaments, europaweit,
> demokratisch. Mit Herrn Manfred Weber von der CSU bzw. der konservativen
> Gruppierung EVP als "Spitzenkandidat", auf allen Plakaten:
https://www.tagesschau.de/europawahl/portraet-weber-101.html
>
+--- <hier abknabbern> ---
| Jens Geier ist genervt. Der Chef der deutschen Sozialdemokraten im
| EU-Parlament würde liebend gern über die Gasmarkt-Richtlinie sprechen.
| Über den Übergang zur Wasserstoffwirtschaft. Die Dekarbonisierung der
| Gasnetze. Das ist seine Welt.
|
| Doch der Journalist ist gekommen, um über Korruption zu reden. Geier
| schaut verdriesslich in seine Teetasse. Er sitzt im Presse-Café des
| Strassburger Parlamentsgebäudes und sagt, dass ihm die Sache mit Eva
| Kaili und Pier Antonio Panzeri doch ziemlich den Teppich unter den
| Füssen weggezogen habe.
|
| Es gebe Leute in seinem Umfeld, die ihn schon damit necken würden, ob er
| nicht eine Tasche Geld bei sich habe, erzählt der 61-Jährige. «Ich sage
| es Ihnen ganz ehrlich: So richtig Spass macht mir die Arbeit hier im
| Moment nicht. Auch wenn ich mich natürlich immer in meine Facharbeit
| vergraben kann.»
|
| *Käufliche Abgeordnete*
|
| Kaili, die abgesetzte Vizepräsidentin des EU-Parlaments, gehörte bis vor
| einigen Wochen zur selben Parteifamilie wie Geier. So wie auch Panzeri
| bis 2019 ein Fraktionsmitglied der europäischen Sozialisten und
| Demokraten (S&D) war. Beide wurden Anfang Dezember in Brüssel verhaftet,
| zusammen mit Francesco Giorgi, dem Lebensgefährten Kailis.
|
| Anfang Februar nahm die Polizei ausserdem den belgischen
| Europaabgeordneten Marc Tarabella fest. Ein weiterer Verdächtiger, der
| italienische EU-Parlamentarier Andrea Cozzolino, wurde wenig später in
| seiner Heimatstadt Neapel unter Hausarrest gestellt. Auch Tarabella und
| Cozzolino sind Sozialdemokraten.
|
| Sie alle werden verdächtigt, von katarischen und marokkanischen
| Vertretern Bestechungsgelder angenommen zu haben, um im Gegenzug
| parlamentarische Verfahren in der Europäischen Union zu beeinflussen. So
| sieht es die belgische Staatsanwaltschaft, die seit Juli 2022 in der
| Sache ermittelt.
|
| Der anhaltende Skandal, wahlweise als «Katargate» oder als «Marokkogate»
| bezeichnet, wirft viele Fragen auf. Warum zählen bis jetzt nur
| S&D-Politiker zu den Verdächtigen? Ist die Affäre bloss die Spitze des
| Eisbergs? Wer kontrolliert die Abgeordneten? Und was versprachen sich
| ausländische Mächte eigentlich davon, die schwächsten Räder im
| EU-Getriebe zu schmieren?
|
| Um sich ein Bild von dem Hohen Haus der EU zu machen, lohnt ein Ausflug
| nach Strassburg. Dort, wo alle vier Wochen die Plenarsitzungen
| stattfinden, herrscht an einem Mittwoch im Januar emsiges Treiben. Das
| imposante Parlamentsgebäude am Ufer des Rhein-Marne-Kanals ist die
| meiste Zeit wie ausgestorben. Nun gleicht es einem Bienenkorb.
|
| *Wanderzirkus wider Willen*
|
| Frauen und Männer mit Trolleys und Rucksäcken strömen in den Bau, dessen
| bizarrstes Merkmal schon aus der Ferne zu sehen ist: ein 60 Meter hoher,
| unvollendeter Turm. Er soll gemäss den französischen Architekten ein
| Symbol für das unfertige Europa sein (und keineswegs an Pieter Bruegels
| düsteres Gemälde vom Turmbau zu Babel erinnern, wie eine urbane Legende
| behauptet).
|
| Im Inneren des Gebäudes schwärmen die Parlamentarier und ihre
| Assistenten um eine riesige Halbkugel aus Holz. Es ist die
| «Herzenskammer der europäischen Demokratie», wie Festredner sagen. Ein
| Plenarsaal, der in seiner Grösse nur noch vom aufgeblähten Deutschen
| Bundestag übertroffen wird.
|
| Dass die EU-Volksvertreter nicht ganz freiwillig nach Strassburg
| pilgern, ist bezeichnend. Schon vor Jahren plädierten 91 Prozent von
| ihnen für Brüssel als einzigen Parlamentssitz. Das ewige Pendeln
| zwischen der belgischen Hauptstadt und der Elsass-Metropole kostet die
| Steuerzahler geschätzte 114 Millionen Euro im Jahr und produziert
| unnötige Treibhausgase. Doch gegen eine Änderung der Verträge sperrt
| Frankreich sich eisern.
|
| An diesem Tag soll der Posten, den Kaili hinterlassen hat, wiederbesetzt
| werden. Warum das Abgeordnetenhaus ausser einer Präsidentin genau 14
| Stellvertreter braucht, kann hier niemand so recht erklären. Auch nicht
| Marc Angel, ein gemütlicher Sozialdemokrat aus Luxemburg, der die
| Abstimmung am Ende gewinnt.
|
| Es ist keine Überraschung, denn die Christlichdemokraten, die
| Sozialisten und die Liberalen waren sich mehr oder weniger einig über
| die Personalie. Die drei grössten Fraktionen haben Absprachen über die
| wichtigsten Posten im Parlament getroffen.
|
| *Posten und Parias*
|
| Nicolaus Fest lächelt verächtlich. Der Vertreter der deutschen AfD hat
| an einem Tisch im Abgeordneten-Café abseits seiner Kollegen Platz
| genommen. «Uns steht ja eigentlich auch ein Vize-Posten zu», sagt er.
| «Aber das hier ist ein reiner ‹closed shop›. Hier tut keiner dem anderen
| weh. Das würde sich natürlich ändern, wenn einer von uns ins Präsidium
| käme.»
|
| Ginge es nach Fest, sollte das einzige direkt gewählte Organ der EU
| gleich ganz abgeschafft werden. Der ehemalige «Bild»-Journalist, der
| 2019 nach Strassburg gewählt wurde, hält sein Arbeitsumfeld für
| grundsätzlich korrupt. «Wo so viel Geld verteilt wird wie hier, ist
| Korruption kein Einzelfall, sondern die Regel.»
|
| Fest muss es wohl wissen. Aus seiner Fraktion Identität und Demokratie,
| wo sich im EU-Parlament die Rechtsnationalisten sammeln, wurde Anfang
| Februar der AfD-Mann Maximilian Krah ausgeschlossen. Der Dresdner soll
| die Vergabe eines PR-Auftrags seiner Fraktion manipuliert haben. Schon
| früher fiel er darüber hinaus dadurch auf, Menschenrechtsverletzungen in
| Katar – ähnlich wie die Griechin Kaili – schöngeredet zu haben.
|
| Der Franzose Jacques Lovergne schrieb 2017 ein desillusionierendes Buch
| über den Parlamentsbetrieb («Der europäische Albtraum»). Für ihn gibt es
| unter den Europaabgeordneten vier Gruppen. Da sind erstens die
| Schlüsselfiguren des Parlaments, die oft schon in der dritten
| Wahlperiode ihr Mandat ausüben und ihre ganze Karriere auf Brüssel und
| Strassburg ausgerichtet haben. Leute wie Geier.
|
| Dann zweitens die Infanteristen, die hoffen, eines Tages zur ersten
| Gruppe aufzusteigen. Sie stimmen ab, wie man es von ihnen erwartet, und
| besetzen ein bestimmtes Thema, um sich als Experten zu positionieren.
| Für die dritte Kategorie, die Touristen, gibt es auf der nationalen
| Ebene temporär keine Verwendung. Sie kehren bei erstbester Gelegenheit
| der EU wieder den Rücken zu. Die Parias, viertens, sind jene, zu denen
| alle andern im Parlament Abstand halten. Leute wie Fest.
|
| *Ein Parlament wie kein anderes*
|
| Auch wer die EU ablehnt, nimmt gerne von ihr. Jeder Abgeordnete erhält
| eine monatliche «Entschädigung» von 9808 Euro 67 (wovon nach Abzug einer
| EU-Steuer und eines Versicherungsbeitrags 7647 Euro 13 bleiben),
| ausserdem 338 Euro für jeden Tag der Anwesenheit im Parlament, eine
| «allgemeine Kostenvergütung» (nicht rechenschaftspflichtig) in Höhe von
| 4993 Euro im Monat sowie Reisekosten und dergleichen mehr. Nebenjobs
| sind nicht verboten: Laut Transparency International stocken damit 27
| Prozent der Abgeordneten ihr Gehalt noch einmal kräftig auf.
|
| Die Griechin Kaili, in deren Wohnung Säcke und Koffer voller Bargeld
| gefunden wurden, hätte sich also nicht wegen schlechter Bezahlung
| bestechen lassen müssen. Sie handelte offenbar aus Gier. Und weil es ihr
| die Umgebung leichtmachte?
|
| Das EU-Parlament ist als supranationales Abgeordnetenhaus weltweit
| einzigartig. Es feierte im vergangenen Herbst seinen 70. Geburtstag und
| auch einen relativen Machtzuwachs über die Jahrzehnte. Die heute 705
| Volksvertreter aus 27 Staaten können den milliardenschweren
| Gemeinschaftshaushalt ablehnen, Kommissionskandidaten durchfallen lassen
| oder Handelsverträge mit Drittstaaten auf Eis legen. Das zum Beispiel
| bekam vor zwei Jahren China prominent zu spüren.
|
| Die EU-Abgeordneten prangern leidenschaftlich autoritäre Regime in aller
| Welt an, zumeist lauter als ihre nationalen Kollegen. Nur deren
| wichtigstes Recht, eigenständig Gesetze auf den Weg zu bringen, haben
| sie nicht. Und das macht das Parlament zur schwächsten Institution im
| EU-Gefüge, obgleich die Kommission und die Mitgliedstaaten bei den
| meisten politischen Entscheiden mit ihm verhandeln müssen.
|
| Egal, ob es um das Verbot von Diesel- und Benzinmotoren, um die
| Einführung einheitlicher Handyladekabel oder die Verarbeitung von
| Insekten in Lebensmitteln geht – die Abgeordneten reden mit, und sie
| haben die Macht, Vorlagen zu verändern. So ist das Europäische Parlament
| zu einem natürlichen Magneten für Lobbyisten geworden.
|
| *Grenzen des Lobbyismus*
|
| «Es gibt einen Nebel von Verbänden, Organisationen und NGO, die mit
| einem Teil des Parlaments in Verbindung stehen», sagt der französische
| Konservative François-Xavier Bellamy. Er ist EU-Abgeordneter der
| Républicains, Philosophieprofessor und höchstwahrscheinlich das, was
| Lovergne in seiner Systematik als «Tourist» bezeichnen würde. Ein Mann
| mit grösseren politischen Ambitionen in der Heimat. Mit schnellen
| Schritten führt er gerade eine Gruppe junger Besucher durch das
| Parlamentsgebäude.
|
| Seine Lehre aus der Korruptionsaffäre? «Mehr Transparenz», sagt der
| 37-Jährige. Man müsse besonders bei den NGO und ihren Geldgebern besser
| hinschauen. Bellamy nennt das Beispiel eines Umweltverbandes, der hohe
| Spenden vom russischen Energiekonzern Gazprom erhalten habe. Mit den
| Interessen der Zivilgesellschaft, findet er, habe das wenig zu tun.
|
| Auch der frühere Europaabgeordnete Panzeri gründete nach seinem
| Ausscheiden aus dem Parlament eine Nichtregierungsorganisation. Sie
| bekam den schönen Namen Fight Impunity und diente nach den Erkenntnissen
| der belgischen Ermittler als Fassade für Geldwäsche. Im
| Transparenzregister der EU war sie kurioserweise nicht aufgeführt.
| Ebenso wenig wie die NGO No Peace Without Justice des Italieners Niccolò
| Figà-Talamanca, eines weiteren Verdächtigen im Kontext des
| Korruptionsskandals.
|
| Mitte Februar räumte die Kommission auf Anfrage des Parlaments ein, No
| Peace Without Justice über mehrere Jahre fast 6 Millionen Euro gezahlt
| zu haben. Auch Fight Impunity könnte Fördergelder aus EU-Töpfen erhalten
| haben; das sei jedenfalls nicht auszuschliessen, teilte
| Haushaltskommissar Johannes Hahn mit.
|
| *Der menschliche Faktor*
|
| Panzeri und seine Komplizen konnten offenbar auf die Naivität ihres
| Umfelds zählen und gingen so vergleichsweise plump vor. Kaili, die einen
| Teil ihrer Bestechungsgelder unter dem Bett ihrer zweijährigen Tochter
| versteckte und bei Abstimmungen überaus auffällig prokatarische
| Positionen vertrat, schien sich bei ihren Aktivitäten völlig in
| Sicherheit zu wähnen.
|
| Ende Februar hat das Parlament erste Reparaturarbeiten erledigt, um den
| Imageschaden zu beheben. So soll es ein Ethikgremium geben, schärfere
| Transparenzregeln, besseren Whistleblower-Schutz. Man streitet darüber,
| ob alle Treffen mit Lobbyisten offengelegt werden müssen, ehemalige
| Abgeordnete eine «Abkühlphase» brauchen und verurteilte Kollegen ihre
| Pensionsansprüche verlieren sollten.
|
| Der SPD-Mann Geier warnt davor, wegen des Skandals gleich der ganzen
| Institution das Misstrauen auszusprechen. «Wo kriminelle Energie am
| Werke ist, hilft Ihnen auch die beste Regulierung nichts», sagt er, «da
| sollten wir auch nicht so tun, als könnten wir Korruption unterbinden.
| Was wir aber tun können, ist, diesen Leuten das Leben zu erschweren.»
|
| Geiers Chefin, die Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, versprach
| Mitte Januar feierlich, «das Vertrauen der europäischen Bürger
| wiederherzustellen» und «nichts unter den Teppich zu kehren». Dabei
| machte sie auch öffentlich, mehr als hundert Geschenke angenommen zu
| haben und zu gesponserten Reisen eingeladen worden zu sein. Die
| Geschenke gab sie bei der Parlamentsverwaltung ab. Und eine
| Gegenleistung für die Reisen, hiess es, habe es selbstverständlich nicht
| gegeben.
|
| Ob Metsola die glaubwürdigste Vorkämpferin im Antikorruptionskampf ist,
| bleibt abzuwarten.
+--- </hier abknabbern> ---
©<
https://www.nzz.ch/international/das-europaeische-parlament-kaempft-gegen-korruption-ld.1723897>
M.f.G.
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wird praktisch nie gelesen. Das MausNet ist nicht tot – es riecht nur
etwas komisch... ;-)