"Augusto Boal" im Knast in Schwerdte

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Fritz Letsch

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Dec 9, 2016, 3:58:54 PM12/9/16
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Geschlossene Vorstellung

Von Stefan Keim | Veröffentlicht am 04.09.2016 | Lesedauer: 7 Minuten

Der Pfarrer und Regisseur Dirk Harms inszeniert im Gefängnis Schwerte Theateraufführungen mit Strafgefangenen – und kämpft dabei mit ganz speziellen Herausforderungen

Elf Männer und eine Frau auf engem Raum. Auf Anweisung gehen manche schnell, andere langsam. Mittendrin Dirk Gunter Harms. Manchmal breitet er die Arme aus, gelegentlich schließt er die Augen. Er macht mit allen eine Konzentrationsübung, bevor die Probe beginnt. Es geht um die Wahrnehmung der anderen im Raum, um Aufmerksamkeit, Sensibilität. Besonders wichtig ist dies für die Leute, mit denen Dirk Harms hier Theater macht – Strafgefangene in der Justizvollzugsanstalt Schwerte.

Seit 20 Jahren inszeniert der evangelische Pfarrer Bühnenstücke hinter Gittern. Erst in Iserlohn, seit zwölf Jahren in Schwerte. Theaterlabor nennt er die Gruppe. Die einzige Frau im Ensemble ist Praktikantin Claudia Schäfer und schon zum zweiten Mal dabei. Sie studiert Theaterpädagogik und schreibt ihre Abschlussarbeit über Projekte mit Strafgefangenen.

Das Publikum besteht nur zu einem kleinen Teil aus Mithäftlingen und Angehörigen. Es gibt viele Fans, die zu jedem Stück kommen. Eine Premiere ist ein Ereignis in der Stadt, auch um Karten für die weiteren Vorstellungen muss man sich rechtzeitig bemühen. Denn Dirk Harms betreibt hier nicht nur Seelsorge mit anderen Mitteln. Er schafft Kunst, außergewöhnliche Theatererlebnisse, die es so nur unter den besonderen Bedingungen geben kann.

Geprobt wird gerade das Stück „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad. Es ist die Geschichte eines Geschwisterpaares. Nach dem Tod ihrer Mutter bekommen beide Briefe, die an ihren Vater und einen Bruder adressiert sind. Beide sind verschollen, sie sollen sie suchen.

So beginnt eine Reise in ein nicht näher benanntes Land des Nahen Ostens, zum Teil in der Gegenwart, zum Teil in Rückblenden. Diese Reise führt in eine Zeit von Krieg, Mord, Vergewaltigung und Willkür. Und zu schrecklichen Entdeckungen.

Handy und Portemonnaie bleiben im Spind, wenn man die JVA Schwerte betritt. In den Knast nimmt man nur das Nötigste mit. Doch kaum hat man die Kapelle betreten, ist der Gedanke an das Drumherum schnell vergessen. Das hier ist ein Theaterraum, die Mitspieler unterscheidet erst einmal nichts von anderen Gruppen. Die Stimmung ist konzentriert, ein bisschen Aufregung ist zu spüren, weil die Premiere näher rückt. „Müssen wir schon mit Hosen spielen?“ fragt einer. Also in vollem Kostüm? Ja, die Zeit der Andeutungen ist vorbei. Nun wird ernsthaft geprobt. Dirk Harms gibt diese Antwort mit einem kurzen Kopfnicken.

Dann kommt die Aufwärmphase, jeder macht mit, ohne Murren. Die Männer, die hier mitspielen, haben heftige Verbrechen begangen, einige wurden zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Es war nicht leicht, sie dazu zu bewegen, solche Übungen mitzumachen. „Es ist immer schwierig, an die Körperlichkeit von Gefangenen heranzukommen“, erzählt Dirk Harms, „ich versuche es oft durch die Hintertür, sie improvisieren zu lassen.“ Zum Beispiel, indem er einen eigentlich ernsten Text ins Lächerliche zieht und die Spieler damit provoziert. Einmal hat er einen Steinhaufen in die Mitte der Spielfläche gebaut, und die Darsteller mussten damit klarkommen, drumherum zu spielen.

Bewegung, Körperlichkeit, Offenheit – das sind zentrale Begriffe für Dirk Harms. „Neben der Theologie habe ich mich immer mit Ästhetik beschäftigt‘“, sagt er. „Ich habe Spiritualität nicht in der Kirche, sondern im Theater kennengelernt.“ Das war während seiner Zusatzausbildung zum Theaterpädagogen an der Akademie Remscheid. „Plötzlich war da etwas Unsichtbares im Raum, etwas vielleicht sogar Unfühlbares, etwas Anderes. Aber es war da.“ Ähnliche Erlebnisse kamen dann in Köln, wo Harms an der Theaterbühne Studio 7 mitarbeitete.

Theater ist für Dirk Harms die intensivste Form seiner Tätigkeit als Pfarrer. Das gilt nicht nur für Gefängnisse. Er berichtet vom Bericht einer Tänzerin im Film „Pina“ von Wim Wenders. „Wenn Pina Bausch vor der Vorstellung einen Satz an die Tänzerinnen richtet und sie im tiefsten Punkt erreicht, dann ist das Seelsorge. Und vor jeder Premiere bekommen die Spieler von mir ein Stück Schokolade und ebenfalls einen Satz.“ Diese Sätze trägt Dirk Harms oft schon Wochen und Monate mit sich herum. Aber er wartet auf diesen einen Moment. Weil seine Worte dann die größte Wirkung haben.

Dirk Harms lächelt oft, aber in diesem Lächeln liegt Schwermut, auch eine gewisse Traurigkeit. Er weiß genau, was er will, kann temperamentvoll und provokant sein, wirkt aber im Gespräch fast scheu. Auf keinen Fall ist er ein Schwadroneur, seine Antworten sitzen präzise, sind wohl überlegt. Warmherzigkeit geht von ihm aus, aber auch Distanz. Er öffnet sich bis zu einem gewissen Punkt, aber über den hinauszukommen, scheint schwierig zu sein. Der Mann hat Humor. Aber es ist der Humor von jemandem, der schon viele miese Dinge erlebt hat.

Auch wenn er abends wieder raus darf, verbringt er einen großen Teil des Lebens hinter Gittern. Er erlebt dort wunderbare Dinge, Gefangene, denen sich ein neuer Kosmos eröffnet, die dazulernen – aber auch das Gegenteil. Da werden Menschen, die auf einem guten Weg zu sein schienen, plötzlich kompliziert und schwer erreichbar. Gefängnisseelsorger – das ist kein einfacher Job. Dirk Harms macht ihn schon lange, er ist 59 Jahre alt. Was man ihm nicht ansieht, er hat immer noch etwas Jungenhaftes. Aber auch einen Schimmer von Weisheit.

Brasilien. Das ist der Ausgleich, das Traumland, die Leidenschaft. Vor 24 Jahren war Dirk Harms erstmals da und lernte Augusto Boal kennen. Einen charismatischen Theatervisionär. Boal hatte die brutale Militärdiktatur in Brasilien während der Siebzigerjahre erlebt und neue Formen entwickelt.

Das „Theater der Unterdrückten“ zum Beispiel. Die Zuschauer werden aktiv ins Geschehen einbezogen, es geht nie nur um die Vergangenheit, sondern auch um die Zukunft, die Aufführungen münden in Diskussionen. Die Unesco hat diese Theaterform als „Methode des gesellschaftlichen Wandels“ anerkannt. Hier liegt eine Grundlage für die Arbeit am Theaterlabor Schwerte. Auch wenn Harms mit der Zeit gegangen ist und seine eigene Form entwickelt hat.

Was ihn von vielen Partizipations-Projekten unterscheidet: Die Gefangenen erzählen nicht in erster Linie von sich selbst. „Wer im Gefängnis lebt,“ sagt Dirk Harms, „beschäftigt sich sowieso vor allem mit sich. Ich suche nach Geschichten, die aus diesem Horizont herausführen. Die Spieler können ihre Themen in anderen Personen wieder finden.“

Das ist im vergangenen Jahr gelungen mit einer starken Aufführung des Stücks „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz. Und – so zeigt es schon die Probe – es klappt auch diesmal mit „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad. Dirk Harms bringt oft Stücke, die gerade auch an den großen Theatern zu sehen sind. Er ist ein begeisterter Theatergänger, besucht viele Aufführungen gemeinsam mit seiner Frau, der Leiterin der JVA Schwerte.

Die Zuschauer sitzen auf Pappkartons in der Mitte, die Szenen spielen um sie herum. Die Band „Lost Souls“ sitzt am Eingang und unterfüttert die Szenen mit atmosphärisch starker Musik. Das im Original fast drei Stunden lange Stück hat Dirk Harms auf 70 Minuten gekürzt. Die Dialoge sind straff, es entsteht Raum für Bilder, Sprechchöre, den Auftritt eines stummen Clowns mit Maske. Das hat auch damit zu tun, dass dieser Spieler sein Gesicht nicht öffentlich zeigen möchte. Aber die Szene wirkt überhaupt nicht wie eine Notlösung, sie gibt der Aufführung eine besondere Note, besonders auch am Ende. Das ist die große Kunst von Dirk Harms. Er muss sich mit den Gegebenheiten abfinden und schafft auf dieser Grundlage starkes, packendes Theater.

Einige Spieler sind schon lange dabei und haben viel Erfahrung gesammelt. Nun steht das Theaterlabor vor einem Umbau. Einige dürfen raus, nach langer Zeit im Knast. „Ich spiel auf jeden Fall weiter Theater“, sagt Tercan, ein hochgewachsener, attraktiver junger Mann. „Herr Harms sucht schon nach einer Gruppe in Bochum für mich.“

Tercan hat viel gelernt in der Theaterarbeit. Konzentration, Durchhalten, das Gefühl, mal etwas Positives zu schaffen, etwas zu Ende zu bringen. Das gilt für viele seiner Mitspieler. „Herr Harms ist einfach ein toller Kerl“, sagt er. Der Gelobte lächelt, aber es ist wieder so ein Lächeln, hinter dem auch andere Gefühle stecken. Er weiß, dass es für jeden schwer ist, sich nach langer Haft draußen wieder zurechtzufinden. Und dass sich viele wieder verlieren. Aber manche eben nicht. Das ist die Hoffnung des Theaterpfarrers.

Aufführungen am 6., 16., 20., 24. und 27. September in der JVA Schwerte.

mit herzlichem Gruß, fritz


Fritz Letsch 
*Steinstr. 9, 81667 München mobil 0171-9976231*

Theaterpädagoge und Gestalttherapeut, politische Bildung
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