Dichterinnen und Dichter aus dem Erzgebirge

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Nov 16, 2005, 4:06:59 PM11/16/05
to Erzgebirge
Dr haam is dr haam

(Zuhaus ist Zuhaus)

Über erzgebirgische Dichter und Gedichte
aus Annaberg und Umgebung
Amalie von Elterlein - Carl Friedrich Döhnel - Christian Lehmann -
Heinrich Köselitz - Max Schreyer - Emil Müller - Hans Siegert - Bruno
Herrmann - Hermann Lötsch

Von Gotthard B. Schicker


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"Heit is dr Heilge Obnd, ihr Maad, kummt rei, mer gießn Blei... -
wird nahezu in jeder Erzgebirgsstube zur Weihnachtszeit nicht nur am
Heilgobnd gesungen. Manch einer weiß auch noch, dass dieses
"Heiligobndlied" von Amalie von Elterlein stammt, oft in der
Annahme, diese Frau sei in diesem Ort bei Annaberg geboren worden.
Vielmehr ist unsere Johanne Amalie Benkert am 27. Oktober 1784 in
Annaberg zur Welt gekommen. Erst im Jahre 1804 heiratet Amalie den
Erblehn- und Gerichtsherren Karl Heinrich von Elterlein auf Drehbach.
Also einen reichen Mann aus jenem Drehbach bei Wolkenstein, wo Pfarrer
Rebentrost vor fast 200 Jahren Krokusse in die Erde gesteckt haben
soll, die sich derart vermehrten, dass heutzutage während der
Blütezeit ganz Völkerwanderungen in Richtung Drehbacher-Krokuswiesen
zu beobachten sind. Die Gemeinde tut aber auch alles dafür, dass die
bunte Pracht im alljährlichen Blühen nicht erlahmt und steckt im
Herbst immer mal paar Zwiebel nach.

Unsere Liedermacherin stammt aus mittelständigen Verhältnissen, der
Vater war Kaufmann und betrieb einen kleinen Olitätenhandel. Später
zog sie dann in den Ortsteil Pfeilhammer in Pöhla, wo übrigens auch
das "Heiligobndlied" um 1830 entstanden sein soll. Noch immer
streiten sich Heimatforscher darüber, ob dieses nahezu 150 Strophen
umfassende Weihnachtslied tatsächlich eine Dichtung der Amalie von
Elterlein sei. Möglicherweise stammen die ersten fünf bis zehn
Strophen wirklich von ihr, zumal hier eine geschlossen inhaltliche
Thematik sowie eine große Übereinstimmung im Versmaß nachgewiesen
werden kann. All die anderen 140 Strophen sind in den Jahren danach von
Volksängern aus allen möglichen Gegenden und aus den
unterschiedlichten Anlässen dem Lied angehängt und teilweise dann
auch unserer Amalie aus Annaberg (nicht selten verunstaltet
"modernisiert") untergeschoben worden.

Sie starb am 20. November 1865 in Schwarzenberg, übrigens in dem Haus
in dem fast 100 Jahre später eine der berühmtesten
Schwarzenbergerinnen fast 20 Jahre wohnte: Elisabeth Rethberg, die
"Erzgebirgische Nachtigall" und gefeierte Opernsängerin auf allen
großen Bühnen der Welt.

Von der Amalia von Elterlein ist, außer ihrem volksnahen
Tschumperle-Lied, keine andere poetische Äußerung bekannt. Für alle,
die die heimliche "Hymne des Erzgebirges" (natürlich neben dem
"Feirobnd-Lied von Anton Günther) noch nicht kennen, hier die ersten
Strophen in der Originalversion (mit einem kurzen angehängten -
letztlich untauglichen - Übersetzungsversuch der beiden ersten
Strophen für Nicht-Erzgebirger):

Dr Weihnachtsheiligobnd

Heit is dr Heilge Obnd, ihr Maad,

kummt rei, mer gießn Blei;

Rik, laaf geschwind zer Hanne-Krist,

die muß beizeiten rei.

Ich ho menn Lächter agezündt,

satt nauf ihr Maad, die Pracht!

Do drübn bei eich is´s aah racht fei,

ihr hatt e Sau geschlacht.

Satt a, ihr Maad, dos rare Licht

Fer zweeazwanzig Pfeng,

ich muß meins in e Tippel stelln,

mei Lächter is ze eng.

Kar, zünd e Weihraachkarzel a,

doß´s nooch Weihnachten riecht,

un stell´s hi of dan Scherbel dort,

daar unterm Ufn liegt.

Lott, dortn of dr Hühnersteig,

do liegt men Lob sei Blei;

Mad, rafel när net su dort rüm,

sist wird de Krinerts schei.

Denn´s Masvolk hot sei Frahd an wos,

sei´s aah, an wos när will;

mei Voter hot´s an Vugelstelln,

dr Kar daar hot´s an Spiel.

Iech gieß fei erscht, wan krieg ich do?

Satt a, enn Zwackenschmied.

De Karli lacht, die denkt wuhl gar,

ich maan ihrn Richter-Fried?

Mer haben aah sachzen Butterstolln,

su lang wie de Ufenbank;

heit wird emal gefrassen waar,

mir waarn noch alle krank.

(Der Weihnachtsheiligabend

Heute ist der Heilige Abend, ihr Mädchen,

kommt herein, wir gießen Blei:

Friedericke, lauf schnell zur Hanne-Christel

Sie soll zeitig rüber (herein) kommen.

Ich habe meinen Leuchter angezündet,

schaut hinauf, ihr Mädchen, diese Pracht!

Da drüben bei euch ist es auch recht fein,

ihr habt eine Sau geschlachtet...)

* * *

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Noch etwas älter als die Frau von Elterlein ist Carl Friedrich Döhnel
(aber Damen haben/hatten eben Vorrang bei den Vorstellungen, zumindest
im alten Erzgebirge, und übers Alter spricht man auch bei
Erzgebirgerinnen nur in solchen Rezensionen). Auch sein Vater war
Kaufmann und Handelsherr, allerdings ein etwas begüterterer als der
von Amalie. Seine Wiege stand im schönen Schneeberg, dort ist er am
12. Juni 1772 zur Welt gekommen. Döhnel studierte Rechtswissenschaft
(vermutlich in Leipzig), promovierte zum Dr. jur. Um 1800 finden wir
ihn dann im kleinen Ort Wiesenburg bei Zwickau wieder, wo er eine
bescheidene Anwaltskanzlei betrieb und als Notar rund um Zwickau tätig
war. Er starb in der Robert-Schumann-Stadt am 28. Juli 1853.

Obwohl er (als Rechtsanwalt war das wohl notwendig) hochdeutsch
schrieb, sind ein paar seiner Gedichte auch in erzgebirgischer Mundart
bekannt geworden. Mann muss wissen, dass das Erzgebirgische erst zu
Beginn des 19. Jahrhunderts quasi salonfähig wurde und den Weg von der
derben Volkssprache auf purer Kommunikationsebene auch in die
Volkspoesie und später dann auch in die Heimat-Literatur und ins
Liedgut fand. So gesehen kann Carl Friedrich Döhnel zu den
Mitbegründern der erzgebirgischen Mundartdichtung gerechnet werden.

Am bekanntesten ist wahrscheinlich sein achtstrophiges Gedicht "´s
gebirgische Maadl", das er 1819 - vermutlich als Widmung an seine
Frau, die aus armen Verhältnissen stammte - geschrieben hat
(erstmals 1839 als mündliche Überlieferung, ohne Autor, im
"Sächsischen Bergrreyhen" in Grimma gedruckt) und von dem hier die
ersten drei Strophen als Kostprobe wiedergegeben werden sollen:

´s gebirgische Maadl

Ich bi e gebirgisches Maadl,

bi munner, net falsch un aah gut,

dreh flessig ben Klippeln mei Faadl,

su arm ich bi, ho ich doch Mut`

Ho Ardäppln när of men Tischl,

Kaa Schminkele Butter derbei,

doch bi ich gesund wie e Fischel

un breng aah kenn Doktor niischt ei.

´n Sunntig, do därf ich mich putzen,

do här ich de Predigt erscht a,

nooch gieh ich zun Schwasterle hutzen,

wie gucken mer alle uns a! (...)

* * *

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Natürlich können wir mit einem noch älteren Poeten aus unserer
Gegend aufwarten, obwohl er weniger Gedichte verfasst hat als viel mehr
als Chronist und kenntnisreicher Volkskundler des Erzgebirges in die
"Erzgebirgs Annalen" - wie auch eine Schrift von ihm heißt -
eingegangen ist. Christian Lehmann wurde am 11 November 1611 in
Königswalde, ganz nahe bei Annaberg, in eine Pfarrersfamile - in der
es schon acht Kinder gab - hineingeboren. Auch er wurde Pfarrer. Aber
davor besuchte er noch die Fürstenschule "Sankt Afra" in Meißen
(1622-1625), taucht im Kirchenchor in Halle auf, ist als Schüler 1628
in der Stadtschule in Guben registriert, 1631 findet sich eine
Eintragung im Schulregister von Stettin und ab 1633 hat er die Stelle
eines Diakons in Elterlein inne. Ab 1638 ist er dann Pfarrer in
Scheibenberg, eine Position, die er bis zu seinem Tode am 11. Dezember
1688 begleitet.

Die Scheibenberger Zeit ist auch im Hinblick auf seine volkskundlichen
Forschungen sowie seiner landeschronologischen Arbeiten die
produktivste. In Scheibenberg ist auch sein wohl wichtigstes Werk
entstanden, der "Historische Schauplatz des Obererzgebirges", der
allerdings erst nach seinem Tode, 1699 in Leipzig erschienen ist.

Viel ist von seinem sonstigen Werk nicht erhalten. Man vermutet mehr
als 100 Briefe, in denen er Erzählungen in erzgebirgischer Mundart
untergebracht hat. Aber sie sind bis heute nirgends wo aufgetaucht.
Erhalten blieb ein Schriftstück, das offenbar Teil eines
Theaterstückes gewesen ist und das Prof. Helm aus Marburg 1916 in der
Hessischen Landesbibliothek unter den Briefen (die es bis dahin
offensichtlich noch gab) fand. Es handelt sich dabei um ein Gespräch
in (alt)obererzgebirgischer Mundart zwischen Leuten vom Dorf,
vielleicht sogar welchen aus Königswalde.

Von Christian Lehmann wurde diese derbe Bauernsprache seiner Heimat als
leicht latinisiertes "Dubenroismi" bezeichnet, was Dr. Sieber zu
der Annahme verleitet, dass es sich dabei um "Ich bin von droben ro
(runter)", also das Pentand zu "Ich komme vom Gebirge her..."-
handel könnte. Manfred Blechschmidt hat es dann auf "Von drubn ro"
verkürzt, während sich K. Rösel in den "Sächsischen
Heimatblättern", Dresden 1961, für "Dubenroisches Gelatsch"
entscheidet, wenn er über dieses wichtige erzgebirgische
Sprachfragment schreibt.

Es soll hier nur ein Satz dieser für heutige Lesegewohnheiten
komplizierten Lehmannschen Transkription wiedergegeben werden, den der
"Berg-Toffel" zum "Puusch Görg" sagt:

"Je, dass dich dä Rooben, host denn äben derrothen! Wenn e armer
Schwiz ä Tholer drezze hot nein gebaut, un de starken Gewärcken
springe o, sä muß wohl ennlich in de Est spalten. Unner
Schichtmäster is ä erberer Zeßig. Er iß när noch äppere ä paar
böhmesche Gulden schüllig, ober är hudelt mich off dä thauer..."

* * *

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Handelt es sich bei den oben genannten Schreiberlingen um mehr oder
weniger bekannte Namen, so sollen jetzt ein paar folgen, die weniger
oder aber in anderen Zusammenhängen bekannt sind. Da wäre zuerst
Heinrich Köselitz zu nennen, der am 10. Januar 1854 in Annaberg
(natürlich im bekannten Haus am späteren Köselitz-Platz beim
Schutzteich) geboren wurde und dem sein künstlerischer und
ideologischer "Ziehvater" Friedrich Nietzsche den Namen Peter Gast
verpasste.

Unter diesem Namen hat er nicht nur Vorworte zu den Werken des großen
deutschen Philosophen verfasst, sondern auch Gedichte in Hochdeutsch
geschrieben, die z.T. von Nietzsche vertont wurden. Unter seinen
längst vergessenen Werken befand sich auch eine Oper namens "Der
Löwe von Venedig", die er selbst komponiert hatte und die letztmalig
1936 im Chemnitzer Opernhaus zur Aufführung kam.

Weniger bekannt sein dürfte, dass "Nietzsches liebster Gast" (wie
ich mal einen ausführlichen Text über den weltläufigen Annaberger
betitelt hatte), natürlich dann unter dem Namen Köselitz der
Herausgeber der "Gedichte und Geschichten in erzgebirgischer
Mundart" war und selbst so genannte Schnurren schrieb. Im Jahre 1900
erschien ein Bändchen (wahrscheinlich das einzige) mit seinen kleinen,
frechen und lustigen erzgebirgischen Texten.

Nach einem unruhigen Leben zwischen Italien, der Schweiz und
Deutschland starb er am 15. August 1918 in seinem immer wieder gern
besuchten Annaberg. Die Beschäftigung mit diesem ungewöhnlichen
Erzgebirgs-Menschen lohnt sich, es wird demnächst eine größere
Abhandlung über das Leben von Peter Gast veröffentlicht werden. Für
den jetzigen Zweck soll zunächst der Abdruck seiner Schnurre "Dr
Baasenbinder" (1895) genügen:

Dr Baasenbinder

Wenn uneraans of en Barg stieht: über sich ne Himmel, unner sich de
ganze Harrlichkaat - Städt, Flüss un Waller un klennere Barg - , do
ka mer sich mannichsmol net losen ver Lust, mer muß de Händ
ausbraaten un schreie oder e paar Wörter reden oder gar enn Porzelbaam
schlogn!

Annere tunne sich wieder annersch aus in ihrer Freed.

Do derbei fällt mer dr Barmsgrüner Baasen-Traugott ei. - Wie daar
ne Baasenhannel afing, ging er mit´n Baasn of´n Buckl hausiern;
spöter er sich es Waagel mit enn Hund zuOf de Letzt kunnt´r sich
sugar enn Letterwogn un e Pfaar aschaffen - su tat sei Hannel
flacken!

"Nu wird oder gelei bis of Leipzig gefahrn!" sat er do bei sich un
machet aah richtig mit enn ganzen Fuder Baasen über Schwarzenbarg,
Grühaa, Zwänz, Stollbarg nei nooch Penig un Borne bis
Liebertwolkwitz. Wie er nu dorten de Ahöh nausgelästert kam un in dr
ProbsthaiderGegnd of aamol dos ugeheire Schlachtfald sohch, wu schu dr
Napolion hatt Leipzig unten liegn saah, do wur´sch ne ganz grußartig
üms Herz rüm. Er hielt a, knallet mit dr Peitsch, doß de ganze
Schmitz in Franzen ging, un schrier, wos zun Maul raus kunnt: "Na
Leipzig! - Wenn - de - Gald - hast: Baasen - sei - do!"

* * *

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Nahezu weltweit bekannt ist sein Lied, aber vom Autor und
gleichzeitigen Komponisten kennen nur Eingeweihte den Namen. Oder wer
weiß schon, dass "Dr Vugelbeerbaam" von Max Schreyer stammt
(übrigens: "Dr" heißt im Erzgbirgischen "Der" und ist nicht
die Abkürzung von Doktor, - aber vielleicht gibt es ja einen Dr.
Vogelbeerbaum). Von Schreyer also, jenem späteren Oberforstrat, der am
7. September 1845 in Johanngeorgenstadt geboren wurde, die Realschule
in Annaberg und Chemnitz besuchte, bevor er an die Forstakademie nach
Tharandt ging und von da an Förster und Forstmeister an verschiedenen
Stellen des Erzgebirgswaldes war.

Zuletzt lebte und arbeitete er viele Jahre in Großpöhla bei
Schwarzenberg, bis er am 27. Juli 1922 in Pulsnitz starb. Schreyer war
in seinem Volkskünstlerischen Schaffen recht produktiv. Aber von all
seinen Gedichten, Liedern, Erzählungen und einem Schwank in
erzgebirgischer Mundart sowie einem Schauspiel in Hochdeutsch ist nur
das Lied vom Vogelbeerbaum (sein langes Lied von "De Schwamme"
kennt kaum noch jemand) bekannt geblieben. Allerdings musste er
regelrechte Kämpfe ausstehen, weil man ihm die Urheberschaft am Text
streitig machen wollte. Der Heimatforscher F.H. Löscher kümmert sich
aber um diese Anschuldigungen, die da unter anderem lauteten, dass es
diese Melodie und auch diesen Text schon viel früher gegeben haben
sollte, während Schreyer das Gegenteil beteuerte und betonte, dass
sowohl Text als auch Melodie von ihm stammen.

Erst nach seinem Tod konnten alle Zweifel über die Autorenschaft Max
Schreyers am "Vugelbeerbaam" zerstreut werden. Heute kennt man das
Lied weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Mitunter wird immer
noch behauptet, dass es aus dem Reinland komme, oder aus der Pfalz,
oder aus... - nein, es kommt aus den Wäldern des Erzgebirges, wo
unser Max Schreyer von einer prächtigen Eberesche zum schreiben seines
einmaligen "Vugelbeerbaam" (1887) angeregt wurde.

Und wer heute an Schreyers Grab auf dem Friedhof von Pulsnitz kommt,
der kann sehen, wie sein "Letzter Wunsch", den er im Lied (vierte
Strophe) ausgedrückt hat, von Getreuen aus seiner Heimat tatsächlich
erfüllt wurde:

"Un wenn iech gestorbn bi

- iech waar´sch net derlaabn -

do pflanzt of menn Grob fei

enn Vugelbeerbaam"

* * *

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Man muss nicht drumrum reden, aber einige Autoren, die heutzutage
vergessen sind, haben es auch so verdient. Die Grenzziehungen zwischen
Kitsch und Kunst sind bei der Volksdichtung mitunter sehr kompliziert.
Zumal noch immer nicht hinreichend geklärt ist, wo für den einzelnen
- und um eine individuelle Betrachtungsweise kann es sich zunächst
nur handeln - der Kitsch aufhört und die Kunst beginnt; oder
umgekehrt. Viele eigene Erfahrungen, emotional Erlebtes oder auch durch
die Zeit Verklärtes sowie die sozialen Umstände, die Herkunft und der
Bildungsstand fließen in die Beurteilung solcher ästhetischer
Kategorien mit ein und prägen die Maßstäbe sowie das
Beurteilungsvermögen des Individuums.

Der am 27. Mai 1863 in Annaberg geborene Emil Müller (gestorben
20. November 1940) ist dabei nicht der einzige "Grenzfall". Seine
Gedichte sind durchaus dem Leben abgelauscht und mit sprachlichem
Talent in Verse gebracht, die uns noch heute angenehm berühren. So
etwa, wenn er "De klenn Gassln" (1940) in einer nahezu
hexametrischen Form bedichtet und eine Idylle von Abgeschiedenheit und
Ruhe beschreibt, die sowohl romantisierend-kitschig gewertet werden
kann, aber genau so als eine realistisch-colorierte Momentaufnahme
anschaubar ist, wie sie nahezu jedem von uns in unseren kleinen
Heimatstädten begegnet ist, oder wonach sich unser vom Lärm der
Großstadt strapaziertes Gemüht von Zeit zu Zeit sehnt - und das
nicht nur zur Weihnachtszeit.

Dieses Gedicht war übrigens Emil Müller letztes Werk bevor er
starb, und das er Angesichts des großen Dresden seiner kleinen
Heimatstadt Annaberg widmete. Müller kam aus einer
Posamentenmacher-Familie und konnte in Annaberg sowohl die Schule als
auch das dortige Lehrerseminar besuchen. Er war dann ein Leben lang
Lehrer und später Oberlehrer in Annaberg, Ehrenfriedersdorf,
Schönefeld, Leipzig und Dresden.

Oder schauen wir uns sein bereits 1909 geschriebenes
"Wiegnliedl" an, das mit seinen vier Strophen an die deutsche
romantische Wiegenliteratur in gekonnter Weise anschließt und sie
sogar in der Mundartdichtung des Erzgebirges fortsetzt und damit
aufhebt. Außerdem gehört Müllers Wiegenlied zu den wenigen innerhalb
dieser Literaturgattung, die das Kind geschlechtsneutral ansingen und
darüber hinaus das Lied, oder Gedicht, auch noch von beiden
Geschlechtern gesungen bzw. gesprochen werden kann (obwohl ihm in einer
Fassung ein "Hansele" untergeschoben wurde, steht im Original
"Mei Kindele").

Schließlich sind die meisten Wiegenlieder so gedichtet, dass sie
nur von der Mutter dem Kind ins Ohr gesäuselt werden können. Ich
kenne nicht wenige Väter, die ihren Kindern deshalb reine
"Mutterlieder" an der Wiege gesungen haben, - falls sie dort
überhaupt gesungen haben... Deshalb scheint es mir nützlich - nicht
ohne einen Hinweis auch auf den Erzähler und Volkstückeschreiber Emil
Müller zu geben - hier sein "Wiegnliedel" aufzuschreiben:

Susuu, susuu -

Mei Kind deck de Baanele schie zu!

Sist möchte aans ne eiskalten Schneema reiführn,

daar tut alle nacketen Füsseln derfriern.

Mei Kindele oder - susuu - - ,

dos deckt sich de Strampeln schie zu.

Susuu, susuu -

Mei Kind, mach de Guckeln hübsch zu!

Dr Rupperich lauscht fei, un wan´r derwischt,

dan markt er sich nochert un brengt´n dann nischt.

Mei Kindele oder - susuu - - ,

doa macht seine Guckaagn hübsch zu.

Susuu, susuu -

Kinnel, dos hält itze Ruh!

Un wenn dann heit obnd fei es Graamannele kimmt,

dos alle de uartign Kinner mietnimmt,

Mei Kindele kriegt es net - susuu - - ,

dos hält itze schie Ruh.

Susuu, susuu -

Mei Kinnel, mei guts, schlof zu!

Un tram vu Rosining un Zuckerzeig viel,

Vu Hundeln un Schaafeln un allerhand Spiel.

Mei Kindele schlöft - susuu - - ,

un iech ho derweile ze tu.

* * *

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Auch einer, dem das schöpferische Klima auf dem Annaberger
Lehrerseminar gar nicht schlecht bekommen sein dürfte, ist der am 17.
Januar 1868 in Hammerunterwiesenthal geborene Hans Siegert, der bei
seinen Großeltern im Forsthaus von Tellerhäuser (bei Oberwiesenthal)
aufwuchs und dort, in der waldreichen Umgebung, seine ersten Eindrücke
sammelte, die sich später in seinem Werk wiederfinden. Nach Beendigung
seines Lehrer-Studiums (1882-1888) in Annaberg bekam er im benachbarten
Buchholz eine Anstellung als Hilfslehrer. Am 1891 finden wir ihn dann
als Lehrer und später als Schuldirektor in Leipzig wieder, wo er auch
am 6. Juni 1941 starb.

Siegert ist nicht nur wegen seiner zahlreichen Gedichte,
Erzählungen, Theaterstücke (in Mundart und Hochdeutsch) einigermaßen
bekannt geworden, sondern insbesondere auch wegen seiner
volkskundlichen Arbeiten, in denen er sich auch für die Förderung der
erzgebirgischen Mundart einsetzt. Obwohl Hans Siegert bei den
Großeltern aufwuchs, kommt doch sein inniges Verhältnis zu seiner
alten Mutter wohl am besten in seinem Gedicht "Mei Mutter schlöft"
(1925) zum Ausdruck. In der letzten Strophe - nachdem er die
"tausend tiefen Falten" in ihrem Gesicht besungen hat - scheint gar
so etwas wie eine religiöse Mutterverehrung durchzuschimmern wenn er
dichtet: "Mei Mutter schlöft! Dos heilge Bild, dos will ich lang
behalten!"

Seine Naturverbundenheit sticht in vielen seiner Gedichte hervor,
aber insbesondere im "Frühgahr" (1941):

Dr Frühling is kumme,

su hobn se geredt,

ja afange tat er,

ober da war er net

Nu is er gekumme

Weit haar über Nacht,

hot alles verännert,

verzaubert mit Macht.

Ich salber,

ich bi e ganz annerer Ma,

dos hot mer dr Frühling

allaa ageta.

Ich fühl´s in dr Nos,

ich fühl´s in dr Brust:

Ich ho wieder orndlich

De Schnupp n de Hust.

* * *
* nach oben

Dass selbst Bürgermeister im Erzgebirge zu Dichtern berufen
sind, soll das nächste Beispiel zeigen. Bruno Herrmann heißt der
Mann, und er war ab 1900 seines Zeichens Bürgermeister in Lauter,
später dann hier auch Kammerrat, was sich wesentlich vom Kamerad
unterscheidet, der aber durchaus gewesen sein soll.

Geboren ist er allerdings im schönen Königswalde nahe dem noch
schöneren Annaberg am 16. Dezember 1870. Er setzte nach seiner Zeit
als Bürgermeister das Handelsgewerbe, das bereits sein Vater betrieb,
in Leipzig fort. Bevor er am 1. Dezember 1927 dort starb legte er aber
noch fest, dass er in Lauter begraben sein wolle, was dann auch
geschah.

Hinterlassen hat uns Bruno Herrmann (bitte immer mit zwei
"r") ein Bändchen mit seinen Dichtungen, das ein Jahr nach seinem
Tode erschien, sowie ein paar Erzählungen in erzgebirgischer Mundart.
Erhaltenswert von seinen Gedichten scheint mir nicht nur die ach so
wahre Überschrift "Dorten ubn sei mir derham" zu sein, sondern
auch die Bestätigung, die sie durch die weiteren Strophen dieses
Tschumperle-Liedes erfährt:

Wu sich Sachsen grenzt mit Bähme,

Barg un Waller schockweis stieh,

hunnert Bachle munner rauschen,

Blümle uhne Zohl still blüh,

dorten gibt´s e lustigs Laabn,

dorten gibt´s e lustigs Laabn,

nirgnst aah is de Walt su schie,

uns zieht´s nooch dr Haamit hi. (...)

* * *
* nach oben

Die immer mal wieder zu hörende Behauptung, dass Literatur über
das Erzgebirge und seine Bewohner nur von denen produziert werden kann,
die zeitlebens körperlich ihrer Heimat verbunden bleiben, weil sie nur
dann auch sinnlicher erfahrbar sei, wiederlegt der Annaberger Hermann
Lötsch gründlichst. Natürlich hat er während seiner Tätigkeit in
Annaberg, Altenberg, Eibenstock und Ölsnitz die unmittelbaren
Eindrücke aus seiner Heimat verarbeitet und in Gedichten, Liedern und
Erzählungen wieder gegeben. Aber selbst währen seines Studiums oder
seiner Aufenthalte in Mainz, London, Paris und Grenoble versiegte seine
spezifische Art, an die Heimat zu denken, keineswegs. Man kann
sicherlich nicht behaupten, dass das Gegenteil eingetreten wäre, wie
bei so manchem, der sich aus der Heimat entfernt hat, aber seine
literarischen Äußerungen sind in der Fremde niemals ganz versiegt.
Schließlich sind es die Kindheitsprägungen, die lebenslänglich
nachwirken.

Hermann Lötsch ist am 18. August in Annaberg geboren, hat dort
auch die Schule besucht und war nach seinem Studium zunächst
Hilfslehrer in Gelenau und Geyer, bevor er in die weite Welt hinaus
wanderte, um 1943 (Datum nicht bekannt) als Studienrat in Lübeck zu
sterben.

Von seinen Werken ist vielleicht - neben seinen
Mundarterzählungen, die häufig die Schule oder die Schulzeit zum
Thema haben - die Ballade von der "Geisterstund of´n
Schrackenbarg" (bei Annaberg) das Interessanteste, die aber wegen
ihrer Länge hier nicht wiedergegeben werden kann.

* * *

(Wird fortgesetzt! Um Hinweise und Ergänzungen zu den
Kurzeinschätzungen der Dichter und Gedichte wird gebeten)

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