Lieber Rolf,
Sie sind frustriert, kann ich verstehen, Sie möchten etwas in Bewegung setzen, was nun mal nicht geht: Die Vereinigung des Unvereinbaren. Sie wollen – bewusst oder unbewusst – die Welt der Techniker, also die Welt der erfolgreichen Macher, die in ihren Ergebnissen immer eine endliche Welt ist, zusammenbringen mit der Welt der Denker, die eine undendliche Welt ist mit imaginären Möglichkeiten. Was Sie vereinigen wollen, damit am Ende eine vereinbarungsfähige Klarheit herauskommen soll, ist auf der einen Seite der Funktionalismus, wie auch Luhmann einen anbietet, und der von den Philosophen Konstruktivismus genannt wird, und auf der anderen Seite steht der alteuropäische ontologische Realismus, der eine Welt postuliert und voraussetzt, an die wir kleinen endlichen Wesen, die wir im gelebten Leben mitten drin stecken, gar nicht herankommen, weil wir immer nur sehen können, was wir sehen, was wir mit unseren Wahrnehmungen eben wahrnehmen und am Ende immer – durch die Externalisierungen unseres armen Gehirn verführt – dann als „wahr“ annehmen. Mehr bleibt uns eben nicht übrig.
Das Sie das Glück hatten, diesen seltsamen großen Mann und singulären Denker Georg Spencer Brown leibhaftig drei Tage lang durch Zürich zu führen, haben Sie aber uns allen bis heute verheimlicht. Dass Sie das berührt und im Inneren gewiss auch verändert hat, kann ich mir lebhaft vorstellen. Was muss das für ein Mann sein, von dem die einen sagen, er sei ein begnadeter Mathematiker gewesen, und den andere für einen Spinner gehalten haben. Ein ambivalenter Mann und Mensch also, einer der zwei so verschiedene Sorten Bücher schreiben konnte wie „Die Gesetze der Form“ auf der Kalkülseite der Mathematik und die beiden Bücher „Das Spiel geht nur zu zweit“ und „Löwenzähne“ auf der Seite der Kontemplation. Dass es ihn selber immer hin und her gerissen hat zwischen diesen beiden Weltsichten, zeigt dann sein letztes Buch „Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft“. Eine kluge Frau, Sylvia Taraba, hat versucht, sich in zwei Schritten dieser oszillierenden Weltsicht auflösend, erkennend, einsehbar, mit den Mitteln der Deduktion zu nähern. Das Buch heisst „Das Spiel, das nur zu zweit geht“ (im Carl Auer Verlag, 2005). Das ist der erste Band ihres Klärungsversuches. Man wird nicht sagen dürfen, sie sei gescheitert. Dirk Baecker hat ihr in seinem liebevollen und liebenswürdigen und sehr einfühlend höflichen Vorwort auch bescheinigt, sie habe das hier Machbare tatsächlich gemacht. Er hat aber auch – beschwichtigend – angedeutet, das es wahrscheinlich eines zweiten Bandes gar nicht mehr bedürfe, eben weil sie, die Dame Taraba, das zu sagen Mögliche ja gesagt habe. Ihr angekündigter zweiter Band ist auch nicht erschienen. Das Tarababuch hat den überraschenden und ungewöhnlichen Untertitel „Die seltsame Schleife von Sex und Logik“. In ihrem ersten Band beschränkt sie sich aber auf die Logik und spricht noch nicht vom reichen Reich des Sexes. Deshalb heisst der Untertitel des ersten Bandes, der also ein Untertitel des obigen Untertitels ist: „Band 1: Logik; Eine Logologik der >Gesetze der Form< von Georg Spencer Brown“.
Nun kann ich unmöglich das gesamte Vorwort des Dirk Baecker zu diesem Buch hier zitieren. Es ist aber – gerade im Zusammenhang unseres Themas hier, die wahren Differenzen einzufangen – sehr informativ und zur Sache, die allem zugrunde liegt, sehr aufschlussreich. Ich kann nur empfehlend darauf hinweisen. Baecker weist hin, wenn es um Sex und Logik geht, also auf die grosse Differenz zwischen dem Menschlichen, dieser Mischung aus Körperlichem und Geistigem, und seinem Produkt, eben der Logik, auf „…das Ungenügen großer Theorien von der Psychoanalyse über die Philosophie bis zur literarischen Theorie.“ Dieses Ungenügen konnte auch Spencer Brown nicht beseitigen. Wenn er – nach ihrem Zeugnis – gesagt hat, wir wüssten eben nichts als Mathematik, und wer irgendetwas anderes wisse oder behaupte, der sei ein Idiot. Nun ist idiotes der Privatmann, jener Weise, der in Athen nicht auf den Marktplatz geht, sich nicht auf die Agora begibt, dieses Streitplatzes des Wortstreites, der nicht in die Rostra steigt um mehr oder weniger dogmatisch seine Meinung zu sagen. Dem privatisierenden Idioten dieser Sicht kümmert der ewige Streit der Politik nicht, weil er zu wissen glaubt (sic), dass es zwischen Denken und Fühlen keine artikulierbare Brücke gibt. Wer fühlt, der kann mit sich stets im Reinen sein. Deshalb sollte man auch niemals über Religion und Gott reden. Wenn man solchen schwer denkbaren Welten fühlend nahe ist, dann ist schon alles in der Ordnung, die der Mensch anstrebt und braucht. Spencer Brown hat tatsächlich recht: Ausser der Mathematik, die als Konstruktion allein unser Werk, das Werk des Menschen ist, besitzen wir an Wissen gar nichts. Und was ist diese Mathematik? Auch nur eine große Erzählung, sogar die allergrößte. Denn die Mathematik ist mindestens so undurchschaubar wie die Welt und das Universum es auch sind. Die Mathematik ist reines Menschenwerk und dennoch – scheinbar – so verblüffend exakt, dass die Techniker. Die Macher also, immer glauben, die Mathematik bilde die Welt ab, weil so mancher Zahlenzauber, bis hin zur Gruppentheorie und Topologie und der Statistik mit ihrem Gesetz der großen Zahl und mit ihren Verwegenheiten des Unendlichkeitskalküls so verblüffend oft zu passen scheint auf die empirischen Ergebnisse. Darüber soll sich sogar Einstein gewundert haben. Aber die Exaktheit der Mathematik ist – im Großen gesehen – auch nur ein Trugschluss, ein menschlicher eben. Das zeigt doch die sogenannte Mathematikkrise von 1900, die leider bei den meisten in Vergessenheit geraten ist: Die Mathematik hat kein Fundament, sie hängt mit ihren gesetzten Prämissen als unbeweisbare Axiome vollkommen in der Luft. Auch die Mathematik hat die zwei Streitparteien hervorgebracht: die Axiomatiker und die Intuitisten. Deshalb haben sich französische Mathematiker zusammengeschlossen zu einem Pseudoautor, den sie als ihren idealen Gesamtmathematiker dann Bourbaki nennen. Und Bourbaki hat festgestellt: Nichts lasse sich feststellen. Soviel zur Mathematik als der einzigen wahren Quelle des Wissens.
Ob die Linie Wiener, Bateson, Förster, Maturana wirklich EINE Linie ist, darf füglich auch bezweifelt werden. Nehmen wir nur den herausragenden Heinz von Förster, der nun alles war: Ein Physiker, ein Mathematiker, ein Physiologe, ein Rechner und Errechner, ein Kybernetiket, aber in der spezifischen – idiotischen = privaten – Sonderform des Kybernetiker zweiten Grades. Und dieser zweite Grad, als Ausweis der Reflexion über die Reflexion, der sagt schon alles. Sie, lieber Rolf sprechen abschätzig über die „Rhetorik der Sklavenhalter“. Das ist recht und billig, wenn sie das politisch meinen. Alle Regierenden, also alle Mächtigen, auch die mächtig von uns zur Macht Beauftragten, sie agieren alle mit einer Schweine-Rhetorik um uns, das Volk, kleinzuhalten. Aber nur, weil auch die Mächtigen sich der Rhetorik bedienen, darf man die Rhetorik nicht gering schätzen, weil sie eben alles ist, was wir haben. Alles ist Rhetorik, also Gesagtes (und dann eben leider auch geschriebenes, wie Plato schimpfte), und alles Gesagte kann eben immer auch anders gesagt werden. Die Rhetoren von Athen, die sich für dieses (ihr) Wissen bezahlen liessen, die ersten Intellektuellen also, deren Wissen nichts weiter war als eine (vergängliche) FORM im MEDIUM der Intellektualität, diese intellektuellen Rhetoren waren keine Schweine. Sie waren ja die Aufmüpfigen. Deshalb hat sie Platon, der Autor von „Der Staat“, so gehasst. Streng genommen war Platon nämlich ein unbelehrbarer Dogmatiker. Er wollte in seiner Akademie nur im Gehen reden und lehren, alles mit der schönen Ideologie, falls einer etwas nicht verstanden haben sollte, dann könne er ja bei ihm, dem Meister, zurückfragen. Der Meister nämlich, der würde sich dann schon „herausreden“. So gesehen war nämlich er selber, der schöne Herr Plato, ein Erz-Rhetoriker selber, denn er wollte sich nicht festlegen lassen. Deshalb hat er so obstinat auf das Teufelswerk der Schrift geschimpft. Seitdem verbieten alle Diktatoren die Bücher, die ihnen nicht genehm sind. Und deshalb hat Dirk Baecker im letzten Satz seines Vorwortes zu „Form und Formen der Kommunikation“ klargestellt, „…warum bei aller Bewunderung immer auch verdächtig ist, wer sich auf die Kunst der Rede versteht.“ DIE KUNST der Rede, bitte sehr, nicht die Wissenschaft der Rede, die gibt es nämlich nicht, trotz aller seit über zweitausend Jahren überlieferten Regeln der Rhetorik.
Weil es bei dieser Länge schon nicht mehr darauf ankommt, noch ein abschliessendes Zitat von Baecker aus seinem Vorwort zum Taraba-Buch: „Im unruhigen Zentrum des vorliegenden Buches steht die Theorie des imaginären Wertes, die mit den philosophischen, logischen und mathematischen Mitteln so genau erläutert wird, dass das Buch mit Fug und Recht als eine umfassende Einführung in dieses Thema gelten kann. Dabei wird nicht zuletzt deutlich, dass das eigentliche Thema des imaginären Wertes weniger das Land des Imaginären ist, das von diesem Wert aus zu erschliessen wäre, als vielmehr der Blick zurück auf das [wacklige!; Der Berliner] Land des Eindeutigen und Entschiedenen, des Wahren oder Falschen, Männlichen oder Weiblichen, Mächtigen oder Ohnmächtigen, Klugen oder Listigen, das man dank dieses Wertes für einen Moment hinter sich lassen kann, in diesem Moment auch genauer erkennt als wenn man praktisch handelnd mitten in ich steckt. Der imaginäre Wert, wie ihn die Mathematik aus i = Wurzel aus minus Eins gewinnt, ist keine Pforte in das Land der Träume, sondern ein Kulminationspunkt, der für einen Moment die Oszillation sichtbar und Erfahrbar macht, aus der die Wirklichkeit gewonnen und gebaut ist, das Sowohl-als-Auch und Keins-von Beiden, das in der Geschlechtlichkeit [sc. wie in allem; Berliner] zum Kick und zum Ereignis wird.“
Lieber Rolf, ich fürchte, Ihnen wie mir [zwei alte unbelehrbare Sozialisten, oder?] ist nicht zu helfen.
Gruss vom Berliner.
Lieber Rolf, lieber Erhard, liebe Differenztheoriegruppe,
so wie die die Dinge nun einmal offensichtlich sich mir zeigen, bleibt mir wohl nur der Rückzug in meine eigene Denkwelt und auf das Feld meiner eigenen Artikulationsweisen und Unterscheidungsmethoden. Auch mein zweiter Anlauf, an einer freien Liste teilzunehmen, weil ich – in diesem Falle trotz Luhmann, der ja immer betont hat, die Macht des Dissenses sei immer stärker als der Konsens – wohl doch immer unbewusst geglaubt hatte, es liesse sich mit gutem Willen und Geduld wenigstens in groben Umrissen redend und schreibend Konsens erreichen. Obwohl ich mich 1975 lesend, denkend und schreibend bewusst von der Habermaswelt abgewandt habe und bewusst ein Luhmannianer werden wollte, bin ich – in diesem Punkt - offensichtlich doch ein Habermasianer geblieben. Ich bin ja inzwischen ziemlich alt, geradezu unverdient alt, und vielleicht schickt es sich da wirklich, wenn ich mich zu meiner eigenen Selbstvergewisserung aus dieser Liste ausklinke und mich nun auf das Schreiben in meinem BLOG zurückziehe.
Ich wünsche dieser kleinen und feinen Liste gute gedankliche Erfolge.
Gruss vom Berliner