RE: Eliten

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Berliner

unread,
Oct 13, 2009, 1:34:45 PM10/13/09
to Differenz_Theorie
Zuerst meinen Dank für den Erhard'schen Beitrag, vor allem für den
LINK zu dem Interview mit Professor Michael Hartmann. Trotz meiner
Vielleserei, auch auf dem Gebiet der Soziologie, war mir dieser Autor
bislang, also bis auf den blosen Hinweis von Julia Friedrichs, nicht
bekannt. Ich habe dieses Interview deshalb - im ersten Anlauf - mit
grossem Interesse aufgenommen. Dann habe ich sofort begonnen, dem
weiteren Erhard'schen Hinweis folgend, den Baecker-Aufsatz "Wozu
Eliten" in "Wozu Gesellschaft" wieder einmal zu lesen. Es ist das alte
vertraute Lied: Beim wiederholtem Lesen eines - angeblich - vertrauten
oder jedenfalls bekannten Textes, wenn man einen besonderen konkreten
Anlass hat, entdeckt man sofort neue Einsichten und Perspektiven.

Michael Hartmann, Dirk Baecker und Julia Friedrichs sind sich einig:
Eliten haben Einfluss, sie moderieren die Gesellschaft, (Baecker sagt
integrieren), sie rekrutieren sich überwiegend aus sich selber, und
Elite - dieser verwaschene und multiplex ambivalente Begriff - ist nur
ein Deckname für Macht. Baecker sagt grob: "Im Fegefeuer der modernen
Aufklärungskritik [...] verbrennen die Eliten.", aber, weil er ihnen -
sicher zu Recht - eine gesamtgesellschaftliche Funktion zuschreibt,
eben die erwähnte Integration durch Moderation, fragt er dann
sogleich: "Was aber dann?", weil es offnsichtlich ohne die Integration
durch Eliten in der Gesellschaft zu Leerstellen kämme. Nach ihm sind
Eliten "prime movers" (also Antreiber und zerstörende Erneuerer) und
"models", (also auch Muster und Vorbilder). Man müsse nur aufpassen,
dass Eliten nicht einfrieren, nicht versteinern, nicht
unbeeinflussbarer Selbstzweck werden, wie es der Adel vor der
französischen Revolution war. Eliten müssten offen gehalten werden und
in ausreichendem Maße durchlässig bleiben für einen zur Auffrischung
angemessenen Prozentsatz an Aufsteigern und Ersatzleuten. Der Einfluss
der Eliten hat viele Facetten: aus kulturellem Prestige, politischen
Ämtern oder anderen sozialen Führungsrollen, aus Intelligenz (in
Universitäten), Baecker macht hier sogar ein Ausrufungszeichen, was
heute wohl eher bei Wirtschaft angebracht wäre, aus Affekten (bei der
Mobilisierung von Solidarität: da denkt er wohl auf die
journalistischen Klugredner in den Verbreitungsmedien), aber Eliten
stützten sich eben auch auf Geld, Macht und Werte. Gerade den
Tatbestand "Macht" und ihr tatsächliches Zustandekommen, müsse man -
meint Baecker - sich sehr viel genauer ansehen, um deutlich zu machen,
welche wahre Rolle Eliten im Hinblick auf Einfluss in der Gesellschaft
wirklich haben.

Auf Eliten zu schimpfen, zum Beispiel weil sie in zahlrichen bekannt
gewordenen Fällen einfach exorbitant zu viel verdienen, was sich
gewiss nicht ausreichend auf ihre Leistung zurückrechnen lässt, hat
also gewiss nicht viel Sinn, wenn nicht sogar keinen, weil - im besten
Sinne des Wortes - die Gesellschaft Funktionseliten im erwähnten Sinne
braucht. Was mich beim Lesen des Baeckertextes verblüfft hat ist die
Stelle auf Seite 187, wo er spricht vom "...Auslaufen des Modells der
funktionalen Differenzierung und des Übergangs zu einer
Netzwerkdifferenzierung". Hierüber sollten wir uns hier vielleicht mal
ein paar eigene Gedanken machen:

Baecker hat an anderer Stelle, sogar in einem gesonderten kleinen
Suhrkampbändchen, von der - im Hinblick auf den wachsenden Einfluss
und Durchgriff der Computertechnik, als Nachfolger des Buchdrucks -,
von "der nächsten Gesellschaft" gesprochen, die er wohl - mit Bezug
auf Harrison G. White - als eine (kulturell?) vernetzte Gesellschaft
sieht. Und wer - als gesellschaftliche Gruppe (wenn sie nicht gar
schon ein eigenes System geworden war) könnte vernetzter beschrieben
werden, wenn nicht die Elite oder eben die Eliten? Man denke an den
vollkommen offenen Machtkampf zwischen Wirtschaftssystem und
politischem System: Bestimmt die Wirtschaft, wo es lang geht, oder
kann die Politik die Wirtschaft (auch und gerade in der Krise) sozial
angemessen domestizieren? Man denke an die beständig grösser werdende
Ohnmacht der Staaten (als Organisation der Politik) gegenüber den
immer noch anwachsenden Riesenmächten der organisierten Wirtschaft. Es
gibt doch heutzutage Firmenverbände, die aufkaufen können, was sie
wollen, weil sie mit ihrem Budget das Haushaltsvolumen so manchen
kleinen bis mittleren Staates in den Schatten stellen. Wie soll sich
die staatsgebundene Politik, als Organisation, gegen solche "Brands",
als Organisation, durchsetzen. Und die Vorstands- und CEO-Eliten haben
haben ja fast schon beides in ihren Machthänden (Lobby).

Das sind selbstverständlich unvollständige und unzureichende Gedanken
und eigene Überlegungen. Die vereinte Gedanken- und Vorstellungsmacht
dieser Liste wird da sicher mehr und besseres wissen.

Gruss vom Berliner

Rolf Todesco

unread,
Oct 14, 2009, 6:31:26 AM10/14/09
to differen...@googlegroups.com
Lieber Berliner
 
ich kann zur Sache wieder nichts sagen - (ausser dass ich ganz sicher
bin, dass ich keiner Elite brauche, und die Aussage
 
> .. die Gesellschaft Funktionseliten im erwähnten Sinne braucht
 
theoretisch nicht zuordnen kann. In welcher Theorie, oder mit welchen
Unterscheidungen kommt diese Aussage zustande?
 
MICH fragend
Rolf

Erhard

unread,
Oct 14, 2009, 6:52:00 AM10/14/09
to Differenz_Theorie
Lieber Berliner, Lieber Rolf, Sehr geehrte Frau Liste!

>>Nur Zuschauen und Warten ist doch fad. Ich versuche eine Frage:
Wenn "Elite" Teil oder die eine Seite einer Differenz ist, wie hiesse
dann die andere Seite? Vielleicht "Masse", oder "Unterprivilligiert"?
Oderfalls man bei Elite im Hintergrund mitliest "Sieger" oder
"Gewinner", wäre dann die andere Seite von Elite gar "Verlierer"? <<


Ich muß schon sagen: vom oben zitierten Erststatement bis
zur jetzigen bezugsmail - da legst Du - lieber Berliner - ein
ganz schöne Lese-Tempo an den Tag. Puh! Ich selbst bin
noch in der Beschaffungs- und Vorsortierphase, was Thema
und Literatur angeht. Meinen Baecker habe ich auch wieder
gefunden. Es muß wohl an der Titelfrage des Buches liegen,
- Wozu Gesellschaft? -, dass es plötzlich nicht greifbar war.
Für solche Fragen muß man wohl echt gut drauf sein.

Doch Scherz beiseite.
Der Baecker-Text (Wozu Eliten?) war mir eingefallen, weil
Du in einer deiner ersten Beiträge am Schluss nach der
Funktion und funktionalen Äquvivalenten zu Elite gefragt
hattest. Da der Text - und deine Neugier - sich jetzt
eingefunden hat, würde ich diesen Punkt zunächst gerne
noch auf Halde legen bzw. Ruhen lassen. Ebenso wie
deine überraschte Frage nach der >>nächsten Gesellschaft<<.
An beides würde ich gerne etwas langsamer herangehen.
Den Grund hierfür hast Du selbst sehr präzise und anschaulich
beschrieben:
>>Es ist das alte vertraute Lied:
Beim wiederholtem Lesen eines - angeblich - vertrauten
oder jedenfalls bekannten Textes, wenn man einen besonderen konkreten
Anlass hat, entdeckt man sofort neue Einsichten und Perspektiven<<
Statt Anlass würde ich nur sagen: wenn man präzisierbare Fragestellung
an ein Material herantragen kann... , dann fängt es plötzlich ganz
anders
an zu sprechen. (Oder anders gesagt: wenn man als Unterscheider von
Unterscheidungen gezielt und kreativ-neugierig unterscheiden kann,
also
für "Text-Empirie" entsprechend geöffnet ist. ) Kurz : ich würde gerne
noch
präzisiere - oder gezieltere - Fragestellungen enwickeln, die nicht
nur auf Elite
oder jetzt: Eliten bezugnehmen, sondern auch auf die Listen-Headline
"Differenztheorie".

Dass der Hartman-Hinweis auf deine Gegenliebe gestoßen
ist, freut mich. Ich werde mir gleichmal in der Bibliothek seine
Elitesoziologie (Campus 2004, 15.- Euro, ca. 200 S.) anschauen.
Einen weiteren Link auf die genannte Julia Friedrichs möchte
ich auch gleich eintüten - http://de.wikipedia.org/wiki/Julia_Friedrichs
-,
so dass wir zwei unterschiedliche Vertreter von Elite-Beobachtern/
Elitebeobachtungen beisammen haben. Das Taschbuch - Gestatten
Elite - für 8.- Euro werde ich mir auch noch zugänglich machen können.
Als Differenztheoretiker müßte wir jetzt - mit dieser materialen
Ausstattung -
die Grundlagen haben, um uns als Beobachter von Beobachtern in (Elite-)
Form
bringen zu können. Zumindest können wir Medien-Beobachter und
Wissenschafts-
beobachter beobachten.

Jedenfalls könnte ich mir vorstellen, dass wir dann auf die eingangs
ztierte
Ausgangsfragestellung von Dir gut gerüstet gemeinsam zurückkommen
könnten.

Bis zu diesem Punkt erstmal. Ich mach jetzt Mittag und geh dann
Bücher gucken/kaufen.

Herzlich

Erhard


PS.: Wenn nach der Form - oder dem Unterscheidungszusammenhang - von
Elite gefragt wird, dann könnte man auch an Entscheider und Betroffene
(Risikosoziologie)
denken oder wie dies vielleicht bei Julia Friedrichs der Fall sein
könnte, besteht die Möglichkeit an
Karrieerebeobachtung zu denken. Jedenfalls findet man auf der
Wikipedia-Seite Spuren,
die die Karrierebeobachtung auf die beiden Phänomene Elite und Hartz
IV lenken und
in beiden Seite vergleichbares sehen. Formen der Ab- und Ausgrenzung
von Personen(gruppen), der sozialen
Schließung, von Programmen und Programmatiken der Konstruktion und
Verfestigung
von (Negativ- und Positiv-) Karrieren. [STOP. PUNKT.]

Andre Luthardt

unread,
Oct 14, 2009, 6:52:33 AM10/14/09
to differen...@googlegroups.com
Liebe Listen-Aktivisten und Groupies, liebe Theoretiko-Praktikanten,
lieber Berliner, Erhard und Rolf,

>
> ich kann zur Sache wieder nichts sagen - (ausser dass ich ganz sicher
> bin, dass ich keiner Elite brauche, und die Aussage
>
>> .. die Gesellschaft Funktionseliten im erwähnten Sinne braucht
>

Das stösst mir auch in sämtlichen Untersuchungen zum Gegenstand übel
auf: "Wir brauchen Eliten" ist in seinem Rekurs auf kollektivistische
Phantasmen noch leicht zu durchschauen. Sobald die appellative Parole
aber ersetzt wird durch den Popanz der Gesamtgesellschaftlichen
Nützlichkeit sind auch die Aufmerksameren sofort bereit zu glauben, daß
hier Entscheidendes verlautbart worden sei.

Pynchons "Gravity´s Rainbow" wird durchzogen von einer Unterscheidung,
die zurückgeht auf ein Traktat, welches der Urahne des Protagonisten
Slothrop am Anfang des 17.Jhs verfasst hat. Die heilsökonomische
Gegenüberstellung von Elects (Erwählten, worauf das Wort "Elite"
zurückgeht) und Preterites (Übergangenen). William nun behauptet in
seiner Schrift "Vom Übergangensein", "daß diese "zweiten Schafe" heilig
wären, da es doch ohne sie keine Erwählten gäbe." (Thomas Pynchon, Die
Enden der Parabel, Reinbeck bei Hamburg 1981, S.867)

Im gleichen Stile könnte man sich doch vorstellen, wenn schon das
kollektive Wir und die Gesamtgesellschaft als letzter , alle
Polykontexturalität zusammenfassender Super-Monokontext unverdächtigt
hochgehalten werden sollte, einmal ein paar Worte zur universalen
"Unverzichbarkeit von Nicht-Erwähltheit" zu verlieren.


Viele Grüsse

André

Pluto der Planet

unread,
Oct 14, 2009, 7:55:34 AM10/14/09
to differen...@googlegroups.com

Lieber Rolf,

 

sehen Sie, „im erwähnten Sinn“ bedeutet halt, man solle sich nicht auf meinen Text stützen, sondern: es muss zuerst der Text von Dirk Baecker gelesen werden, (mit dem ich auch noch nicht zu Ende bin; der Alltag halt). Denn Baecker hat – mit einem Wort – den Eliten thesenhaft die Integration der Gesellschaft zu geschrieben, nicht ich. Ich muss mir das auch erst noch gründlich ansehen, soweit ich dazu fähig bin. Also: Wenn mein Beitrag Sinn machen soll in dieser Diskussion, dann müsste dieser Baeckertext immer im Hintergrund mitlaufen.

 

Gruss vom Berliner

Rolf Todesco

unread,
Oct 14, 2009, 8:25:10 AM10/14/09
to differen...@googlegroups.com
Lieber Berliner
 
ich wollte weder gegen Dich noch gegen D. Baecker etwas sagen. Und ich wollte
auch nicht auf eine These von D. Baecker bezug nehmen. Ich frage mich, inwiefern
es "in irgendeinen Sinn" geben könnte, dass ICH Eliten brauchen würde.
Und ganz genau gleich: dass "Gesellschaft Eliten brauchen würde.
 
Aber natürlich sehe ich sofort und ohne Kenntnis des Textes von D. Baecker,
dass es GesellschaftEN gibt, in welchen sich die Eliten als notwendig begreifen.
Ich sehe nur überhaupt nicht, wie man von solchen GesellschaftEN zu Gesellschaft
verallgemeinern könnte.
 
Aber nochmals: Das ist kein Beitrag zur Diskussion, sondern ein Beitrag über
mich, und wenn man will, eine Frage nach Unterscheidungen, die zum Gebrauchtwerden
von Eliten führen.
 
By the way: Differenztheoretisch würde ich Eliten nicht von Nichteliten unterscheiden,
weil es dazu beides brauchen würde, sondern mehr die Unterscheidung suchen, die
Eliten schafft. Im Gespräch war schon Macht und Karriere, aber ich sehe noch nicht,
inwiefern die Mächtigen und die Karrieristen Eliten sind, oder eben, ich sehe die
Unterscheidung noch nicht.
 
Herzliche Grüsse
Rolf

Berliner

unread,
Oct 14, 2009, 9:05:07 AM10/14/09
to Differenz_Theorie
Lieber Erhard,

amerikanisches you als Du oder deutsches Du als freundliche
Vertrautheit, beides soll mir recht sein und ist mir auch gelaufig.
Zur Sache:

Die Friedrichs hatte ich ja schon gelesen; sie hat mir ja den Anstoss
zum Fragen gegeben. Dem Hartmann habe ich dann geduldig zugehört und
gesehen, der passt genau hier rein; (sein Buch "Elitesoziologie" habe
ich auch schon bestellt). Mit dem mir bekannten Baeckertext kam ich
ziemlich schnell zurande, stoppte aber verblüfft an der genannten
Stelle vom Ende der Funktionalisierung und dem dazgehörigen Übergang
zur Vernetzung. Wobei ich manchmal denke: Unsere Gesellschaft scheint
sich zwar rasant zu (ver)ändern, aber vielleicht kommt hinzu, dass
sich auch unser unterscheidend/bezeichnender Blick ändert, und
vielleicht auch ziemlich schnell, denn die gesamtgesellschaftliche
Kommunikation hat ja selber dieses rasante Tempo (in Quantität und
Qualität).

Wir werden also alle vielleicht etwas Zeit investieren müssen: ins
Lesen und ins Nach-denken.

Als bekennende Differenztheoretiker müssen wir tatsächlich jetzt bei
diesem Thema achten auf Entscheider/Betroffene, Karriere/
Nichtkarriere, Inklusion/Exklusion, Elite/Prekariat, die-noch-Arbeit-
haben/und-die Hartz-IVer, und so weiter. Denn eines ist ja jetzt schon
klar (nach Friedrichtext und Hartmannclip): Wer Elite sagt und sonst
nichts, der macht es sich zu leicht, der verschleiert, auch vielleicht
ungewollt, aber oft gewiss gewollt. Alle die bei Elite gleich
schreien, Leistung müsse sich wieder Lohnen, um die Gierigen zu
exkulpieren, die wollen gewiss verschleieren. Aber ich will hier
nichts vorwegnehmen.

Lieber André, wenn ich Ihren schönen Hinweis auf Pynchons "Gravity's
Rainbow" sehe, also auf die deutsche Übersetzung "Die Enden der
Parabel", dann bekomme ich ein schlechtes Gewissen: Ich muss das Buch
haben, finde es aber im ersten Anlauf nicht, und muss bekennen: ich
habe es nur flüchtig gelesen: angefangen und nicht zurecht gekommen
damit. (vielleicht falscher Zeitpunkt). Jedenfalls gefällt mir die die
schöne "alte und überlieferte" Stelle von den Elects und den
Preterites. Das ist grossartig: Sie haben vollkommen recht, lieber
André. Die Gesamtgesellschaft ist doch wohl nichts weiter (was immer
sie sonst noch sein mag) als "der letzte, alle Polykontexturalität
zusammenfassende Super-Monokontext", nämlich genau das, was die
"Unverzichtbarkeit von Nicht-Erwähltheit" tatsächlich kollektiv
leistet:

Was wären denn Unternehmer ohne die von allen, den angeblich
Überflüssigen, bereitgehaltenen Infrastrukturen? Klar, auch
Unternehmer tragen - ein wenig - dazu bei, denn manchmal sollen sie ja
tatsächlich auch Steuern zahlen, aber ohne das Volk wäre die Elite
doch nur ein Nichts. Das wollen sie nicht sehen, das wollen sie nicht
wahrhaben, ja sie arbeiten - verblendet - oft sogar eindeutig gegen
diese Einsichten. Aber das Volk wird - vielleicht - wieder einmal auf
die Strassen gehen, wie bei den grossen Revolutionen in England,
Frankreich und Amerika. Dann werden sie Begreifen, dass sie ohne das
Volk nichts sind. Wir werden es ja hier sehen, wenn wir hier zu
Ergebnissen kommen.

Einen durchaus passenden Nebenhinweis aus SPIEGEL-Online: Der Hinweis
auf das Buch des Linguisten Peter Janich: "Kein neues Menschenbild",
Zur Sprache der Gehirnforschung, Suhrkamp, Edition Unseld, 10 Euro.
Janisch greift die Elite der Gehirnforscher an und ihre oft
irreführende Sprache. Janisch unterscheidet drei wesentlich
unterschiedliche Sprach- und Sprech-Ebenen: Alltagssprache,
Parasprache und Metasprache (jetzt hier aus der Erinnerung des eben
dort Gelesenen). Janisch scheint - als Differenztheoretiker - klar zu
sehen: Die Gehirnforscher entdecken etwas, dann ordnen sie es
irgendwie ein, und dabei verwischen sie oft diese drei Ebenen. So
entstehen dann Unschärfemissverständnisse wie beim Umgang mit dem Wort
Elite.

Vorerst Schluss und Gruss vom Berliner

Erhard

unread,
Oct 14, 2009, 10:50:58 AM10/14/09
to Differenz_Theorie
Lieber Andre, Lieber Herr Liste!

Den freimütig geäußerten Ärger über die stete Wiederholung der
Behauptung "Wir brauchen Eliten...!" kann ich ganz gut verstehen. Wenn
soziologische Theorie(n) dann noch vermeintlich Identisches behaupten/
bekunden, dann kann man noch schneller den Kaffee auf haben. Bei
diesem Aggressionsaufkommen währe ich fast bereit, in Peter
Sloterdijk's Zeit und Zorn ein dazu passendes Zitat zu besorgen. Nette
und brauchbare Formulierungen finden sich überall.

Soziologische Zorn(und Zeit-)bewäligung (falls es so etwas überhaupt
gibt?) verlangt etwas anderes. Zunächst doch die Frage, ob der
alltagsweltiche und mediale Diskurs über (die Notwendigkeit/
Überflüssigkeit von) Eliten überhaupt mit dem sozialwissenschaftlichen
Diskurs ein gemeinsames Objekt hat, oder ob die semantischen Artefakte
hier nicht Identität vortäuschen wo vielmehr Differenz besteht.Die
weitere Frage etwa wäre, ob die Eliten von Hartmann und die Eliten von
Baecker irgendetwas Identisches haben. Während der Eine von Personen
und Gruppen redet, spricht der Andere wo möglich von kommunikativen
Konstruktionen die im (Letzt-)Horizont vom Kommunikation
(=Gesellschaft) spezifische unverzichtbare Funktionen wahrnehmen. Sie
sind gleichsam Attraktoren und mögliche Stopregeln von bzw für
Kommunikationen, die Zurechnungsleistungen und Berechenbarkeiten
ermöglichen, die sonst nicht verfügbar währen. Um es nochmals anders
zu formulieren: gerade die Möglichkeit,Entscheidungen auf Eliten
zurechnen zu können (Entscheider zu identifizieren),
Verantwortlichkeiten zu konstruieren, zumindest im Nachhinein
Kontrollierbarkeit und Steurerungsfähigkeit (also mögliche
Stabilitätund Kontrollierbarkeit) zu fingieren währe schon mal das
Eine. Das Andere ist die Möglichkeit auf dieser Basis Zufriedheit oder
Unzufriedenheit kommunikativ zu bündeln und zu adressieren. Und
Letztlich auch noch die Möglichkeit, dies Alles für funktional
unersetzbar zu halten, gerade und weil selbst noch die Ersetzbarkeit
des Unersetzbaren kommuniziert werden kann. Jedenfalls könnte durch
dieses dünne Schlufloch sich klar machen, wie über die Konstruktion
von Zurechenbarkeit, Lob und Tadel und der enttäuschbaren Aussicht auf
Korrekturen sich Kommunikation zu Selbstfortsetzung ermutigt - selbst
wenn Rolf Todesco jetzt sagen (können) würde: "Dazu kann ich nichts
mehr sagen!". -- Soweit mal eine erste Stehgreifformulierung in Sachen
soziologischer Zornbewältigung --


In Sachen "Gravity´s Rainbow" muß ich (ganz solidarisch mit dem
Berliner schlechten Gewissen) meine schuldhafte Unbelesenheit
eingestehen. Wenn der Vorschlag ganz praktisch darauf zulaufen sollte,
dass wir jetzt das Loblied der "schweigenden Masse" (im Gegensatz zu
befehls- und entscheidungsbereiten Elite) und ihre funktionale
Unverzichtbarekeit hier kollektiv beschließen sollen, dann ... hm ..
ja dann melde ich mich später noch mal zu Wort. (Ich hätte dann nur so
die Angst, dass diejenigen, die vom Wort nicht lassen können,
irgendwie dann doch funktional verzichtbar sind, während die
Schweigenden (die Nichterwählten) das grosse Los ziehen.

Ich fühl mich da schon (wieder) etwas ausgeschlossen!

Erhard

Rolf Todesco

unread,
Oct 15, 2009, 5:27:29 AM10/15/09
to differen...@googlegroups.com
Liebe Group
 
dass Rolf Todesco dazu nicht sagen würde/könnte ist richtig und falsch.
Zur Sache kann ich tatsächlich nichts sagen, aber zur Theorie, in welcher
die Sache gesehen wird, will ich doch etwas sagen.
 
Mein Anliegen hier sind die Differenzen. Nun habe ich schon die Differenzen
vom Berliner nacherwähnt, nämlich Macht und Karriere, und jetzt sehe ich
durch Erhard eine ganz andere Differenz hinzu, die Adressen. Nämlich
dass dieser oder jene Ge/Benannte (Baecker,Hartmann,usw) den Ausdruck
Elite ja gar nicht gemeinsan verwenden und sehr wohl auch gar nicht so,
wie ich es tun würde, wenn ich etwas zur Eltite sagen würde/könnte.
 
Ich nenne also zunächst auch Mal Adressen: H. Maturana und N. Luhmann
als Differenz der Beobachtung 2. Ordnung. Während N. Luhmann schaut,
wie ANDERE schauen, schlägt H. Maturana (im Anschluss an H. von Förster)
vor, zu schauen, wie ICH schaue.
 
Dabei ginge es also gerade nicht darum, was Baecker/Hartmann beobachtet,
sondern darum, was ich beobachte. Und wen ich darüber nachdenke, was
ich beobachte, kann ich natürlich auch die Adresse Maturana/Luhmann (als
Differenz) loslassen.
 
Und hier wird auch vollend wahr, dass ich zur Elite als Sache dann nichts
zu sagen habe (wenn ich mich nicht in die Dialektik von A. begeben will,
wo ich Elite mit Führer übersetzen würde).
 
Um keine Türen zu blockieren: Mir ginge es darum, mit welchen Unterscheidungen
ich schauen müsste, um Eliten zu sehen.
 
Herzlich
Rolf

Erhard

unread,
Oct 16, 2009, 6:14:20 AM10/16/09
to Differenz_Theorie
Lieber Rolf, sehr geehrte Liste, Exzellenzen und Eliten!

vielleicht hängt es ja mit den vielfältigen Mängeln der sozialen
Herkunft ("bildungsfernes Elternhaus") oder meinem Rambo (I, II, III,
IV, ....)-Kommunikationsstil zusammen, dass ich dich völlig ungefragt
als (performativ wiedersprüchliches) Beispiel eines schweigenden
Redners in Anspruch genommen habe. Ich befürchte, die Eliteforschung
(ersatzweise: der politische Elitediskurs) wird hierzu noch genauere
Auskünfte liefern. Schön ist jedenfalls, dass Du mich von der Last der
Fremdbeschreibung befreit und eine Selbstbeschreibung angeboten hast,
an die ich jetzt "rambofrei" anschließen kann.

Deine "Exzellenzinititative" in Sachen Differentheorie-Liste hatte ich
durchaus so verstanden, dass für dich das Thema "Elite/Eliten" - als
Thema - im Grunde austauschbar ist, aber der
Differenztheorieschwerpunkt - als Theorie und Methode, als Theorie und
Empirie und damit als Listen-Thema - nicht. Deine diesbezüglichen
Vorarbeiten wurden von der Liste ja auch schon einige Zeit mit
"schweigender Neugier" intensiv bearbeitet. An irgendein - wie auch
immer vereinbartes - Schweigegelübde scheint sich dort auch keiner
mehr so recht halten zu wollen. Sei's drum!

Kurz und gut: das (oder: ein) Thema ist auf die Schiene gebracht und
der Theorie- und Methodendiskurs eröffnet. Alle Exzellenzen und
Differenzen sind arbeitsfähig und - soweit ich sehe - auch
leistungsbereit. Bühne frei für Julia!


"Die Elite trat in einem griechischen Luxushotel in mein Leben. Sie
hieß Mario und war knapp dreißig, also nur wenig älter als ich. Außer
demselben Gebrutsjahrzehnt hatten wir nicht viel gemeinsam. Mario
kannte solche Abende. Er trank, redete, lachte - gleichzeitig. Ohne
inne zuhalten. Er war markellos, ohne Selbstzweifel,
siegessicher." (Julia, S. 9)

Als Empiriker (http://de.wikipedia.org/wiki/Empiriker) und Beobachter
erster Ordnung freut man sich natürlich, wenn die
Beobachtungsgegenstände einfach ins eigene Leben treten und man
zunächst nur noch beschreibend, kategoriesierend, vergleichend aktiv
werden muss - knap dreißig, aus demselben Geburtsjahrzehnt, trinkend,
redend, lachend, -- gleichzeitig --. Zudem kann man
Beobachtungsgegenständen eigene Beobachtungskapazitäten ("Wissen/
Können") unterstellen - Mario kannte solche Abende. Und letztlich von
eigenen und fremden Motiv- und Wertzuschreibungen gebrauch machen -
markelos, ohne Selbstzweifel, siegessicher.

Der Gegenstand und die Wissensarbeit an ihm sind für einen Empiriker
gesichert. Die Welt ist stabil, - und wenn der soziale Beobachtungs-
Gegenstand halbwegs gut, fleißig und moralisch zuverlässig mitspielt
-, auch liebens- und lebenswert.Prima!

Wozu bitte jetzt noch die Komplikationen mit einer Beobachtung zweiter
Ordnung oder gar methodisch geführten Selbstverständigungsdiskursen -
("wie ICH beobachte") ? Müssen wir uns jetzt ernsthaft noch die Lasten
eigener beobachtungsinduzierter Welterzeugungsweisen aufhalsen und
dafür moralisch-praktisch gerade stehen ? Kann man das nicht qua
Arbeitsteilung Experten und Eliten überlassen und als Minderleister
(Julia, S. 28) das iridische Leben einfach genießen? Muß denn die
soziale Welt ständig ver-rückt werden?

Ich sehe, ich drehe mich mit meinem Hang zur Faulheit im Kreise.
Exzellenzen (Julia, S.28) ich geht jetzt Arbeiten. Irgendwie
hinterlassen Julia's Ausflüge "In der Parellelwelt" (21ff) erste
praktische Spuren und Eindrücke. Nicht nur die sich latent formierende
Angst vor einem semantischen (und ggf. verwaltungspraktischen ARGEn)
Faschismus der Erwerbsarbeitsgesellschaft (vgl. S. 16 oben) treibt zur
Arbeit. Zumal es in dieser Hinsicht durchaus beruhigende, ja großartig
entwarnende Hinweise gibt."Nicht nur der Stärkste soll überleben,
sondern auch der Schwache und Schwächste"- hat Guido schließlich
angemahnt. (vgl. 25) Auch die Freuden von kleinen Nebenbeobachtungen
die sich zu Fragen entwickeln könnten, leisten einen eigenen Beitrag.
Wenn die "Letzte Gesellschaft", also die funktional-differenzierte
Weltgesellschaft (Luhmann 1975) bzw. Luhmann's 'Gesellschaft der
Gesellschaft' (1997), sich im politisch-wirtschaftlich-medialen
Alltags-Diskurs als eitebedüftige Arbeits(losen)- und
Leistungsgesellschaft inszeniert und die universitäteren Lernorte
unserer Zukunft ( bzw. Zukünftigen) mit schmückenden Namen von
Weltkonzernen versieht, wie ist dann unser Google-Listen-Ambiente zu
verstehen? Haben wir nachdem "Paradise Lost" der Buchgesellschaft nun
Zuflucht in der Next Society gesucht und unter der freundlichen
Schirmherrschaft von Google auch gefunden, von der Dirk Baecker's
Studien zu nächsten Gesellschaft (2007) sprechen. Ist dies bereits ein
(gegen)elitärer oder gar egalitärer Ausbruch aus den sich verhärtenden
Mauern der Buchdruckgesellschaft?

Nun gut. Für einen faulen Menschen sind dies völlig überflüssige
Arbeitsfragen, deren Beantwortung womöglich demotivierende und
paradoxieträchtige Lektüren heraufbeschwören würde. Zum Beispiel
"Arbeiten ist gefährlich". (in: Baecker 2007, S. 56-72) Ohnehin
passieren ja die meisten Ünfälle im Haushalt - z.B. am Computer oder
beim Fensterputzen. Dass man auf der Suche nach passenden
Unfallverhütungsvorschriften in den Arsenalen der
Buchdruckgesellschaft dann doch wieder - wenn man sich nicht
vorsieht ! - auf die Inszenierung von Spuren der Entdeckung der
nächsten Gesellschaft stößt, ist einfach Pech! Unfälle und Ünglücke
kommen halt selten allein. Bei der Suche nach Reperaturanleitungen und
praktischen Reperaturerfahrungen für meinen häuslichen Computer habe
ich zufällig den Aufsatz "Niklas Luhmann in der Gesellschaft der
Computer" (Baecker, Wozu Soziologie?, 2004, S. 125-149) gefunden, in
dem Dirk Baecker ganz zufällig die nächste Gesellschaft entdeckt hat.
Meinerseits steckte da wirklich keine böse Absicht hinter. Aber die
Folgen sind natürlich katastrophal: weder mein Verhältnis zu
Computern, noch zur Gesellschaft(en), noch zur Soziologie sind
irgendwie halbwegs geklärt - von so elementaren Lebensverhältnissen
wie Arbeit und Eliten gar nicht zu reden.

Vielleicht bedarf ich doch irgendwelcher Experten oder Eliten? Oder
käme ich schon mit Beobachtungen von Beobachtern und der Reflexion
meines Beobachtungsstiles (oder Kommunikations- und Arbeitsverhaltens)
einen Schritt weiter? Ohne Leitbild (Adorno) oder Führung geht
manchmal gar nichts - scheint mir.
Zugegeben: "Die Sache mit der Führung" (Dirk Baecker, Wien 2008) will
ich nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Herzlich ratlose Grüsse
Erhard



On 15 Okt., 11:27, "Rolf Todesco" <tode...@hyperkommunikation.ch>
wrote:
>   > André- Zitierten Text ausblenden -
>
> - Zitierten Text anzeigen -

Rolf Todesco

unread,
Oct 16, 2009, 7:11:13 AM10/16/09
to differen...@googlegroups.com
Liebe Gruppe, Lieber Erhard
 
ganz spontan (wie meine Liebe zur Julia, die ich hoffentlich noch kennenlerne):
 
Ich wünsche mir das Experiment, das für mich beschrieben ist in:
"Oder käme ich schon mit Beobachtungen von Beobachtern und der Reflexion
meines Beobachtungsstiles (oder Kommunikations- und Arbeitsverhaltens)
einen Schritt weiter?"
Ich wünsche mir Antworten auf diese Frage, dadurch, dass wir damit rumgespielt haben.
 
Übrigens, ich sehe in meinem geäusserten Wunsch ein Vereinbarungsangebot, welches
allenfalls in der ich-Form gelesen wird.
 
Herzlich
Rolf
 
 
 
----- Original Message -----
From: Erhard
Sent: Friday, October 16, 2009 12:14 PM
Subject: Re: Eliten


Erhard

unread,
Oct 16, 2009, 8:07:12 AM10/16/09
to Differenz_Theorie
> Ich wünsche mir das Experiment, das für mich beschrieben ist in:
> "Oder käme ich schon mit Beobachtungen von Beobachtern und der Reflexion
> meines Beobachtungsstiles (oder Kommunikations- und Arbeitsverhaltens)
> einen Schritt weiter?"
> Ich wünsche mir Antworten auf diese Frage, dadurch, dass wir damit rumgespielt haben.

Lieber Rolf,

ebenfalls ganz spontan: Ja! Deshalb habe ich ja mit dem Thema ein
wenig gespielt.

Ich glaube allerdings das in der >>>Vereinbarungsmethodlogie<< so
etwas wie eine implizite Gesellschaftstheorie (wenn die
Gesellschaftstheoretiker diesmal verzeihen mögen) steckt, die sich
dann mit explizit soziologischen Verständnissen relativ schnell beißen
könnte. Aber wenn wir uns im Vorfeld auf spielerische Beissattacken
verständigen und in den jeweils anderen Bibliothekskontexten
herumschnüffeln ohne alles mit unseren Besitzduftmarken zu markieren,
dann müsste es eigentlich klappen können. Also methodologischer
Individualismus und Konstruktivismus auf Vorverständigungsebene ja -
aber was die gesellschaftstheoretischen Implikate angeht Nein.

Das schöne an Julia ist ja, dass sie sich darum - als Bürgerin und
Journalistin - keinen Kopf machen muss. Selbst die Attitüden der
Beobachtung erster Ordnung, die ich ihr so nachdrücklich angeheftet
habe, verflüchtigen sich ja bei weiterer Lektüre sehr schnell. Was
aber bleibt und den Text halt zum Bestseller macht scheint mir die
Vorstellung zu sein, Gesellschaft würde sich als
Interaktionszusammenhang begreifen lassen können. Aus dem Zeitalter
der "Gesellschaft der Individuen" (Norbert Elias ) scheinen sich
zumindest die Gesellschaftstheorie entfernt zu haben.

Soviel zu den möglichen Fallstricken von Konsens.

Erhard


On 16 Okt., 13:11, "Rolf Todesco" <tode...@hyperkommunikation.ch>
wrote:
>     Erhard- Zitierten Text ausblenden -

Rolf Todesco

unread,
Oct 16, 2009, 8:46:56 AM10/16/09
to differen...@googlegroups.com
Lieber Erhard
 
ja, herzlich einverstanden, wenn wir noch dazunehmen, dass es Beobachter gibt,
die überhaupt keine wie auch immer geartete Gesellschaft sehen können. Das
spart natürlich ein paar Fallstricke, ist allerdings ziemlich schräg zu allen
Soziologien, die ich kenne. Aber das war und ist ja mein Anliegen: Es geht hier nicht
um eine Theorie und schon gar nicht um eine Soziologie, die dann von Zeit zu
Zeit reklamiert werden könne (Zitat: "In der Theorie, die wir hier verhandeln ....").
 
Vorerst ( - wenn nicht ewig) bewege ich mich auf einer als Konstruktivismus bennbare
Vor-Verständigungsebene, von der ich nicht im Gerinsten glaube, dass sie VOR
einer Verständigungsebene liegen könnte. Wir fahren hinaus aufs offene Meer,
ohne wie Kolumbus zu wissen, dass Indien kommen muss (und Julia nehmen
wir gerne auf die Reise mit).

Erhard

unread,
Oct 17, 2009, 1:46:41 PM10/17/09
to Differenz_Theorie
Lieber Rolf,

bevor wir die Phase der thematischen und methodischen Vorverhandlungen
noch weiter - notfalls schweigend - ausweiten, möchte ich dich gerne
bitten, doch mal beispielhaft eine - ich hoffe meine Bezeichnung
trifft dein Projekt!? - Vereinbarungseinladung in einem neuen
thematischen Thread (Ordner) zu erstellen mit dem wir eine begrenzte
Zeit praktisch-erprobend umgehen könnten. Wir können jetzt im Vorfeld
noch lange über kritischen Einwände von Soziologen und Philosophen
schreiben, aber ich fürchte, Du wirst dann immer noch keine Elite(n)
sehen/brauchen, den Grundlagen von Sinn keinen zureichenden
Stellenwert in deiner kommunikativen Kognitionstheorie einräumen, du
wirst immer noch keine Gesellschaft sehen ..., "Die Sache mit der
Führung" (Baecker, Wien 2009) wird vielleicht weiterhin auf einem
(Daten)Busgleis(system) unter die Räder kommen usw.

Manche Sachen kann man nur erstmal praktisch erproben. Schön währe es,
wenn Du der Einladung ein Zeitlimit beifügen könntest. Also zum
Beispiel sagt: lasst uns doch mal zwei Listentage (im Unterschied zu
drei Mannjahren) dies oder jenes sehen.

Gerade gesellschafttheoretisch interessierte Soziologen und
Philosophen - aber auch manche Planeten und Sterne - brauchen solche
Limitationen, weil sie es von sich selbst gewohnt sind, ihre Fragen
als Lebensprojekte oder zumindest Viertel-Jahrjundertprojekte(+- 5 bis
25 %) zu formieren. Das schlimmste - weil so wenig einladende -
Beispiel in dieser Hinsicht ist der Luhmann der "Gesellschaft der
Gesellschaft":

"Bei meiner Aufnahme in die 1969 gegründete Fakultät für Soziologie
der Universität Bielefeld fand ich mich konfrontiert mit der
Aufforderung, Forschungsprojekte zu benenen, an denen ich arbeite.
Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie der Gesellschaft,
Laufzeit 30 Jahre, Kosten keine." (S. 11)

Du siehst also hier wie geschickt und ermutigend Du deine Einladung
formulieren mußt, damit sie freudig - dank der Zeitgrenzen -
aufgenommen werden wird. Gesellschafttheoretiker sind ja manchmal
auch einfach froh, wenn sie ihre eigenen Anliegen für eine - strikt -
begrenzte Zeit ruhenlassen können. Um so grenzenloser werden sie dann
wieder, wenn sich frisch und ausgeruht in heimischen Gewässern fischen
können. Aber das ist ein fast unvermeidliches Risiko.


Herzlich

Erhard



On 16 Okt., 14:46, "Rolf Todesco" <tode...@hyperkommunikation.ch>
wrote:
> ...
>
> Erfahren Sie mehr »- Zitierten Text ausblenden -

Pluto der Planet

unread,
Oct 17, 2009, 2:36:55 PM10/17/09
to differen...@googlegroups.com
Lieber Ehrhard, lieber Rolf,

der Computer hat mich soeben bockig getreten: Hier standen schon zwei schöne
Eröffnungssätze, zustimmende, und plötzlich waren sie weg, ohne dass das
System sie mir flugs als Entwurf zum Weitermachen bewahrt hätte. Sei's drum,
ein verpatzter Anfang ist auch ein Beginnen. Ich versuche es noch einmal:

Was der Ehrhard hier vorbringt und empfiehlt, ist recht und richtig gesehen
und gesagt. Wir sollten versuchen, darauf einzugehen, weil ich selber zum
Thema Elite(n) erst noch eine Menge lesen und erlesen muss. Also: Zum Thema
"Vereinbarungseinladung" hatte ich ja hier ziemlich impulsiv und
unvorbereitet etwas Punktuelles gesagt. Ich war dabei davon ausgegangen,
(nicht eigentlich expressis verbis, mehr als im Hintergrund meines
Schreibens mitwirkende erkenntnisleitende Idee), man könne zur
Sicherstellung der Beachtung von Vereinbarungen nicht weitere vorangehende
Protovereinbarungen treffen, weil man sonst schnell in einen unendlichen
Regress (oder auch Progress, wenn man es anders herum sehen möchte) geraten
würde. Das ist wie mit Wittgensteins Sprachspiel des Regelbeachtens.
Beispiel - habe ich mal in einer anderen Liste gelesen - Schiedsrichter beim
Fussball. Solch ein wichtiger Mann, ohne den das Spiel nichts wäre, er hat
feste Regeln, eben die Spielregeln. Die kennen alle: Er, die Spieler, die
Zuschauer, die aktuellen und die späteren Kritiker und sogar alle
Stammtische. Was die meisten nicht wissen: Der Schiedsrichter hat sogar -
von seiner Schiedsrichtervereinigung - weitere Regeln zur Auslegung der
Regeln. Jetzt aber läuft das Spiel. Es geschieht ein Foul. Sofortfrage in
den Köpfen aller Anwesenden: Elfmeter oder nicht. Der Schiedsrichter, der
als Beobachte genau hingeschaut hat, denn ein idealer Schiedsrichter ist ja
- wie Gott - immer überall anwesend, er muss sich im Bruchteil einer Sekunde
entscheiden. In den Regeln nachschauen, gar in seinen Auslegungsregeln, das
kann er nicht, Tempora, die Göttin der Zeit, wenn es die gäbe, oder halt
Chronos, der Titan, beide wären dagegen. Er pfeift also und erkennt als
braver Richter: Elfmeter! Pfiffe auf den Rängen, vorsichtige Zweifel beim
Fernsehkommentator, der Elfmeter wird geschossen, wenn es das Schicksal des
Ludus will, sogar gehalten. Dann kommt, mit elektronischer Geschwindigkeit,
aber dennoch - zeitlich und rechtlich - zu spät, die Zeitlupe: Kein Foul und
kein Elfmeter. Armer Schiedsrichter. Vielleicht auch armer Rolf. Aber
vielleicht verstehe ich ihn ja auch falsch. Sogar sein mit vieler
Programmiererpraxis gestütztes Bus-Beispiel schien mir schon - semantisch
überspitzt und damit überkonsequent - als schwer begreifbar (technisch
schon, aber listenpragmatisch?, auch hier für diese Differenzliste).

Ich erinnere an meinen Hinweis auf diesen neuen Essay in dem genannten
Suhrkampbändchen und den darin enthaltenen wichtigen und begründeten Hinweis
auf die unaufhebbaren Grenzen zwischen Alltagssprache, Objektsprache,
Parasprache und Metasprache.

Also lieber Rolf, jetzt sind notgedrungen Sie dran.

Grüsse vom Berliner


-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: differen...@googlegroups.com
[mailto:differen...@googlegroups.com] Im Auftrag von Erhard
Gesendet: Samstag, 17. Oktober 2009 19:47
An: Differenz_Theorie
Betreff: Re: Eliten

Rolf Todesco

unread,
Oct 18, 2009, 10:34:21 AM10/18/09
to differen...@googlegroups.com
Liebe Gruppe, Lieber Erhard
 
ich gebe gerne ein Beispiel in einem eigenen Thread, aber ich will es vorab
in einer "Vorverhandlung" kommentieren. Ich will sagen, wofür MEIN
Beispiel steht.
 
Die Vereinbarung, die ich meine, vereinbart Textsequenzen. Die geschieht
mehr oder weniger konventionell. Eine typische Vereinbarung ist ein Lexikon-
eintrag der dem Schema folgt x wird ersetzt durch yz. Als Leser des
Lexikons überlege ich mir genau, ob ich die Worte SO verwende, oder eben
nicht.
Ich spreche genau dann von einem Lexikon, wenn ich beobachte, dass dieses
Ueberprüfen beabsichtigt wird.
 
Wann immer ich aber Worte verwende oder lese, erkenne ich eine Enladung,
die Wortverwendung darauf hin zu beobachten, wer diese Worte so verwendet
und wer gerade nicht.
 
Also: Alles was hier steht KANN als Vereinbarungseinladung gelesen werden.
Ich werde aber - für Erhard - gerne einen wesentlich einfacheren Text vorlegen,
bei welchem ich leichter entscheiden kann, ob ich die Worte so verwende oder
nicht, nämlich eben einen expliziten Lexikoneintrag.
 
Und noch das:
Ich arbeite zur Zeit (aber halt mit einem Jahre-Horizont wie Luhmann) an einem
Text zur Wikipedia, in welchem es genau darum geht, was Leser mit den
Verinbarungsvorschlägen so tun.

Rolf Todesco

unread,
Oct 18, 2009, 10:45:23 AM10/18/09
to differen...@googlegroups.com
Als Text bezeichne ich jede durch eine Grammatik (Chomskygenerator)
generierte Menge von Zeichenketten, unabhängig davon, wozu ich sie
verwenden. Abstrakt, als Texte sind sich ein Computerprogramm und ein
Liebesbrief gleich.
 
Rolf
 
 
Ich lade jeden Leser dieses Textes ein zu prüfen, ob er diesen Text auch
schreiben würde. Es geht mir dabei also nicht, darum, wer was versteht,
sondern um diesen Text.
 
Es mag Leser geben, die das nicht leicht entscheiden können und deshalb
die nächsten dreissig Jahre darüber hin und herstudieren. Deshalb schlage
ich eine Ruckzuck-Entscheidung vor, die innerhalb weniger (höchstens 20)
Minuten getroffen wird. (Ich hoffe, das dient Dir Erhard ;-))
 
 

Pluto der Planet

unread,
Oct 18, 2009, 12:00:55 PM10/18/09
to differen...@googlegroups.com

Lieber Rolf,

 

da ich kein Computer bin, kann ich einen Liebesbrief zwar ohne Mühe als Text und Zeichenkette erkennen, aber abstrakte, maschinengenerierte Zeichenketten nicht als plausible und für mich anschlussfähige Texte. Von André angeregt habe ich mit der Taschenlampe weitergesucht, um die Rückentitel klarer und lesebarer heraustreten zu lassen, und siehe da: Die „Enden der Parabel“ von Thomas Pynchon wurden gefunden. Eine taussendseitige Zeichenkette, die oft plausibel aussieht, aber dennoch für mich nur punktuell anschlussfähig erscheint. Bei Seite 162 fand ich ein (mein) Lesezeichen. An diesem Punkt hatte vor Jahren aufgegeben. Das von André erwähnte Zitat habe ich gefunden. Herausgelöst ein schöner Satz, den man sofort als sinnvoll und anschliessbar empfindet.

Ich fürchte: Programmiererdenken liegt  mir nicht. Ich würde Lexikoneinträge nie als Vereinbarung ansehen, es sind – wenn sie gut durchgearbeitet sind – meist redundanzfreie Texte, aber schon beim Lesen forme ich sie automatisch um und mache sie für meine Gedankenwelt passend. Das wird hier ein Konsenzgraben werden (falls Konsenzgraben ein zulässiges Wort ist und kein intrinsicher Widerspruch).

 

Eine triviale Randbemerkung zu den eigehenden Postings und ihre nachlässigen oder gedankenlosen Poster: Nicht immer die gesamte vorangegangene Zeichenkette stehen lassen, das belastet alle Festplatten und ist zum Verständnis nicht nötig. Der letzte Post oder gar seine wichtigsten Sätze genügen doch, oder?

 

Gruss vom Berliner

Erhard Muesse

unread,
Oct 18, 2009, 1:01:24 PM10/18/09
to differen...@googlegroups.com
Lieber Rolf, Lieber Berliner, Liebe Sonntags-Liste, "Als Text bezeichne ich jede durch eine Grammatik (Chomskygenerator) generierte Menge von Zeichenketten, unabhängig davon, wozu ich sie verwenden. Abstrakt, als Texte sind sich ein Computerprogramm und ein Liebesbrief gleich." gegen die genannte Verwendungsweise von >>Text<< habe ich keine großartigen Einwände. Als (ehemaliger) Programmierer und EDV-Dozent kann ich mich sogar daran erinnern, in meinen Seminaren Vergleichbares gesagt zu haben. Auch ein Computerprogramm ist wie ein Liebesbrief ( oder eine Email, ein Leserbrief, eine Rechnung oder eine Eingliederungsverarbeitung) ein Text - sogar ein Gebrauchstext, der zu einem bestimmten Anlass im Hinblick auf einen bestimmten Zweck an oder für einen bestimmten Adressaten erstellt wurde. Selbst Tagebucheinträge (die an mich selbst adressiert sind) würde ich in dieser Weise als Text begreifen können. Und jeder anlass- und zweckbestimmte Text wird, ebenso wie eine mündliche Mitteilung, darüber informieren, wie er und als was er verstanden werden will. Dazu muß er sich der sprachlichen Mittel bedienen, von denen er annehmen kann, dass sie beim Adressaten verstanden werden können. Bei Texten für Computer heißt dies: die bekannten Elemente einer Programmiersprache. (Ob in diesem Zusammhang Herr Chomsky hilfreich ist, weis ich nicht, auch wenn ich im Umkreis der Sprechakttheorie, der Gebrauchstheorie der Bedeutung von Wittgenstein usw. auch etwas über generative Grammatik von Chomsky gehört habe. Aber das ist lang her.) Jedenfalls ist ein Text über >>Text<< - zumal für Wikipedia - auch ein Gebrauchstext, der geeignete Unterscheidungs- und Beschreibungsformen wählen muß- immer im Hinblick auf den Verstehenshorizont möglicher Rezipienten. Das eine Text-Definition für den Adressatenkreis "Textwissenschaftler" vielleicht völlig anders ausfallen müsste, könnte ich mir auch vorstellen. Trotzallem Gesagten habe ich den Eindruck, ich weis nicht recht um was es geht. Lieber Berliner, Dissensgraben sollten wir als neues Wort in unser Sprache aufnehmen und gemeinsam eine richtig tolle Verwendungspraxis dafür generieren. (Wer anderen einen Dissensgraben gräbt wird auf die Schippe genommen nicht unter einem Lachjahr!) Nach einer geraumen Erprobungszeit sollten wir diesen Begriff dann Wikipedia einverleiben. Vielleicht geht dann zwar kein Ruck, aber doch ein Lachen durch's Land. Gruss Erhard

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Rolf Todesco

unread,
Oct 18, 2009, 2:23:13 PM10/18/09
to differen...@googlegroups.com
Liebe Gruppe
 
Erhard schreibt: Trotzallem Gesagten habe ich den Eindruck, ich weis nicht recht um was es geht.
 
Ich meine, dass ich von Erhard eine Frage bekommen habe, und dass ich diese
Frage beantwortet habe. Ich habe auf die Frage geantwortet, ob ich ein Beispiel
geben könne für das, was ich als Verinbarungseinladung bezeichnet habe.
 
Ich habe das in einer Mail nochmals erläutert und in einer zweiten mail ein
Beispiel gegeben.
 
Es geht darum, ob der Leser den Text auch schreiben kann oder nicht.
Soweit ich die Reaktion verstanden habe, kann Erhard das ohne weiteres auch tun,
während der Berliner es nicht  oder nur unter extremen Umständen tun kann.
 
Dass beide noch ganz viel zusätzliches anfügen, also viel Text produzieren, ist für
die Vereinbarung unerheblich. Der ein macht mit, der andere nicht. Darin sehe ich
die fundamentale Differenz.
 
Bis hierher. Und jetzt könnte sich die Kommunikation weiterentwickeln, durchaus so,
dass gegeben Einverständnisse und gegeben Ablehnungen relativiert und umgekehrt
würden. Ich lese ja Eure Texte auch als Vereinbarungsvorschläge. Ich frage mich,
ob oder was ich davon auch sagen könnte.
 
Und um die Sache nochmals in meinen Worten zu sagen: Es geht mir nicht darum,
wie die Sätze interpretiert oder verstanden werden, sondern um die Sätze. Kann ich
die Sätze SO sagen oder nicht. Kann der andere die Sätze so sagen oder nicht?
 
In der Wikipedia (meiner Wahrnehmung) gibt es eine interessante Sache. Zu jedem
Stichwort gibt es einen Artikel und eine Diskussion. Der Artikel hat nur einen Zustand,
obwohl beliebig viele Menschen ihn schreiben. Die Diskussion enthält beliebige
Vielfalt, Streitereinen und Autorennamen. Das ist die Differenz, die ich meine.
 
Herzlich
Rolf
 
 
 

Erhard Muesse

unread,
Oct 18, 2009, 3:28:41 PM10/18/09
to differen...@googlegroups.com
Lieber Rolf,

vielleicht verstehe ich das Probleme (wenn es denn eins gibt) deshalb nicht, weil ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sehe. Dabei mag die Erwartung ein Rolle spielen, dass ich den Hinweis auf Differenz t h e o r i e in dem Beispiel über Text vermisse. Natürlich gibt es viele Sätze oder Wortverwendungsweisen - in unterschiedlichen Kontexten - die ich völlig unproblematisch gleichsam selbst in den Mund nehmen könnte (oder notfalls völlig desinteresiert mich abwenden würde). Bei Theorie denke ich hingegen an wahres/unwahres Wissen , das der methodischen Generierung, Explikation und (empirischen und/oder argumentativen) Prüfung fähig ist.

Ich erinnere mich etwa an eine Formulierung von mir - die in etwa gelautet hat:
Die Differenztheorie i s t die Empirie der Systemtheorie.

Könnte man mit einer solchen Formulierung auch eine >>Vereinbarungseinladung<< verknüpfen, die dann vergleichbar ( wie soll ich sagen?) "gleichgültig" erprobt würde?

Herzlich

Erhard
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Rolf Todesco

unread,
Oct 18, 2009, 6:07:19 PM10/18/09
to differen...@googlegroups.com
Lieber Erhard
 
>> Die Differenztheorie  i s t die Empirie der  Systemtheorie.
> Könnte man mit einer solchen Formulierung auch eine >>Vereinbarungseinladung<<
> verknüpfen, die dann vergleichbar ( wie soll ich sagen?) "gleichgültig" erprobt würde?
Ich lese Deinen Satz als Vereinbarungseinladung. Zunächst gelingt es mir nicht, diesen
Satz zu äussern. Aber ich weiss, dass es möglicherweise dem Berliner gelingt. Dann
hätten wir wieder eine Situation, in welcher jemand einen Satz auch sagen kann und
jemanden, der es nicht kann - und die Option, dass beide ihre Sprechmöglichkeiten verändern
oder eben nicht.
 
Ich lese jetzt Deinen Beitrag auch als Ersetzung des Beispiels. Mein Beispiel war "Text",
Nun lese ich ein anderes Beispiel, anhand dessen wir die Sache untersuchen könnten.
Ich nabe nichts gegen dieses Beispiel, mir ist es gut wie meins. Meine Frage ist zunächst,
ob es tatsächlich als Beispiel für eine befristete Erwägung der Vereinbarungseinladung
sein soll.
 
Wenn ja.
 
Dann sage ich, dass ich diesen Satz nicht sagen kann, dass wir also eine Differenz haben.
Wir können mit dieser Differenz so umgehen, dass wir den Satz so ändern, dass er für Dich
noch sagbar ist, während er für mich auch sagbar wird.
Das ist in etwa das, was bei Wikipedia-Artikeln versucht wird.
 
Quasi auf der Diskussionsseite gibt es Erläuterungen, die dazu dienen können, zu verstehen,
in welche Richtung sich die Formulierung bewegt. Darin sehe ich pragmatisches Handeln,
das ich unter Kategorienen wie Metatext begreifen. Aber das, was interessiert, wird im
Artikel, nicht in der Diskussion behandelt.
 
Eine gängige Option erkenne ich anfänglich darin, den ganzen Artikel zu überschreiben:
 
Bei "Theorie" denke ich nicht an wahres/unwahres Wissen (das tue ich bei "Hypothesen"),
bei Theorie denke ich an "Anschaungen", in welchen bestimmte Aussagen zusammenpassen
oder eben nicht.
 
Ich spreche hier aber nicht über Theorie, sondern darüber, wie ein Beispiel zur Vereinbarungs-
Einladung vorgeschlagen, gelesen und behandelt werden kann.
Wenn wir dann "Theorie" als Beispiel nehmen (oder die Aussage, dass eine Theorie Empirie einer
Theorie sein soll) könnten wir Differenz klären. Wir könnten finden, das zwei verschiedenen
Beobachter mit verschiedenen Kategorien Differenzen erzeugen, die sie vielleicht in einer
dialektischen Synthese aufheben können.
 
Und ich bin sehr dafür, dass wir neben der "Artikelseite" auch die "Diskussionsseite" benutzen.
Dort schreibe ich beispielsweise, dass eine Theorie etwas ganz anderes als eine Hypothese ist,
dass sie also nie wahr/falsch sein kann und auch keine Wissensinhalte repräsentiert.
 
Herzlich
Rolf
 
 

Pluto der Planet

unread,
Oct 19, 2009, 3:48:48 AM10/19/09
to differen...@googlegroups.com

Lieber Rolf, lieber Erhard, liebe Listis,

 

EIN Groschen – scheint mir – ist bei mir jetzt gefallen: Wir schreiben hier den Listenartikel „Differenztheorie“.

 

Erhards Vorschlag hierzu lautet: „Die Differenztheorie  i s t  die Empirie der Systemtheorie.“ Soweit bis jetzt also die „Artikelseite“.

 

Jetzt die „Diskussionsseite“: Erste Ansage von mir: Wie Rolf kann ich diesen Satz, diesen „Artikel“, SO nicht lesen; vulgo: ich verstehe ihn nicht.

Fragen: a) Soll „ist“ ontologisch gemeint sein? Es gibt ja diese Theorie noch nirgends, oder? Sie wurde doch nicht gedruckt als ein Text. B) „Empirie“ bedeutet Erfahrung. Gäbe es eine Differenztheorie, könnte man mit ihren Aussagen Erfahrungen machen, Sachverhalte oder Tatbestände verifizieren auf wahr/falsch. C) Was ist mit Systemtheorie gemeint? Irgendein Konstrukt?, eine Handlungsvorschrift? Oder gar die Luhmann’sche Systemtheorie S = S/U ?

 

Soviel zur „Artikelseite“ (Den Satz kann ich noch nicht umschreiben; erst muss Erhard sich hierzu äussern.)

 

Meine Meinung zur „Diskussionsseite“ habe ich gesagt.

 

Gruss vom Berliner

 

Pluto der Planet

unread,
Oct 19, 2009, 5:09:15 AM10/19/09
to differen...@googlegroups.com

An die Differenzliste:

 

Wenn wir von Luhmann ausgehen, sollte man dann nicht als FORM schreiben:

 

Diffenztheorie = Differenztheorie/???

 

Was wäre denn das Gegenteil, das Komplement, um die Form zu vervollständigen, von Differenztheorie: Chaostheorie? Alltagsgerede?

 

Das wäre also auch zu klären, damit dann auf der „Artikelseite“ der Erhard’sche Satz für alle lesbar würde.

 

Gruss vom Berliner

 

P.S. Und sogleich wäre zu klären, was Weder „Differenztheorie“ noch „???“ wäre, also dasjenige, was NICHT beobachtet werden könnte, wenn man mit der Differenz Differenztheorie/??? Arbeiten wollte:

 

Also: Differenztheorie/????  //  ????

Rolf Todesco

unread,
Oct 19, 2009, 5:53:44 AM10/19/09
to differen...@googlegroups.com
Liebe Gruppe
 
für mich läuft die Sache jetzt perfekt:
 
Erhard hat nach einem zeitlich limitierten Beispiel gefragt. Mein Beispiel war
ein sehr kleines, nämlich Text. Dieses Beispiel haben wir ersetzt durch
Die Differenztheorie  i s t  die Empirie der Systemtheorie
 
und der Berliner hat jetzt einerseits die Vereinbarung SO abgelehnt und
andererseits auf der Diskussionsseite etwas dazu geschrieben, was ich
als Begründung (oder als kritisches Nachfragen) lesen könnte.
 
Ich lese aber keine Begründung und keine Fragen, sondern Vereinbarungsangebote.
 
Also auch auf der Diskussionsseite frage ich mich: Könnte ich das auch SO
sagen?
 
Soviel zum perfekten Spiel der Differenztheorie (Meine Theoriefreund G. Spencer-Brown:
Dieses Spiel geht nur zu zweit)
 
INNERHALB des Spiels antworte ich unter "Differenztheorie 42", weil wir dann sicher noch
ganz viele Differenztheorien finden werden, und die Nummerierung keine Vor- oder Nachrangikeit
abbilden soll.
 
Herzlich
Rolf
 
 
 
 
----- Original Message -----

Pluto der Planet

unread,
Oct 19, 2009, 5:57:10 AM10/19/09
to differen...@googlegroups.com

 

 

Lieber Rolf, lieber Erhard, liebe Listis,

 

These: Die Hoffnung auf „einen“ bedeutungsfesten Text, sei es als Theorie, sei es als Vereinbarung, der oder die für alle Beobachter dasselbe sein könnte, wäre fundamentalistisch, jedoch – zum Glück für alle aufrechten Beobachter – gegenbeobachtbar!

 

Gruss vom Berliner

 

Rolf Todesco

unread,
Oct 19, 2009, 6:11:07 AM10/19/09
to differen...@googlegroups.com
Liebe Gruppe
 

> Also: Differenztheorie/????  //  ????

 

ich neige dazu, die Sache etwas umfassender (nicht ganz 30 Jahre) anzugehen.

 

Man könnte meinen (alltagssprachlich?) Dass der Aufdruck Differenztheorie

eine spezielle Theorie bezeichne. Ich müsste dann sagen, was eine Theorie ist,

und was das spezifische der Differenztheorie ist.

 

Also: Theorie / ????  // ????

 

Ich neige aber dazu, dass die Differenztheorie keine Theorie ist, wobei ich auch (noch)

nicht sagen würde, dass sie eine Empirie ist (was natürlich mit der Vereinbarung

von Empirie zusammenhängt)

 

Als Differenztheorie sehe ich das Vereinbarungsangebot (übrigens habe ich einen

derartigen Satz noch nie formuliert, weil mir der Ausdruck Vereinbarungsangebot

neu zugefallen ist), als erstes immer Differenzen in der Form x / ?? // ?? zu bestimmen.

 

Ich habe dazu ein Beispiel gegeben:

Als Ziel bezeichne ich die Differenz zwischen Purpose and Teleology, also zwischen
Zweck und Ziel. Diese Unterscheidung ziehe ich in bezug auf Bavior und die
Unterscheidung besteht darin, dass ich dem Verhalten ein Subjekt zuschreibe oder nicht.
 
Ich gebe also noch ein Beispiel:
Differenztheoretisch kann man Theorie als Differenz zwischen einer Begründung einer
Erklärung und einer Anweisung des Beobachtens, sehen. Als Einheit der Differenz
sehe ich die reflektierte Perspektive der Anschauung (theoria (griechisch) für Anschauung),
weil beidseits der Differenz bestimmt wird, wie geschaut werden muss, um das zu sehen,
was durch die Theorie zu sehen ist.
 
Soweit zu einer beliebigen Variante (eben die 42.) der Differenztheorie(n)
 
Herzlich
Rolf
 
 
 
 
 
 

 

 

 

 

Pluto der Planet

unread,
Oct 19, 2009, 6:25:31 AM10/19/09
to differen...@googlegroups.com

Lieber Rolf, liebe Gruppe:

 

Erster Zustimmungsschritt meinerseits, also als ein Vereinbarungsangebot:

 

Differenzen haben immer die FORM: x = x/y  //  z

 

Hier ist „x/y“ die beobachtbare Differenz; und „z“ ist dann das, was man mit dieser Differenz NICHT beobachten kann: Die Einheit dieser Differenz.

 

Gruss vom Berliner

Erhard

unread,
Oct 19, 2009, 6:30:33 AM10/19/09
to Differenz_Theorie
Lieber Rolf, Lieber Berliner, Liebe Liste


> EIN Groschen – scheint mir – ist bei mir jetzt gefallen: Wir schreiben hier
> den Listenartikel „Differenztheorie“.

Auch wenn ich selber noch nicht so genau weis, was wir hier machen,
sehe ich doch mit einiger Beunruhigung, wie weit ich mich mit dem Satz
"Die Differenztheorie i s t die Empirie der Systemtheorie" aus dem
Fenster gelehnt habe. Der Satz ist nicht nur als Provokation für
mögliche Leser gedacht, sondern eigentlich - und dies viel
ursprünglicher und nachdrücklicher - als Selbstprovokation. In ihm
drückt sich,wie in einer Nußschale, aus, was ich meine, aus einer
Beschäftigung mit Soziologie - seit den Tagen des
Positivismusstreites, über die sprachtheoretisches Wende bei Habermas
bis hin zur konstruktivistischen Wende bei Luhmann - glaube gelernt zu
haben, ohne es bereits in klare Worte fassen zu können. Aber wer sich
aus dem Fenster lehnt, der muß wohl auch mal den Mut aufbringen, zu
springen - oder er sollte vom Fenster wegbleiben. Ich bin also weit
davon entfernt, einen "Artikelsatz" zu schreiben.

Was dieser Satz im Kern aussagen (oder errinnerungsfähig,
äußerungsfähig machen) will, ist, das zwischen Theorie und Empirie
sich nicht mehr so klar unterscheiden läßt, wenn wir es mit
Sinnsystemen (Bewußtsein, Kommunikation) zu tun haben, wie dies ein
naturwissenschaftlich inspiriertes Verständnis (seinerzeit) von
Theorie und Empirie vielleicht gerne möchte.
Der Einwand beispielsweise, der hier im Hinblick auf die
Gehirnforschung [-(Stichwort: Janisch, Sprache der Gehirnforschung)-]
ja schon ansatzweise zu Wort gekommen ist, besteht ja darin,
nachzuweisen wie stark theoriegetränkt die naturwissenschaftliche
Empirie bereits ist und das sich ihre Erkenntisse keinerswegs einer
theoriefreien (theoriewiderlegenden) "reinen" oder "unabhängigen"
Erfahrung verdanken. Solche Einwände und Argumentationsmuster basieren
ja auf dem "linguistic turn", von dem sich Philosophen ermutigt
fühlen, ein klärendes Gespräch mit philosophierenden
Naturwissenschaftlern über die Sprachspiele der Gehirnforschung zu
führen. Im Bereich der Human- und Sozialwissenschaften nimmt der
"linguistic turn" noch eine deutlich drastischer Form an: hier gibt es
keine sprachfreie ( also theorieunabhängige) Wirklichkeit mehr, die
sich mit geeigneten Instrumenten "abtasten" und in sprachliche
Aussagen überführen ließe. Alle Erkenntis - Subjekt und Objekt - sind
hier bereits theorieimprägniert, weil sie sinnhaft strukturierte
Gegenstände sind, die nur im Medium Sinn Informationen über sich
selber prozessieren können. In Soziale System (wenn ich recht
erinnere) sagt Luhmann. Differenz ist die Bedingung der Möglichkeit
von Informationsverarbeitung. Und der Modus der Selbst- und
Fremdbeobachtung - , aber auch die Technik und Reflexionstheorie, -
des Prozessierens von Informationen im Medium Sinn ist- bei Soziologen
auf dem Planet Bielefeld - nun einmal angewandte Formtheorie. In
diesem Sinne i s t die Differenztheorie - also die angwandte
Formtheorie (respektive funktionaler Aquvivalente) - d i e Empirie der
Systemtheorie. Das es sich dabei um eine explizit nicht-ontologische
Erkenntispraxis und Erkenntistheorie handelt, ist mir nicht
entgangen. Der ontologische Zungenschlag meiner Formulierung sollte
nur nochmals unterstreichen, wie unangemessen meine verkürzte
Sprechweise ist.
Was bleibt, ist jedenfalls, dass die Bielefelder eine durchaus
spezifizierbare Art der Empierie haben.
Das mag als Erstes ein kleiner Fingerzeig sein, für die Überlegungen,
die ich mit dieser These verbinde.

Ich plage mich natürlich nicht nur mit diesem einen Satz. Ein anderer
lautet zum Beispiel: "Die großartige Gesellschaftheorie Luhmanns, also
"Die Gesellschaft der Gesellschaft" , i s t die Metaphysik der
Modernen Gesellschaft."

Ich befürchte, ich mache mir heute nicht nur Freu(n)de.


Herzliche Grüsse

Erhard




On 19 Okt., 09:48, "Pluto der Planet" <pluto-der-pla...@online.de>
wrote:

Pluto der Planet

unread,
Oct 19, 2009, 7:58:33 AM10/19/09
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Lieber Erhard,

 

keine Angst, mir haben Sie mit Ihren stringenten Überlegungen Freu(n)de gemacht, soll heissen: Ich freue mich und wäre gerne Ihr Freund, weil ich spüre, wie beide ticken ähnlich. Aber: So etwas muss sich selbstverständlich erst einmal bewähren.

 

Hier ein paar soeben gelesene Sätze, lose gereiht, die meines Erachtens sehr gut in das von Ihnen beackerte und in der letzten Mail allen zugänglich gemachte Gedankenfeld passen könnten:

 

Luhmanns Theorie hat den Duktus einer allgemeinen Theorie von Sinnsystemen; psychische und soziale.

 

Luhmanns Theorie ist eine äquivalenz-funktionalistische Theorie; sie erzeugt keine Entitäten, sondern sie konstruiert Probleme, als deren Lösung je fragliche Phänomene beobachtet werden können.

 

Es geht bei Luhmann im Prinzip immer um die Inszenierung einer Deutbarkeit in einem Auswahlbereich vergleichbarer Lösungen desselben Problems; (funktionale Äquivalente).

 

Die Soziologie hat es nicht mit Begründungsfragen der Kausalität zu tun.

 

Es gibt kaum einen sozialen Zusammenhang, der nicht mit Freiheit, Schuld und Verantwortung verbunden ist.

 

Bei allen Formbestimmungen wird das zu Bestimmende (Definiendum) in die Unterscheidung einkopiert und in dieser Verdoppelung IMAGINÄR. (Das von mir genannte Beispiel war: x = x/y  //  z).

 

Die Luhmann’sche Systemtheorie sieht eine Welt, die sich nur als stabil instabil beobachten lässt.

 

Psychische Systeme (also: Bewusstsein) sind nicht determiniert, denn determiniertes Bewusstsein würde eine Grundvoraussetzung sozialer Systeme verletzen; (weil undurchschaubare psychische Systeme für soziale Systeme unerlässlich sind).

 

Soziale Systeme errechnen die für sie relevante psychische Umwelt der Bewusstseine als nicht-triviale Maschinen im Sinne des Heinz von Foerster.

 

Sinnsysteme können es sich – allein aus Zeitgründen – gar nicht leisten, immerfort in die unergründlichen „Kausaltiefen“ (zum Beispiel von Mittel, Zweck und Ziel) komplex determinierter Verhältnisse hineinzurechnen, wenn Verstehen noch möglich sein soll.

 

Ob individuelles Handeln in Personen determiniert abläuft oder nicht, ist völlig irrelevant. (Man kann so tun, als ob, weiss aber, es ist nicht zu wissen: blackbox).

 

Partner sind leichter zu beeinflussen als zu berechnen.

 

Nach Luhmann ist die Selbstberechnung,  im Sinne einer kompletten Kausalitätsberechnung, viel zu langsam: „Freiheit ist ein Resultat von Eile …“. Anders: Die Unterstellbarkeit von Freiheitsgraden in psychischen Systemen ist zunächst eine conditio sine qua non sozialer Systeme. (Wieder ein notweniges Als-ob).

 

Kommunikation als elementare Einheit sozialer Systeme, die Information/Mitteilung/Verstehen zusammenzieht, reduziert die nicht im Ganzen zu beobachtende Komplexität.

 

Handeln bedeutet immer, dass – gleichsam konventionell – Kausalität ausgeschaltet ist – zugunsten der Zurechnung auf einen Entschluss, eine Entscheidung, auf ein Gewolltes.

 

Eine Illusion ist eine Beobachtung im Schema Sein/Schein.

 

Psychische Systeme sind zwar an eine lebende (somatische) Infrastruktur/Infraprozessualität gekoppelt, sie sind aber selbst nicht Körper, haben keine Ausdehnung, bewohnen keinen Ort.

 

Psychische Systeme leben nicht und unterliegen nicht der Welt der Physik.

 

Nichts im Körper denkt, auch das Gehirn nicht. Alles andere wäre ein Kategorienfehler. (Das ins Stammbuch der sich gottgleich dünkenden Gehirnforscher).

 

Wahrnehmung und Kognition sind selbstverständlich nicht körperfrei, aber: die somatische Infrastruktur ist die Bedingung der Möglichkeit zur Entstehung eines ganz anderen, nicht-neuronal codierten Systemtyps.

 

Psyche realisiert sich nicht im Medium neuronaler Ereignisse, sondern im Medium Sinn, und zwar auf der Basis der sozialen Interpretation solcher Ereignisse.

 

Das General-Medium Sinn hat keine Eigenexistenz, es steckt nirgendwo drin, weder in Büchern, noch in Filmen und auch nicht in Gehirnen. (Wohl auch nicht in Theorien, oder doch?).

 

In der Sinnhaftigkeit allen menschlichen Erlebens liegt begründet, das alles Wahrgenommene als Selektion aus anderen Möglichkeiten erlebt wird, hat Luhmann schon früh auf der Basis der Husserlschen Phänomenologie formuliert.

 

Soweit meine Lesefrüchte. Ich bin sicher, all dies darf man nie aus den Augen verlieren.

 

Gruss vom Berliner

 

Pluto der Planet

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Oct 19, 2009, 8:37:47 AM10/19/09
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Lieber Erhard,

 

noch ein Hinweis zur Selbstvergewisserung (wer anfängt zu lesen, was andere gesehen haben, muss sich ja verstricken):

 

„Historisch gesehen, startet die Systemtheorie, wie sie durch Niklas Luhmann ausgebaut und zum Teil neu entwickelt wurde, auf den ersten Blick als funktionalistische Theorie. Erst ein zweiter und genauerer Blick zeigt, dass diese Theorie selbst nicht die Eigenschaften eines wie immer gearteten Funktionalismus hat, sondern die funktionale Analyse als Methode reflektiert (also eine Theorie dieser Analyse liefert) die zentral an die Stelle zwischen Theorie und (Re-)Konstruktion des Phänomenenbereichs Sozialität plaziert wird unter Einschluss der Rekonstruktion der dies rekonstruierenden Theorie. Funktionale Analyse ist, so gesehen, eine Theorietechnik [sc. Empirie; der Berliner] durch die das wissenschaftliche Abtasten von Differenzen, das der Informationsgewinnung dient, in eine besondere Form gebracht wird. Mit anderen Worten (bezogen auf ein häufig vorzufindendes Missverständnis): Die Theorie der Methode ist nicht identisch mit der Methode der Theorie.“

 

Lieber Ehrhard, dieser Text relativiert a) das erwähnte Hinauslehnen aus dem Fenster, weil jetzt b) deutlicher wird – jedenfalls mir – das der Satz „Die Differenztheorie IST die Empirie der Systemtheorie“ tatsächlich seine Berechtigung hat.

 

Und dann ist es ja nur noch ein kleiner Schritt für die Theorie, aber ein grosser Schritt für die Menschheit der Moderne, wenn es folgerichtig heissen soll: „>>Die Gesellschaft der Gesellschaft<< IST die Metaphysik der Modernen Gesellschaft“. Ich gehe davon aus, das „Metaphysik“ hier auch mit „Leitidee“  oder „Erkenntnisleitende Idee“ zu übersetzen wäre. 

 

Gruss vom Berliner

 

Erhard

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Oct 19, 2009, 9:35:06 AM10/19/09
to Differenz_Theorie


On 19 Okt., 13:58, "Pluto der Planet" <pluto-der-pla...@online.de>
wrote:
> Lieber Erhard,
>
> keine Angst, mir haben Sie mit Ihren stringenten Überlegungen Freu(n)de
> gemacht, soll heissen: Ich freue mich und wäre gerne Ihr Freund, weil ich
> spüre, wie beide ticken ähnlich. Aber: So etwas muss sich selbstverständlich
> erst einmal bewähren.
>


Lieber Berliner,

ich will mich ganz spontan - aber hoffentlich auch wirklich kurz -
freudig und freundlich rückäußern. Fast möchte ich mit einem anderen
Berliner antworten: "Hier wächst zusammen, was zusamen
gehört.." (Willy Brandt, angesichts der deutschen Wiedervereinigung).
Also bei mir freut es sich auch - und ich werde es wachsen lassen.


Da wir gerade beim Thema Freundschaft/Zuneigung etc. sind möchte ich
noch hinzufügen: ich vermisse irgendwie Herrn Adorno.

Erhard

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Oct 19, 2009, 5:04:55 PM10/19/09
to Differenz_Theorie
Liebe Liste, Lieber Herr Adorno, Lieber Berliner, Lieber Rolf!

Vielleicht hat Dirk Baecker ja doch Recht: Arbeiten ist gefährlich.
(ders, Studien zur nächsten Gesellschaft, Ffm 2007, 56-72)
Gleich zwei Stürze an einem Tag. Der vormittägliche Fenstersturz qua
Kurzerläuterung der These "Die Differenztheorie i s t die Empirie der
Systemtheorie" und am Nachmittag mitten im Schreiben der
Vermißtenmeldung für Herrn Adorno auch noch ein Computer(ab)sturz.

Plötzlich war alles weg und ich mußte das Haus - dringend - verlassen,
um auf den Hund kommen zu können. (Besagter Hund ist eine 11jährige
Schäferhundedame names Lady, die mich als Spaziergänger adoptiert hat,
und dank einer Erkältung und einem neuerlichen Theorieaufkommen seit
einer Woche auf ihre Spaziergänge - mit mir - verzichten mußte. Keine
Angst: die Hundedame hat eine eigene Familie - aber da ist das
Handwerk des Spazierengehens verkümmert. Jedenfalls findet die
Hundedame Soziologie und Differenztheorie in keinerweise ladylike!
Aber ich habe ihr elitäres Ansinnen, mich doch ausschließlich um Brot-
und Wurstkünste zu kümmern, tapfer zurückgewiesen. )

Warum vermisse ich Herrn Adorno. Zum einen wegen seiner Listenbeiträge
- auf die ich zugegebenerweise nicht rechtzeitig eingegangen bin. Zum
anderen vermisse ich aber Adorno, weil in der dialektischen
Gesellschaftstheorie der Zeit des Positivismusstreites sein Artikel
über "Gesellschaft" im Evangelischen Staatslexikon erschienen ist und
dort die These der sinnhaften Konstitution von Gesellschaft - und
Sozialität schlechthin - in einer anderen Theoriesprache gleichsam
nußschalenartig ausgedrückt ( und von ordentlichen Wissenschaftlern
zurückgewiesen) wurde: Sozialität/Gesellschaft ist ein stets auch
begrifflich konstitutierter Gegenstand und erfordere daher ein darauf
zugeschnittenes Erkenntnisverfahren. Womöglich hat erst eine
ausgeführte Theorie sinnkonstituierender Systeme es vermocht, einige
der Theoriepostulate der Kritischen Theorie angemessen auszuführen.

Nebenbei gesagt: Luhmann soll zu dieser Zeit auch in Frankfurt ( ich
glaube vertretungsweise) gelehrt haben. Ob dort die Abhandlung "Sinn
als Grundbegriff der Soziologie" (Luhmann 1971) entstanden ist, weiß
ich nicht. Meine These über das Sein der Differenztheorie könnte man
ja auch radikal Vereinfachen zu der Behauptung, dass heute Soziologie
nur noch als verstehende Soziologie möglich ist, die der sinnhaften
Konstitution des Sozialen Rechnung trägt. Der Modus in dem dies bei
der Systemtheorie geschieht, kann man unter den Titel angewandte
Differenztheorie bringen. Was die Systemtheorie demnach mit dem Fach
gemeinsam hat findet sich nicht in der Kontroverse ob Handeln oder
Kommunikation der zentrale Grundbegriff der Soziologie sei, sondern in
den unterschiedlichen Anläufen, "Sinn als Grundbegriff der Soziologie"
zu reflektieren und zu institutionalisieren.

Dass Arbeiten gefährlich ist, mithin auch theoriegeschichtliches
Arbeiten, hatte ich ja schon anzudeuten versucht. Lustigerweise ist
die These, die Dirk Baecker in diesem Aufsatz entwickelt, nämlich dass
sich Gesellschaft über die kommunikative Regulierung von Arbeit
konstituiert und reproduziert, der Grundthese von Adorno in seinem
"Gesellschaftsartikel" zum verwechseln ähnlich. Auch hier mag es
wieder gute theoriegeschichtliche Gründe geben, warum es 30Jahre
braucht, bis die Dinge in eine klare fachlich bearbeitbare Form
gebracht werden können.
Ich hatte zwar Luhmann zitierend den Zeitbedarf der
Gesellschafttheorie (selbst)ironisch hier eingebracht, aber ich möchte
doch auch bekunden, dass es gute Gründe für eben diesen
Eigenzeitbedarf der Gesellschafttheorie gibt. Sofern diese Ironie als
Selbstironie praktiziert wird, macht sie mir keine Sorgen.Aber ich
möchte den Zeitbedarf von Luhmann in keiner Weise kritisieren.

Jetzt wird es aber wirklich Zeit - welche auch immer!

Herzlich

Erhard




> Lieber Berliner,
>
> ich will mich ganz spontan - aber hoffentlich auch wirklich kurz -
> freudig und freundlich rückäußern. [...]

Rolf Todesco

unread,
Oct 20, 2009, 5:28:10 AM10/20/09
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Liebe Gruppe
 
>> EIN Groschen – scheint mir – ist bei mir jetzt gefallen: Wir schreiben hier
>> den Listenartikel „Differenztheorie“.

> Auch wenn ich selber noch nicht so genau weis, was wir hier machen,
> sehe ich doch mit einiger Beunruhigung, wie weit ich mich mit dem Satz
> "Die Differenztheorie i s t die Empirie der Systemtheorie" aus dem
> Fenster gelehnt habe.
 
Natürlich sehe ich aufgrund der Kontingenzen auch nicht, was WIR hier machen,
aber ich weiss, was ich hier gerne tun würde. Ich würde gerne "differenztheoretisieren",
also Differenzen beobachten, also meine Beobachtungen in Form von Differenzen
entfalten, ALSO ...
 
ich hätte Freude, wenn wir auf der "Artikelseite" die Form der Differenz etwas
durchspielen könnten, quasi erproben, was sich wie in Form bringen lässt.
Natürlich kann man auf der Diskussionsseite erwägen, welche Soziologiegeschichten
zur Formsicht führten, und was das der Soziologie gebrachte habe. Dazu weiss ich
leider einfach nicht so viel, weil ich in der Soziologie nicht mehr heimisch bin. Für
mich war Soziologie der Positivismusstreit und danach war sie aufgehoben
 
Gerne würde ich wieder Soziologe werden, als die Soziologie in den Artikelbereich
schieben und dort als Differenz FORMulieren.
 
Ich kann auch negativ sagen, was ich nicht machen will, weil ich das in der Luhmannliste
perfekt aufgehoben sehe. Ich will nicht in die Bescheidenheit, dass N. Luhmann die
Differenztheorie gemacht habe, und dass wir mithin schauen können, was er alles
durch sie (als Empirieform?) gefunden habe. Ich habe bei N. Luhmann kaum eine
andere Differenz gelesen als System=System/Umwelt. Ich habe das Buch von
D. Baecker "Form und Formen der Kommunikation" (ziemlich fassungslos) vor mir
liegen.
 
Vielleicht könnten wir anhand dieser (und ähnlich FORMkonkreter Bemühungen) prüfen,
inwiefern wir Vorbilder und Eliten bräuchten, wenn wir unsere Gegenstände in FORM
bringen wollen.
 
Herzlich
Rolf
 
PS Adorno wird sich sicher wieder melden, aber nicht jeder ist halt immer an der
Maschine dran.
 
 
 
 
 
 
 
 

Rolf Todesco

unread,
Oct 20, 2009, 6:22:18 AM10/20/09
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Liebe Gruppe
 
um in den Beispielen zu verweilen: Text als Differenz

(Differenzen haben immer die FORM: x = x/y  //  z)

 

Text = Text / ?? // ??

 

Zur Methode: Wie sollen wir die Platzhalter ( y oder ??) ersetzen? Wer ersetzt

sie weshalb wie?

 

Oder: Ist es blöd Text als Differenz zu sehen? Weshalb? (Oder ist das einfach

für Soziologen kein Thema, weil es nicht Soziologie ist?)

 

Und noch einen Gegenvorschlag (gestützt auf viele Beispiele von D. Baecker)

 

statt: Differenzen haben immer die FORM: x = x/y  //  z

gilt: Differenzen haben immer die FORM: x = a/b  //  c wobei x = a möglich ist

 

Dann müsste die Differenz zu Text nicht Text / b //c sein, sondern könnte

beispielsweise Text = Symbol / Zeichen // ??  sein

 

Herzlich

Rolf

 

 

 

 
 
----- Original Message -----

Pluto der Planet

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Oct 20, 2009, 8:06:01 AM10/20/09
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Lieber Rolf,

 

wie soll man einem helfen, wie kommt man jemandem näher, der offensichtlich nicht sieht, was doch offenbar für viele andere deutlich sichtbar ist, weil man es sogar auf den Tisch legen kann, wie eben zum Beispiel das Inhaltverzeichnis des Buches „Form und Formen der Kommunikation“ von Dirk Baecker.  Dieses sich eigentlich sehr bescheiden gebende Buch ist doch nichts weiter als eine Kurzfassung, ein Resümee, praktisch fast ein Lehrbuch der Luhmann’schen Theorie, die ja im Laufe ihrer eigenen Entwicklung viele (indirekte) Namen bekommen hat. Systemtheorie war dem Luhmann selber nicht mehr ganz geheuer, er hätte sie wohl eine zeitlang selber lieber schlicht Differenztheorie genannt. Aber das allein ist sie ja auch nicht. Das Luhmann’sche Theoriewerk enthält schliesslich noch andere Komponenten. Man denke zuerst einfach an die Namen derer, die ihm vorangingen oder gleichzeitig mit ihm lebten, und bei denen er sich bedient hat, aber nicht schlicht bedient, im Sinne von einfachen Übernahmen, sondern immer auf die allerintelligenteste Weise. Luhmann, als Beobachter, hat nämlich niemals Gedanken anderer übernommen, in Gestalt von ganzen Sätzen, Aussagen oder Hypothesen und Thesen, Luhmann hat immer nur FIGUREN übernommen, Denkfiguren.

 

Von der Phänomenologie, also von Husserl, hat er den Beobachter, der den Horizont sieht, den der Beobachter, als Beobachter, bei aller Annäherung, nicht erreichen und nicht überschreiten kann. Von Hegel, dem Meister und Philosophen des Anfangs und der systematischen Gedankenentwicklung mit ihrem grandiosen Abschluss- und End-Denken, hat er die Figur, es gebe gar keinen Anfang, und auch kein Ende: Theorie, sei sie auch noch so systematisch, sei work in progress. Von Talcott Parsons hat er die doppelte Kontingenz und die Einsicht in die Unmöglichkeit des Beherrschens von so etwas wie die unendliche Verschachtelung des AGIL-Schemas, an dem man zwar sehen kann, was Komplexität ist, das aber intrinsisch zum infiniten Regress neigt. Von Darwins Nachfolgern, also von der modernen Evolutionstheorie, hat er den Gedanken einer Entwicklung, die irgendwo, an einem Punkt vielleicht, in der Biologie eben mit der Erfindung der veränderten Weitergabe des Gehabten, also lässt auch er seine Theorie UND die Gesellschaft durch Variation/Selektion/Retention sich von selbst entwickeln. Den Biologen Maturana/Varela hat er dann den Gedanken der Autopoiesis abgenommen und die Paradoxie des geschlossenen/offenen Systems hinzugefügt, dazu noch die strukturelle Kopplung, die in vielem sich besser machte als die Interpenetration, die es schon bei Parsons gab. Dann kam die wirkliche kleine Revolution des Formgedankens: Aus Substanz/Form von Aristoteles und Form/Inhalt der Renaissance wurde nun – dank Heider und Georg Spencer Brown – der Gedanke der ständigen Zwei-Seiten-Form und das Gebilde Form/Medium. Mit diesen wesentlichsten Elementen begnüge ich mich hier. Luhmann hat mit dieser komplex verschachtelten Gedankenfülle, von der er selber sagte in „Soziale Systeme“, man könne dies Ganze eben nicht mehr linear vortragen, es hänge eben alles mit allem zusammen, man dürfe daher anfangen, wo man wolle, man sei eh immer „mittendrin“. Und Luhmann hat der Wissenschaft den Horror vor den angeblichen Ausweglosigkeiten ausgetrieben, die Angst vor Aporien, Tautologien, Zirkularitäten und eben Paradoxien. Und er hat praktisch die Ironie als Methode eingeführt: Es kann doch alles immer auch anders gesehen, beobachtet, gesagt und beschrieben werden, aber keinesfalls dürfe man glauben, was Feyerabend gesagt habe, dieses kindische „anything goes“, denn es gilt: wer A gesagt hat, der ist schon strukturell gebunden, er muss nun auch B sagen, denn es geht keinesfalls alles, es geht eben immer nur, was geht. Deshalb hat er auch die Überheblichkeit aller Rationalität durch ausführliche Darstellung in „Organisation und Entscheidung“ ad absurdum geführt und ergänzend zum Abschluss des Rationalitätsartikels gesagt: Rationalität allein reicht nicht, es müsse mindestens Intelligenz hinzukommen; und man darf deshalb getrost ergänzen: auch mindestens noch Intuition und Phantasie. Sonst klappt das nämlich nicht mit der unumgänglichen Entfaltung der unumgänglichen Paradoxien.

 

Das alles kann man, wenn man die Augen und den Blick dazu hat, schon aus dem Inhaltsverzeichnis beim genannten Buch von Dirk Baecker entnehmen. Dirk Baecker schreibt zwar nicht in dieser Liste, und er wird sie wohl auch kaum lesen. Aber wenn er hier auch nur virtuell anwesend ist, durch seine Texte, wir sollten ihn uns nicht vermiesen. Es bleibt zwar immer dabei: selber denken, selber formulieren, alles o.k., deshalb dürfen wir ja auch ohne uns rechtfertigen zu müssen, an einer eigenen Differenztheorie basteln (bricolage), wenn wir das wollen. Aber man lese, wie schon angedeutet, den Artikel von Luhmann über die Intelligenz, als FORM, im MEDIUM der Intellektualität, und damit über die Rolle der Intellektuellen. Jetzt bin ich nämlich sprachlos, lieber Rolf, wenn ich akzeptieren soll, es gebe bei Luhmann eigentlich nichts als die Differenz System/Umwelt und bei Baecker dann wohl nur Unverständliches. Wir sollten hier nicht den Geist von Dirk Baecker austreiben, so wie Werner Schumacher et al. den – zugegeben nicht immer leicht zu ertragenen Listen-Peter-Fuchs, der als Mensch, wenn man ihm gegenüber sitzt, so überaus freundlich und hilfsbereit ist – diesen Peter Fuchs also aus der Luhmannliste vertrieben haben.

 

Also, lieber Rolf: Zeigen sie uns ein paar Beispiele echter, brauchbarer Differenzen in Ihrem Sinne.

 

Gruss vom Berliner  

Rolf Todesco

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Oct 20, 2009, 8:31:10 AM10/20/09
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Lieber Berliner und Liebe Gruppe
 
durch die doppelte Kontingenz bekomme ich eine Art Rückmeldung, die mir
zeigt, dass meine Einladung eben kontingent war. Ich kann es einfach
nochmals versuchen.
 
Ich will niemanden vergraulen, ausschliessen oder der Unverständlichkeit
bezichtigen. Nicht und niemanden. Ich würde gerne selber denken, aber eben
nicht alleine denken. Ich würde gerne Differenzen beobachten, die nicht
bereits beobachtet sind.  
 
Und natürlich würde ich mir auch gerne helfen lassen, wo ich das offensichtliche
nicht sehen kann. Aber wie sollte man jemandem helfen, das Offensichtliche
zu sehen? Indem man sieht, dass es NICHT offensichtlich ist, indem man sieht,
wie die vermeintliche Offensichtlichkeit konstruiert ist.
 
Also ganz jenseits von allem Ausschliessen. Ich lese bei D. Baecker auf
Seite 60: Kommunikation = Bezeichnung / Unterscheidung
 
und ich dachte (und denke vorderhand noch)
 
Beobachtung = Bezeichnung / Unterscheidung
 
und müsste nun denken, dass Beobachtung und Kommunikation mit derselben
Unterscheidung funktionieren, dann aber offenbar vor verschiedenen Hintergründen //
 
Mir könnte man helfen, zu sehen, was hier verschieden ist, weil ich es bislang nicht
gesehen habe. Natürlich trage ich so eine Leseweise vor, die vielleicht ganz und gar
nicht passend ist. Dann könnte man mir eben auch auf dieser Ebene Hinweise
geben.
 
Und gerne wüsste ich, wie ich brauchbare Differenzen von nichtbrauchbaren Unterscheide.
Ich meine, dass ich mit "Text" und auch mit "Ziel" zwei Versuche gezeigt habe, wo
man mir auch auf der einen oder anderen Ebene helfen könnte. Vielleicht. Wenn man
so einem überhaupt helfen kann.
 
Herzlich
Rolf
 
 

Pluto der Planet

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Oct 20, 2009, 8:19:15 PM10/20/09
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Lieber Rolf,

 

leicht machen Sie es einem Leser Ihrer Texte wahrlich nicht: Ich erinnere mich – sehr lange ist es her – an den Meister der kleinen Werkschlosserei in einem der berühmten Betriebe, in denen ich als junger Lauser mal gearbeitet habe. Wenn der zum Arzt ging, dann mit seiner aufrichtigen Maxime „ich sage dem nie, was mir fehlt, der ist ja Arzt, der soll das selber herausfinden“. Was ich – ich spiele jetzt mal den Arzt, den Sie um Hilfe bitten – damit meine ist: Sie möchten brauchbare Differenzen von nichtbrauchen Differenzen Unterscheiden. Das geht gar nicht, denn für den Beobachter erster Ordnung sind ja alle Differenzen „brauchbar“, denn andere hat er ja nicht, denn: er sieht nur, was er sieht, und was nicht sieht, das sieht er eben nicht, weil: a) weil er einen Standpunkt eingenommen hat (freiwillig oder notgedrungen), bei dem es eben nicht mehr zu sehen gibt, (vielleicht vom geistiges Parterre aus, sprich Unterkomplexität, statt guter Sicht aus einen entsprechend besser unterrichteten „dritten oder vierten Stockwerk“), oder b) weil sein ansozialisierter Blinder Fleck so gross ist, dass er eben das Angepeilte nicht „besser“ sehen kann. Ein Beobachter dieses Beobachters könnte dies vielleicht erkennen, denn er kann (wenn er kann) mehr oder besseres oder anderes sehen als der von ihm beobachtet Beobachter erster Ordnung. Aber: Was der Beobachter erster Ordnung tatsächlich sieht, ist immer – für ihn – korrekt und damit – für ihn – auch „brauchbar“, denn dieses sein Beobachten spannt – für ihn – eine Welt auf, seine eigene Welt, in der er dann eben leben muss. Man kann ihm zunächst einmal gar nicht helfen, vor allem dann nicht, wenn er nicht sagt, WAS er denn „aus seinem Parterrefenster“ so sieht. Man kann ihn gar nicht korrigieren, wenn er nicht sagt (schreibt, mitteilt), was er denn sieht. Denn der Beobachter zweiten Grades – in Bezug auf den Beobachter ersten Grades – der sieht zwar Anderes, wenn die beiden (Systeme) miteinander kommunizieren, könnte eine neue Differenz entstehen, die BEIDEN einen neuen Blick auf das Beobachtete verschafft, aber: zuerst muss der Beobachter ersten Grades einmal sagen, WAS er sieht. Denn der Beobachter zweiten Grades – auch in diesem Falle – ist ja (für sich) auch nur ein Beobachter ersten Grades.

 

Was sehen Sie denn für Differenzen, die sie – zunächst wohl – für „brauchbar“ halten? Teilen Sie uns die doch einmal mit. Dann vergleichen wir sie mit dem, was wir so sehen beim Blick auf den gleichen Sachverhalt.  Worum soll es denn gehen? Was soll das Grundthema sein? Politik, Wirtschaft, Technik, soziale Gerechtigkeit, Freiheit oder staatlicher Zwang, die-da-oben-wir-hier-unten, der möglichen Themen sind ja unendlich viele. Nennen Sie, bitte eine einzige „brauchbare“ (für Sie, aus Ihrer Sicht in Ihrer Welt) Differenz, Sie werden es sehen, sofort kommt entweder Zustimmung oder es kommen Einwände (Konsens oder Dissens, dann aber – auch für Sie – sichtbar und konkret, allerdings: wiederum anfechtbar; ad infinitum).

 

Es gibt nämlich nur brauchbare Differenzen, die aus einer anderen Sicht nicht brauchbar sind. Ohne Kontext gibt es überhaupt keine Differenzen. In der Natur, die ja auch Welt ist, gibt es überhaupt keine Differenzen, wenn sie keiner beobachtet. Wer Differenzen will oder sucht oder mit ihnen forschen will, der muss sich welche machen. Manche führen dann halt nicht sehr weit, dennoch wird man sie prima facie nicht für unbrauchbar erklären dürfen.

 

Sprung: Da sagt einer, nachdem er vor aller Augen in etwas – für die anderen – Undefinierbares hineinbeißt: „Ah, süss“. Der zweite Beobachter, der das beobachtet, denkt sich dabei allerhand, also auch möglich Verschiedenes: a) der meint das Gegenteil von sauer; b) der meint das Gegenteil von bitter; c) der meint einfach unkritisch süss als einen generellen Unterschied zum Rest der Welt. Wenn man nämlich nicht nur den möglichen Auswahlbereich des Beißers nicht kennt, weil der so wortkarg bleibt, dann kann man das Gesagte gar nicht einsortieren. Man versteht den Beißer dann einfach nicht.

 

Das liegt einfach daran, dass Kommunikation zunächst einmal für jeden undurchschaubar ist, und zwar prinzipiell. Denn Kommunikation folgt ja nicht dem simplen (missverständlichen) Sender-Kanal-Empfänger-Prinzip. Kommunikation ist KEINE triviale Maschine, bei der ein definierter Input den Output kausal definiert und bewirkt. Kommunikation ist immer zunächst ein Bereich des Unbestimmten, den man – durch Beteiligung an dieser Kommunikation - bestimmbar machen kann (wenn man kann: Rationalität, Intelligenz, Intuition, Phantasie). Kommunikation lebt von Überraschung, Kommunikation erwartet auch Überraschungen (in Grenzen: strukturell, durch den als „Anfang“, vorgegebenen Auswahlbereich: es geht nie alles, aber es könnte so oder eben anders gehen, versuchen, bitte). Wer – das wäre dogmatisch oder fundamentalistisch – mit festgezurrten „brauchbaren“ Differenzen in eine Kommunikation hineinginge, der muss scheitern.

 

Soviel für heute. Ich war in einer anderen Stadt, bei einem Kabarett, ich habe die drei auf der Bühne beobachtet und wurde in jeder Minute mindestens einmal überrascht: Es kam immer anders, als ich es erwartet hatte. Das machte auch das Lachen aller aus. Keiner im Publikum hatte mit dem gerechnet, was man auf der Bühne zu sehen und zu hören bekam. Die drei auf der Bühne schilderten IHRE – für sie – brauchbaren Differenzen, mit denen sie die (ihre) Welt betrachteten, und es gab – das wette ich – mindesten einen/eine im Saal, die sich dachte, dass sind doch Idioten, die drei dort auf der Bühne. Wer wollte verbieten, in einer freien, nicht dogmatisierten Gesellschaft, die Vorstellung so zu sehen. Jedem Tierchen sein Pläsierchen.

 

Gute Nacht und Gruss vom Berliner an alle.  

Rolf Todesco

unread,
Oct 21, 2009, 6:06:01 AM10/21/09
to differen...@googlegroups.com
Lieber Berliner-Arzt
 
Der Berliner hat mir geschrieben:
> Also, lieber Rolf: Zeigen sie uns ein paar Beispiele echter, brauchbarer Differenzen in Ihrem Sinne.
 
dann habe ich gefragt: Wie ich brauchbare Differenzen erkennen könnte (eben, weils mir
nicht glingt)
 
Dann schreibt mir der Berliner Arzt:
> Sie möchten brauchbare Differenzen von nichtbrauchen Differenzen Unterscheiden. Das geht gar nicht,
 
Das macht mich zuerst ganz konfus, dann denke ich an Rhetorik und an Paradoxien und
an sokratische Lehrgespräche:
 
> Es gibt nämlich nur brauchbare Differenzen, die aus einer anderen Sicht nicht brauchbar sind.
 
Unter Anerkennung, dass ich es keinem Leser leicht mache, ich habe doch schon zwei sackkonkrete
Resultate meines Erdgeschoss-Sehens gegeben zu Text und zu Ziel (im Kontext der Wienerschen
Kybernetik) und soeben noch etwas zur Soziologie.
 
Aber es muss wohl der Fall sein, dass ich etwas in einer spezifische Form als Differenz
bezeichne, was von höheren Stockerwerken gar nicht oder eben gerade nicht als Differenz
gesehen wird. Ich da unten in der ersten Ordnungs-Etage kann mir aber in tautologischer
Konsequenz nicht vorstellen, welche Differenzen weiter oben vorkommen. Ich weiss nicht,
was ein Text dort oben ist, hier ist er jenseits aller Differenzen ein hergestelltes Artefakt,
welches ich durch viele Differenzen beobachten könnte. Eine habe ich als Vereinbarungs-
Einladung genannt.
 
Ja, leicht wird das alles nicht, es ist kein Kabarett, wo jeder weiss, wann er lachen muss.
 
Herzlich
Rolf

Erhard

unread,
Oct 23, 2009, 4:35:24 PM10/23/09
to Differenz_Theorie
Lieber Rolf, Liebe Liste


hier das versprochende Beispiel zu >>Text<<. Für mich ein Zufalls(p)
fund, da ich erst gerade anfange, meine Hausaufgaben in Sachen Derrida
zu machen.


Das, was ich also Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist
alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine
differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese
Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen
Verweisung einer Spur auf die andere. Eine Spur ist weder eine
Anwesenheit noch eine Abwesenheit. Folglich setzt dieser neue Begriff
des Textes, der ohne Grenzen ist - ich habe deshalb gesagt, auch als
scherzhafte Bemerkung, es gäbe kein Außerhalb des Textes -, folglich
setzt dieser neue Begriff des Textes voraus, daß man in keinem Moment
etwas außerhalb des Bereiches der differentiellen Verweisung fixieren
kann, das ein Wirkliches, eine Anwesenheit oder Abwesenheit wäre,
etwas, das nicht es selbst wäre, markiert durch die textuelle
différance, durch den Text als différance mit >a<. Ich habe geglaubt,
daß es notwendig wäre, diese Erweiterung, diese strategische
Verallgemeinerung des Begriffs des Textes durchzuführen, um der
Dekonstruktion ihre Möglichkeit zu geben. Der Text beschränkt sich
folglich nicht auf das Geschriebene, auf das, was man Schrift nennt im
Gegensatz zur Rede. Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die
Realität ist ein Text in diesem neuen Sinne. Es handelt sich also
nicht darum, einem Graphozentrismus gegen einen Logozentrismus oder
gegen einen Phonozentrismus wiederherzustellen und auch keinen
Textzentrismus. Der Text ist kein Zentrum. Der Text ist diese
Offenheit der Verweisung.

[J. Derrida in: Peter Engelmann: Jacques Derridas Randgänge der
Philosophie. In: Jeff Bernhard (Hrsg.): Semiotica Austriaca. Wien:
Osterreichische Gesellschaft für Semiotik, 1987. S. 107f (hier zitiert
nach: J. Derrida, Die différance. Ausgewählte Texte. Stuttgart
(Reclam) 2004, S.18)]


Ich halte jetzt mal die Klappe, zumal ich vom Text ganz erschlagen
bin.

Herzlich

Erhard

On 20 Okt., 12:22, "Rolf Todesco" <tode...@hyperkommunikation.ch>
wrote:
>   Rolf- Zitierten Text ausblenden -

Rolf Todesco

unread,
Oct 24, 2009, 12:51:18 PM10/24/09
to differen...@googlegroups.com
Lieber Erhard, Liebe Liste
 
für mich ist das Textverständnis von J. Derrida ein Fernziel, das er
selbst mit den "a" in Differance signalisiert. Zunächst bemühme ich
mich redlich um Differenzen (mit "e"), auch wenn ich mit J. Derrida
schon ahne, dass meine Differenzen aufgehoben werden. Aber ich
möchte dabei sein, wenn meine Differenzen sich auflösen, und dabei
sehen, welche Differenzen sich auflösen. Die Abkürzung "direkt zu
Derrida" geht mir zu schnell. Und der inverse Weg von Derridas
Formulierung zurück zu einer FORM-Notation schaffe ich nicht.
 
Das Zitat scheint mir Text als Hintergrund zu nennen x = x / y //Text
und sogar das kann ich kaum erkennen, eher noch X = X / y // Z ///// Text
 
Ich würde mich aber sehr freuen, wenn wir den zugefallenen Text von J. Derrida
noch etwas anschauen könnten. Zumal der Anfang lautet:
 
> "Das, was ICH also Text nenne, ist ...."
 
Herzlich
Rolf
----- Original Message -----
From: Erhard
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