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Szasz-Zitat: Psychiatrie als Totale Institution [434] Psychiatrie

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Franz P. Beuler

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May 30, 2014, 7:42:14 AM5/30/14
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Szasz-Zitat: Psychiatrie als Totale Institution [434] Psychiatrie

Oder:
Einsperrung von Geisteskranken 6 von 6
Mit den Abschnitten:
Die Rolle der bewußten Täuschung bei der unfreiwilligen Hospitalisierung
Und:
Verwahrung und Versklavung


Zitat aus:
Szasz, Thomas S.: /Recht, Freiheit und Psychiatrie – Auf dem Weg zum
'therapeutischen Staat'?/

Seite 78:

/Die Nervenheilanstalt als Totalinstitution/

Der Ausdruck „Verwahrung“ impliziert ein ganzes Gefüge komplizierter
Bestimmungen und Abläufe, die den Eintritt des Patienten in die Anstalt
sowie seinen Aufenthalt und seine Entlassung festlegen. Eine
erschöpfende Beschreibung der Verwahrung würde eine vollständige
Darstellung des Nervenheilanstaltswesens erforderlich machen. Einige
Bemerkungen über die Nervenheilanstalt als soziale Einrichtung sind
daher angebracht.
Man darf sich unter Nervenheilanstalten keine gewöhnlichen
medizinische Kliniken vorstellen. Vielmehr müssen sie, da alle
Tätigkeiten der Insassen der staatlichen Anstalten vom Pflegepersonal
weitgehend kontrolliert und überwacht werden, mit solchen Einrichtungen
verglichen werden, in denen es von Haus aus auf Insassenkontrolle
ankommt. Darunter fallen Tuberkulosestationen, Gefängnisse,
Kriegsgefangenenlager, Arbeitslager und Militärkasernen. In einer
wichtigen Analyse der Sozialstruktur der Nervenheilanstalt sprach
Goffman (1957) von „totalen“ Institutionen, eben wegen der
weitreichenden Kontrolle über das Verhalten der Insassen. Er nannte die
folgenden Merkmale als typisch für totale Institutionen:
1. Das gesamte Leben spielt sich am selben Platz und unter einer
einzigen Autorität ab.
2. Für private Beschäftigungen und Unternehmungen ist nur wenig oder
überhaupt kein Raum. Der Insasse ist ständig in Gesellschaft von
anderen: „Alle werden gleich behandelt und verhalten, das Gleiche
zusammen zu tun“ (Seite 6).
3. Der Tagesablauf ist genau geregelt und folgt keineswegs den
Interessen und Wünschen der Insassen, sondern wird von oben auferlegt.
4. Die verschiedenen obligatorischen Tätigkeiten fügen sich in einen
einzigen rationellen Gesamtplan, der angeblich den offiziellen Zielen
dieser Institutionen dient.
Verwahrung muß mithin als nur einer von vielen Aspekten – obschon
als ein sehr bedeutsamer – der Nervenheilanstalt als einer totalen
Institution begriffen werden.
/Die Rolle der bewußten Täuschung bei der unfreiwilligen
Hospitalisierung/. Totale Institutionen, wenngleich in Maß und Grad der
Kontrolle über die Insassen durch das Pflegepersonal einander durchwegs
ähnlich, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. In der einen erwartet
man vom Insassen, daß er sich gemäß einem vom Personal gesetzten Ideal
verhält und sich dasselbe zu eigen macht. Nervenheilanstalten und
„Gehirnwäschelager“ repräsentieren diesen Institutionstyp. In der
anderen Gruppe – zu der beispielsweise die Gefängnisse zählen – werden
keine derartigen Erwartungen an die Insassen gestellt.
Diese bedeutsame Unterscheidung zwischen zwei Typen totaler
Institutionen kann auch als Gegensatz zwischen Aufrichtigkeit und
Täuschung formuliert werden. Mir scheint, man muß es den Gefängnissen
hoch anrechnen, daß sie den Insassen gegenüber mit offenen Karten
spielen – wie übel sie auch sonst sein mögen. Über das Wesen der
Gefängnishaft kann kein Zweifel bestehen. Die Gesellschaft läßt den
Häftling gleichsam wissen: „Man hält dich aus diesem oder jenem Grund
hier fest. Solange du eingesperrt bist, hast du dich so und so zu
verhalten. Nach einer bestimmten Anzahl von Monaten oder Jahren wirst du
wieder frei sein.“
Demgegenüber beruht das Verhältnis zwischen der Nervenheilanstalt
und ihren Insassen auf Unehrlichkeit und Täuschung. Gewöhnlich
verschweigt man dem Patienten den wahren Grund seines
Anstaltsaufenthalts. Auch erhält er keine ausdrückliche Anweisung, wie
er sich zu verhalten hat. Und nicht zuletzt basiert seine Entlassung
nicht auf objektiven Kriterien, wie etwa dem der Inhaftierung für eine
vorgegebene Zeit. Vielmehr hängt sie davon ab, ob nach dem Urteil des
Personals ein Persönlichkeitswandel stattgefunden hat.
Die Umbenennungen, die für die Geschichte der modernen Psychiatrie
so typisch sind – man spricht heute anstelle von Irrenhäusern von
Kliniken oder Heilanstalten –, dienen vor allem einem Zweck: die
eigentlichen Funktionen der Institution hinter einer Fassade des
Wohlwollens gegenüber dem Patienten zu verbergen. Damit wird die
Aufmerksamkeit von den Interessenkonflikten zwischen Pflegepersonal und
Insassen abgelenkt. Dieser Sachverhalt trat schon vor hundert Jahren im
Verlauf von Frau Packards berühmt gewordenem Kampf gegen ihre
widerrechtliche Verwahrung ganz deutlich zutage.
Frau Packard (1873b) zitiert zu ihrem Manuskript die folgende
Anmerkung von Dr. McFarland, dem Leiter der Irrenanstalt in Jacksonville
(Illinois), in die sie eingeliefert worden war:

„Ich möchte hier ausdrücklich bemerken, daß ich es auf keinen Fall
billige, wenn Sie diesen Ort ein /Gefängnis/ nennen. Er ist kein
Gefängnis. Und in meiner Funktion als Überwacher dieser für die Presse
bestimmten Manuskripte dulde ich nicht, daß Sie hier das Wort Gefängnis
in den Mund nehmen. Sprechen Sie meinetwegen von Internierung, wenn Sie
wollen, aber bezeichnen Sie diesen Ort nicht als Gefängnis“
(Hervorhebung im Original; Seite 132)

Das Problem hat sich seither kaum geändert. Nach wie vor greifen die
Psychiater zur Taktik der falschen Benennung, um die Patienten und die
Öffentlichkeit irrezuführen. Lediglich die Rationalisierung, die
Begründung der Fehlbenennung hat sich ein wenig geändert. Vor hundert
Jahren machte man humanitäre Motive geltend, heute pocht man auf die
Erkenntnisse der modernen /Medizin/.
/Verwahrung und Versklavung/. Mit seiner Einlieferung verliert der
psychiatrische Patient seine Bürgerrechte und ist ständiger
Zwangsbehandlung ausgesetzt. Mit seinen Krankenwärtern verbindet ihn ein
Verhältnis, das zu einem Vergleich mit solchen Beziehungen
herausfordert, wie sie zwischen Unterdrückern und Unterdrückten
bestehen. Die Beziehung zwischen Herrn und Sklaven stellt darunter einen
Extremfall dar und ist deswegen besonders aufschlußreich.
Man besehe sich in diesem Licht die traditionelle Einstellung von
Psychiatern und Laien zum Geisteskranken. Selbst in unserer Zeit blicken
viele Leute auf hospitalisierte psychiatrische Patienten wie ehemals
Plato auf die Sklaven. Sie werden behandelt, als ob sie eben nichts
anderes sein könnten als Patienten, und als ob diese Rollenverteilung
von Psychiater und Patienten genau ihren Bedürfnissen Rechnung trüge.
Gelegentlich lassen sich Stimmen des Protestes vernehmen. Das Elend der
Patienten wird ans Licht gebracht. Aber an der grundsätzlichen
Unterdrückung ändert sich nichts. Verwahrung wird, wie einst die
Sklaverei, mit der Berufung auf das Interesse der Öffentlichkeit
gerechtfertigt. Psychiatrische Patienten belästigen „normale“ Menschen.
Oft gelten sie als gefährlich. Also dient ihre Verwahrung dem Gemeinwohl.
Wodurch läßt sich das belegen? Zunächst sind da die ständigen
semantischen Bemühungen, psychiatrische Unterdrückung zu beschönigen,
indem man sie als Wohltätigkeit hinstellt. Als Beispiel nehme man Wörter
wie „Patient“, „Klinik“, „Behandlung“ anstelle von „Insasse“,
„Gefängnis“, „Irrenhaus“ und „Bestrafung“. Und dann die gewaltsamen, ja
brutalen „Behandlungsmethoden“ wie Lobotomie, Insulin-, Metrazol- und
Elektroschock sowie in neuerer Zeit die chemische Zwangsjacke. Haben
solcherart behandelte Patienten das Gefühl, es sei ihnen geholfen
worden? Kaum! Vielleicht war das auch nie die Absicht. Und wo es die
Absicht war, da bedeutete „Hilfe“ nichts anderes, als den Patienten zu
verstehen zu geben, sie hätten sich mit ihrem recht- und würdelosen
Status ohne Murren abzufinden.
Nach meinem Dafürhalten ist diese ganze oppressive Prägung, dieser
Zwangscharakter der heutigen unfreiwilligen Hospitalisierung
Geisteskranker ein der Sklaverei vergleichbares Übel, dem schleunigst
abgeholfen werden muß.


Literaturverzeichnis:

- Goffman, E. (1957): „On the Characteristics of Total Institutions“,
In: Goffman, E. (1961a), S. 1–124.
- Goffman, E. (1961a): /Asylums: Essays on the Social Situation of
Mental Patients and Other Inmates/. Garden City, N.Y.: Doubleday.
- Packard, E. P. W. (1873b): /Modern Persecution, or Married Woman's
Liabilities. As Dernonstrated by the Action of the Illinois
Legislature/. Vol. II. Published by the Authoress. Hartford: Case,
Lockwood, and Brainard, Printers and Binders.


Aus:
ZWEITER TEIL
PSYCHIATRIE ALS SOZIALE INSTITUTION
VIERTES KAPITEL
Verwahrung von Geisteskranken
Unterkapitel:
- /Formen und Ausmaß der Verwahrung/
- /Psychiater-Stellungnahmen zur Verwahrung/
- /Rechtfertigungen für Verwahrung/
- /Verwahrung als sozialer Zwang/
- /Der Fall König Ludwigs II. von Bayern/
- /Die Nervenheilanstalt als Totalinstitution/
Abschnitte:
- /Die Rolle der bewußten Täuschung bei der unfreiwilligen
Hospitalisierung/
- /Verwahrung und Versklavung/


In:
Szasz, Thomas S.: /Recht, Freiheit und Psychiatrie – Auf dem Weg zum
'therapeutischen Staat'?/. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main
1980; Engl.: /Law, Liberty and Psychiatry/. Macmillan: New York 1963
(Übersetzung nach: Routledge & Kegan: London 1974)

In der Deutschen Nationalbibliothek:
Datensatz: http://d-nb.info/800591895
Inhaltsverzeichnis (PDF): http://d-nb.info/800591895/04

Nachdruck und Online-Ausgabe:
Szasz, Thomas S.: /Law, Liberty, and Psychiatry: An Inquiry Into the
Social Uses of Mental Health Practices/. Suracuse University Press:
Suracuse 1989:
http://books.google.de/books/about/Law_liberty_and_psychiatry.html?id=OZT1y5WFr-0C

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