Ignatz Bubis ueber rechte Gefahren, bedenkliche Saetze und enttaeuschtes
Vertrauen
Die Kontroverse zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis hat die Risse
deutscher Erinnerungskultur unerwartet scharf kenntlich gemacht.
Der Schriftsteller, der in seiner Frankfurter Friedenspreisrede ueber
die Bedraengnis sprach, als selbst nicht schuldig gewordener Deutscher
die Erinnerung an den nationalsozialistischen Voelkermord zu ertragen,
groesste gegensaetzliche Reaktionen aus: Viele teilen seine Aversion
gegen eine "Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwaertigen
Zwecken" und gegen selbstgerechte "Meinungs- und Gewissenswarte". Fuer
nicht minder viele ist es erschreckend und unverzeihlich, dass Walser
ueber sein provokant ausgestelltes Selbstmitleid das Leid der Opfer
aus dem Blick verliert.
Walsers entschiedenster Kritiker ist der Praesident des Zentralrats
der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis. Mit ihm sprach Volker Mueller.
Herr Bubis, Sie haben gleich nach Martin Walsers Rede von "geistiger
Brandstiftung" gesprochen...Ja, habe ich....und kein Missverstaendnis
eingeraeumt; denn Sie haben diesen krassen Vorwurf in ihrer Berliner
Gedenkrede an die Progromnacht von 1938 noch einmal wiederholt.
Ja, da gibt es nichts zurueckzunehmen.
Warum so schroff, hat Walser nicht sehr ehrlich seelische Noete des
Erinnerns benannt, die jeden anstaendigen Deutschen quaelen muessen?
Walser war sehr ehrlich. Er wird wie so viele nicht fertig mit dieser
Schuld, er moechte diese Last nicht auf sich bezogen wissen und will
sie von sich schieben. Das mag man verstehen. Aber es ist
unverantwortlich, wenn er dem "Wegdenken" von Auschwitz das Wort
redet. Und er hat einen gefaehrlichen Satz auch gesagt: naemlich, dass
er der Sprache in die Zuegel fallen muesse, wenn sie zuviel von dem
verrate, was er wirklich denkt. Dieser Satz gibt mir sehr zu denken.
Ich sehe, dass sich in intellektuellen Kreisen ein Nationalismus
breitmacht, der nicht frei ist von antisemitischen Zuegen. Davor warne
ich.
Was laesst sie so besorgt sein? Eine Zeitung schrieb, sie saehen schon
in jedem dritten Deutschen einen Antisemiten.
So habe ich das nicht gesagt. Ich meine ueberhaupt nicht, wie in einer
dpa-Meldung falsch zitiert, dass der Antisemitismus in Deutschland
sprunghaft angestiegen waere.
Der Antisemitismus war in Deutschland immer gleich stark da.
Forschungen weisen aus: Seit Jahren sind etwa 15 Prozent der
Bevoelkerung in Deutschland manifest antisemitisch, weitere 15 Prozent
der Buerger latent anfaellig fuer den Antisemitismus. Das war alles
schon immer so in der DDR, wo der staatsoffizielle Antizionismus bei
den Buergern kaum Resonanz fand, vielleicht weniger ausgespraegt als in
der alten Bundesrepublik. Aber etwas hat sich geaendert: Bis vor
einigen Jahren wurden antisemitische Haltungen nicht offen zugegeben;
jetzt bekennt man sich dazu. Das betrifft nicht mehr nur die alte
Bundesrepublik, auch die neuen Laender haben sich inzwischen angepasst.
Wie zeigt sich das fuer Sie?
Ich lese das zum Beispiel aus Briefen. Ich will gar nicht reden von
den Drohbriefen; die bekomme ich nach wie vor anonym. Ich rede von
den Briefen, in denen Buerger mit Namen und Adresse agieren. Da gibt
es Fingerzeige, etwa so: Herr Bubis, Sie mischen sich zu viel in die
deutsche Politik rein. Sie sind hier Gast und sollten sich
entsprechend benehmen. Das kommt mit Absender. Ich erkenne den neuen
Trend auch in Gespraechen. Als ich beim Intendanten des Maxim Gorki
Theaters gegen die Auffuehrung des aus meiner Sicht antisemitischen
Stueckes "Der Muell, die Stadt, der Tod" von Fassbinder protestierte,
argumentierte er: Herr Bubis, wenn wir dieses Stueck nicht auffuehren,
wird es erst recht Antisemitismus geben. Er begriff gar nicht, dass er
da schon einem latenten Antisemitismus nachgibt. Es schreiben mir
Leute zu meiner Auseinandersetzung mit Martin Walser: Sie haben ja
eigentlich recht, aber Sie sollten sich in der Oeffentlichkeit
zurueckhalten, sonst schuert das Antisemitismus. Da frage ich mich: Was
ist da los?
In der Goldhagen-Debatte oder in der Diskussion um das
Holocaust-Mahnmal offenbarte sich aber doch auch viel Bereitschaft zu
historischer Verantwortung. Das Interesse fuer die KZ-Gedenkstaetten
waechst. Befuerchtungen, das vereinigte Deutschland koennte sich
geschichtsvergessen in einem neuen Groessenrausch ergehen, haben sich
nicht bewahrheitet...
Das ist zu relativieren. Es gibt unter Intellektuellen die Neigung,
wieder mal den Schlussstrich ziehen zu wollen und zu einer falsch
verstandenen nationalen "Normalitaet" ueberzugehen.
Martin Walser spricht fuer viele, wenn er sagt: Wir sind ein normales
Volk.
Das habe ich nie bestritten. Nur darf die Frage nicht untergehen: Wie
konnte sich ein normales Volk so benehmen? Was mich dabei besonders
schmerzt: Bis vor wenigen Jahren waren Tendenzen des
Rechtsextremismus hauptsaechlich in der aelteren Generation verbreitet.
Jetzt aber treten sie in der jungen Generation hervor. Ich spreche
jede Woche zu tausenden jugendlichen Leuten. Ich merke die
Veraenderung. Ich spuere Abwehr gegen die Lehren der Vergangenheit.
Fragen Sie mal die Gedenkstaettenleiter, welche Eintragungen sie in
den Buechern, die dort ausliegen, auch finden. Die Wahlergebnisse
bestaetigen, dass ich mich da leider nicht taeusche. Erst- oder
Zweitwaehler, 18- bis 24jaehrig, waehlen heute staerker rechtsextrem als
der Durchschnitt der Bevoelkerung. Bei der letzten Bundestagswahl
haben 10 Prozent der maennlichen Jungwaehler rechtsextrem gewaehlt.
Ihr Vater, Ihre Geschwister, weitere Mitglieder Ihrer Familie sind in
Konzentrationslagern ermordet worden. Warum wollten Sie nach 1945
dennoch in dem Land leben, aus dem die Moerder kamen?
Ich frage mich heute selbst: Wie hast du das damals fertig gebracht.
Ich weiss es nicht. Es hat auch lange gedauert, bis ich ein
Verbundenheitsgefuehl bekam. Ich hatte anfangs das Gefuehl gehabt, es
sei doch ein anderes Deutschland. In den 40er Jahren lebte ich in der
Illusion, alle Nazis sitzen in den Gefaengnissen. Denn ich bin nie
einem Nazi begegnet. Ich habe nicht von einem einzigen gehoert: Ich
war Mitlaeufer, habe mich blenden lassen. Bis ich so Anfang der 50er
Jahre feststellte, dass die Gefaengnisse leer sind. Dann erlebte ich
Hans Globke, den Kommentator der Nuernberger Rassengesetze, als
Staatsekretaer im Bundeskanzleramt. Und manch anderen. Aber vielleicht
sind sie ja doch gelaeutert, redete ich mir zu und habe meine
Geschichte verdraengt. Dann kam fuer mich ein einschneidendes Erlebnis:
Mit fast siebzig Jahren wurde ich auf einer Suedamerikareise bei
Verwandten an das Schicksal einer Nichte erinnert, die als kleines
Maedchen im KZ ermordet wurde. Ich hatte sie vergessen. Das war fuer
mich ein Bruch. Da fing ich an, mich zu fragen: Wie hast auch du in
dieser Bundesrepublik ausschliesslich in der Gegenwart gelebt? Sicher:
Nur mit der Erinnerung an Auschwitz koennte ich nicht leben. Aber man
kann nur sicher in die Zukunft gehen, wenn man sich seiner
Vergangenheit bewusst ist. Viele wollen das nicht mehr hoeren.
Sind Sie jetzt von Deutschland enttaeuscht? Bereuen Sie Ihre damalige
Entscheidung?
Ich bereue es nicht, hatte auch nie die Absicht wegzugehen. Aber ich
frage mich jetzt oft: Wie wenig hast du bewirkt. Muss ueber Formen des
Erinnerns fuer die Zukunft neu nachgedacht werden, wie der
Bundespraesident am 9.November zu bedenken gab? Roman Herzog nannte es
"eine nochmalige Entwuerdigung der Opfer, wenn Worte wie "Auschwitz",
"Holocaust" oder "Faschismus" leichtfertig benutzte Vokabeln in
politischen Debatten werden".
Ich stimme zu: Es geht nicht an, dass alle moeglichen Leute Auschwitz
fuer ihre Tagespolitik gebrauchen. Auch der Zentralrat der Juden hat
schon Presseerklaerungen herausgegegeben, als etwa die katholische
Kirche den Paragraph 218 mit Auschwitz verglichen hat. Der
Bundespraesident hat sich deutlich ausgedrueckt, aber Walser eben
nicht. Walser meint mit seiner Kritik an "Instrumentalisierungen"
etwas anderes. Ihn stoert es, dass man jetzt zum Beispiel mit
Entschaedigungsforderungen kommt.
Wollen Sie ihm das unterstellen?
Ja, das koennen Sie auch in weiteren Artikeln von mir nachlesen.
Gesagt hat er das nicht.
Aber ich schreibe, was er nach meiner Meinung gemeint hat. Er kann es
ja dementieren. Walser hat bis heute keine Kommentierung seiner Rede
gegeben. Wie war Ihnen zumute, als so viele redliche Leute Walser in
der Paulskirche stehend applaudierten? Viele redliche Leute wollen
dasselbe wie er. Walser hat gesagt, was die Mehrheit denkt.
Eindeutig. Und ich finde es auch hoechst bedenklich, wenn unser neuer
Bundeskanzler Schroeder im Fernsehen erklaert, Walser duerfe als
Schriftsteller so etwas sagen, er als Politiker aber nicht.
Denken duerfen es beide?
Walser hat Dinge gesagt, die sonst nur Schoenhuber oder Frey sagen.
Wenn ich darauf verweise, will ich ihn nicht etwa in die Ecke dieser
Leute stellen. Aber: Wenn Deckert oder Frey so etwas sagen, winken
die Leute ab, vergiss es. Aber Walser gehoert zur geistigen Elite, und
wenn er das "Wegschauen" propagiert, wird es als Signal verstanden.
Und Freys "Nationalzeitung" hat gleich Zitate aus der Rede des
Schriftstellers gedruckt. Darin liegt fuer mich die "geistige
Brandstiftung".
Aber die Mehrheit denkt doch nicht wie Frey und Schoenhuber...
Nein! Nein!
Aber die Mehrheit denkt: Die ueberlebenden Opfer sollten jetzt nicht
mehr finanzielle Forderungen stellen: Man will nicht mehr jedes Jahr
zu Gedenkfeiern gehen, nicht immer wieder auf Auschwitz angesprochen
werden. Die Mehrheit will das alles nicht mehr hoeren. Und darin wird
sie von Walser bestaerkt. Es waere in der Tat ein fataler Schritt, zoege
sich das Erinnern an Auschwitz in eine private Innerlichkeit ohne
aeussere soziale Bindung zurueck.
Aber geht es nicht eben um ein lebendiges, heutiges Gedenken, das
abstumpfende Rituale meidet und dem individuellen Gewissen vertraut?
Sagen Sie mir doch bitte, was ist neu am Volkstrauertag? Jedes Jahr
wird er begangen. Keiner kommt hier auf die Idee, eine Ritualisierung
zu beklagen. In jeder Gesellschaft gibt es Rituale. Nur weil es auch
beim Holocaust-Gedenken welche gibt, soll ich alles vergessen?
Der Historiker Michael Wolffsohn meinte in diesem Streit, das aus
juedischer Leiderfahrung gespeiste, lebensnotwendige Misstrauen als
Ueberlebenshaltung fuehre zu einer "Gegenwartsschwaeche". Sie verstelle
den Blick auf positive Entwicklungen in der Gesellschaft. Oder
kuerzer: Sehen Sie, Herr Bubis, zu schwarz?
Ich kenne das Argument. Und ich kenne Wolffsohn. Ich habe ihn einmal
den "Vorzeigejuden der Rechtsradikalen" genannt. Er hat einmal
gesagt: Auschwitz ist das, was das Judentum zusammenhaelt. 2000 Jahre
hat es im Judentum ohne Auschwitz einen Zusammenhalt gegeben. Der
Glaube ist fuer mich das Entscheidende. Aber mit dem Glauben hat
Wolffsohn nichts am Hut. Er ist fuer mich ein Opportunist. Er ist aus
dem Judentum ausgetreten, weil er keine Synagogen-Steuern zahlen
wollte, er ist wieder eingetreten, als er glaubte, das nuetze ihm.
Aeusserungen solcher Leute sind fuer mich nicht ausschlaggebend. Gaebe es
dieses uebertriebene Misstrauen, wuerden Juden heute nicht glauben, in
Deutschland leben zu koennen.
Enttaeuschtes Vertrauen?
So koennte man es schon eher nennen.
Aber meine Frage war, ob Sie hoffentlich! nicht zu schwarz sehen?
Ich erlebe es so. Ich bin am Geschehen dran. Woher kommt jetzt dieses
Nicht-mehr-erinnert-sein-Wollen? Und neuerdings immer wieder die
Frage: Was suchen Sie hier eigentlich, Herr Bubis? Das war frueher
viel weniger oder gar nicht der Fall. Das betruebt mich. Ich hatte
gedacht, dass das mit den Jahrzehnten sich eher in die andere Richtung
entwickeln wird. Hoffen wir, dass das voruebergehende Erscheinungen
sind. Ende der 60er Jahre war die NPD fast in allen Laenderparlamenten
verteten. Oder denken Sie an den Historikerstreit. Wir hatten immer
mal wieder solche Phasen. Und wir haben jetzt diesen Rechtstrend
europaweit; das ist kein speziell deutsches Phaenomen. Vielleicht muss
ja auch diese Auseinandersetzung immer wieder oeffentlich ausgetragen
werden, damit das verantwortungsbewusste Erinnern sich historisch neu
behauptet...Vielleicht ist das so. Aber ich bin zu empfindlich, zu
sensibel, um es einfach hinzunehmen.
Wie sehen Sie jetzt das Schicksal des Holocaust-Mahnmals?
Der Bundestag wird darueber befinden. Ich glaube allerdings nicht
mehr, dass es gebaut wird. Ich halte mich da aber heraus. Ich brauche
das Denkmal auch nicht, ich trage mein Denkmal in meinem Herzen. Ich
habe auch keine Probleme mit denen, die aus ernstzunehmenden
kuenstlerischen Bedenken das Mahnmal nicht wollen. Walsers Ablehnung
des Mahnmals als "Monumentalisierung der Schande" aber finde ich
schlimm. Nicht die Schande wird monumentalisiert; das Verbrechen war
monumental, das wollen wir nicht vergessen. Wenn Lieschen Mueller
einen unbedachten Satz sagt, lege ich ihn nicht auf die Goldwaage.
Aber Walser ist ein Mann der Sprache. Er muss wissen, was er mit
seinem Wort ausloest. Trifft es zu oder ist es eine Legende, dass Ihnen
Helmut Kohl den Bau des Denkmals fuer die ermordeten Juden versprochen
hatte? Das ist keine Legende. Ich habe dem damaligen Bundeskanzler
gesagt, dass wir Juden uns schwertun, zur Neuen Wache zu gehen. Ich
kann nicht dort um meine Verwandten trauern, wo allen Opfern von
Krieg und Gewaltherrschaft, also auch des gefallenen SS-Manns gedacht
wird. Aber ich respektiere dieses nationale Mahnmal, war auch bei der
Einweihung dabei. Kohl und ich sprachen damals ueber ein
Holocaust-Mahnmal als eine Ergaenzung zur Neuen Wache. Und er hat mir
gesagt, das Mahnmal wird gebaut werden. Aber ich habe das nie zur
Bedingung gemacht und auch kein einziges mal darauf gedrungen, dass
das Versprechen eingehalten wird. Wenn Sie mich fragen, so finde ich,
dass die KZ-Gedenkstaetten als Lehr- und Erinnerungsorte wichtiger sind
als das Mahnmal, aber beides sollte nicht gegeneinander ausgespielt
werden.
Berliner Zeitung Datum 21.11.1998, Ressort: Feuilleton