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Meyen - Chronik des Versagens oder War da mal was mit "Pluralismus"?

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Wilhelm Ernst

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Sep 23, 2023, 1:07:26 PM9/23/23
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(M.Meyen in Manova kopiert)
Heute wage ich einen Stilbruch. Normalerweise schaue ich an dieser
Stelle mit etwas Abstand auf die Realität der Medien und schreibe das so
auf, dass man nicht studiert haben muss, um mich zu verstehen, und
außerdem noch Spaß beim Lesen hat. Vor Gericht geht das nicht. Um ernst
genommen zu werden, muss ein Professor dort die Sprache der Wissenschaft
sprechen und sich auf das stützen, was die Kollegen mit Methoden
herausgearbeitet haben, die von allen akzeptiert werden.

Vor zwei Wochen habe ich von einem Gutachten berichtet und von einem
Prozess in Bayern, bei dem es um den Rundfunkbeitrag ging. Es gab zwei
Reaktionen. Zum einen haben sich etliche Leser den Originaltext
gewünscht. Das interessiert uns, lieber Herr Meyen, weil wir Argumente
brauchen. Deshalb folgt gleich das, was via Anwalt an die obersten
Verwaltungsrichter in Bayern ging. Weggelassen habe ich nur die beiden
Anhänge — zweimal 20 Seiten, auf denen unsere eigenen Studien zur
Tagesschau dokumentiert worden sind. Butscha und die Demos 2020. Die
Zusammenfassungen sollten genügen.

Zum anderen hat sich Jimmy Gerum gemeldet und beklagt, dass ich seinen
Leuchtturm nicht erwähnt habe und die Verdienste, die er und diese
Bürgerinitiative haben. 150 Verfahren, die sich um den Rundfunkbeitrag
drehen, viele davon angestoßen und unterstützt durch das, was Jimmy
Gerum da vorantreibt — öffentlich sichtbar bei den Mahnwachen, die seit
über einem Jahr in vielen Städten laufen und dabei längst nicht mehr nur
vor Rundfunkanstalten stehen. Einer meiner Leute war bei der mündlichen
Verhandlung in München. Ein übervoller Saal. ARD und ZDF sind den
Menschen nicht egal. Sie zahlen dafür und wollen deshalb mitreden. Der
Leuchtturm steht für dieses Interesse und kann deshalb gar nicht oft
genug erwähnt werden. Nun aber zum Gutachten.

Vorbemerkung 1: Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
§ 26 des Medienstaatsvertrages vom 27. Dezember 2021 sieht die
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten genau wie die Gesetzeswerke,
die diese Vereinbarung auf Länderebene abgelöst hat, als „Medium und
Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher
Meinungsbildung“ und verlangt deshalb „einen umfassenden Überblick über
das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in
allen wesentlichen Lebensbereichen“. In Absatz 2 werden dafür vier
Kriterien genannt: „die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit
der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit
ihrer Angebote“.

Von zentraler Bedeutung ist dabei die Meinungsvielfalt — ein Kriterium,
das im Pluralismusmodell wurzelt und damit zum Fundament der
allermeisten Demokratietheorien gehört: In der Gesellschaft gibt es
viele und zum Teil gegensätzliche Meinungen und Interessen, die
prinzipiell gleichberechtigt sind — die Interessen von Einzelpersonen
und Außenseitern genauso wie die Interessen, die in Parteien oder
Verbänden organisiert sind. Feld der Verständigung ist die
Öffentlichkeit, wobei ein Ausgleich nur möglich scheint, wenn die
verschiedenen Interessen Artikulationsmöglichkeiten bekommen (1). Von
Meinungsvielfalt oder publizistischer Vielfalt kann man folglich
sprechen, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen und geistigen Richtungen
im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu Wort kommen und niemand
vorherrschende Meinungsmacht erlangt (2).

Die Kriterien Objektivität, Unparteilichkeit und Ausgewogenheit
übersetzen diese Forderung für den redaktionellen Alltag. Für die
Journalismusforschung ist das Herstellen von Öffentlichkeit ein
„gesellschaftlicher Auftrag“ (3). Auf den öffentlich-rechtlichen
Rundfunk gemünzt, heißt das: Hier müssen möglichst alle zu Wort kommen —
alle Themen und alle Perspektiven. § 26 des Medienstaatsvertrages macht
daraus einen Auftrag des Gesetzgebers: Der öffentlich-rechtliche
Rundfunk muss dafür sorgen, dass wir uns über das Geschehen in der
Region, im Land und in der Welt selbst ein Bild machen können, weil die
Informationen und die wichtigsten Interpretationen für jeden zur
Verfügung stehen.

Vorbemerkung 2: Grenzen der Beobachtung
Das Angebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland ist im
Wortsinn unüberschaubar. Wäre es noch verhältnismäßig leicht, die TV-
und Radioprogramme zu zählen, die von den Anstalten produziert und
gesendet werden, scheitert jeder Beobachter spätestens bei den
Internetseiten und erst recht bei den audiovisuellen Angeboten, die
ausschließlich auf Digitalplattformen zu finden sind. Diese Fülle ist
auch eine Folge der schieren Größe des Apparats, der aus den
Rundfunkbeiträgen finanziert wird. Zehntausende Menschen, die mit festen
Arbeitsverträgen, fest-frei oder freiberuflich für den
öffentlich-rechtlichen Rundfunk tätig sind, müssen zwangsläufig weit
mehr Inhalte erstellen, als der Einzelne jemals erfassen kann.

Dies gilt auch für die wissenschaftliche Beobachtung, obwohl
automatisierte Texterkennungsverfahren inzwischen in der Lage sind,
Medieninhalte in sehr großen Mengen zu verarbeiten und zu analysieren.
Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk muss jede entsprechende Studie
Kompromisse eingehen, da die Inhalte hier in unterschiedlichen Formen
(Text, Audio, Bild plus Kombinationen) sowie in unterschiedlichen
regionalen Zusammenhängen veröffentlicht werden (Deutschland,
Bundesländer, Länderverbünde, mittlerweile auch lokal) und auch für die
Forschung zum Teil nur eingeschränkt zur Verfügung stehen.

Vorbemerkung 3: Die Definitionsmacht der Leitmedien
Leitmedien sind Plattformen, die große Gruppen erreichen und die man
deshalb auch dort registriert, wo Entscheidungen getroffen werden — in
Ministerien und Parteizentralen, im Rathaus, in der Chefetage, in der
Hochschulleitung, in der Vereinsspitze. Leitmedien gibt es nicht nur auf
der nationalen Ebene, sondern auch in der Region — etwa: die
Nachrichtensendungen der Landesrundfunkanstalten — oder in Gruppen, die
sich für ein bestimmtes Thema interessieren; ein frühes Beispiel: „Das
Literarische Quartett“ im ZDF für Romanliebhaber.

Die Wucht der Leitmedien entspringt einer Projektion. Diejenigen, die
das Sagen haben, glauben, dass alle — im Land, in der Region, in der
Gruppe — wissen, was dort mit welchem Tenor gemeldet wurde. Dieser
Glaube hat eine zweite Komponente: Leitmedien sind mächtig. Die
Forschung hat früh nachgewiesen, dass Menschen von Medienwirkungen
ausgehen, zumindest bei anderen, und dass dies bei Entscheidern
besonders ausgeprägt ist (4).

Noch einmal anders formuliert: Wir unterstellen, dass alle anderen
gesehen, gelesen oder gehört haben, was die Leitmedien berichten, und
nehmen gleichzeitig an, dass diese Berichte Auswirkungen auf die
Einstellungen, die Gefühle, das Wissen und das Verhalten der Menschen
haben. Diese Unterstellung funktioniert — das ist wichtig — nur bei den
Leitmedien. Außerhalb sehr spezieller Kreise erwartet niemand, dass wir
über YouTube-Hitlisten sprechen können oder über die Trends auf Twitter,
wie heiß die Maschine dort auch immer gelaufen sein mag.

Der Soziologe Niklas Luhmann hat diese Funktion der Leitmedien
„Gedächtnis“ der Gesellschaft genannt. Das Mediensystem streue
Information „so breit“, „dass man im nächsten Moment unterstellen muss,
dass sie allen bekannt ist — oder dass es mit Ansehensverlust verbunden
wäre und daher nicht zugegeben wird, wenn sie nicht bekannt war“. Auf
diese Weise entstehe eine „zweite, nicht konsenspflichtige Realität“ —
ein „Hintergrundwissen“, von dem man bei jeder Kommunikation ausgehen
könne. Der Satz, mit dem Luhmann sein Buch über das Mediensystem
eingeleitet hat, gehört heute zur Allgemeinbildung:

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben,
wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (5).

Die Agenda-Setting-Funktion der Leitmedien gilt auch und sogar in
besonderem Maße für den Journalismus selbst. Die Forschung hat vielfach
gezeigt, dass sich die anderen Redaktionen an den Leitmedien
orientieren, bei der Themenselektion, bei der Recherche — welche
Interviewpartner und welche Quellen kann man nutzen und welche nicht,
welche Positionen können öffentlich gezeigt werden und welche nicht —,
bei der Aufbereitung des Materials und bei der Evaluierung der eigenen
Arbeit (6).

Vorbemerkung 4: Bedeutung nationaler Hauptnachrichtensendungen
Die Tagesschau ist zweifellos ein Leitmedium. Die 20-Uhr-Nachrichten im
Ersten haben nach wie vor jeden Abend rund zehn Millionen Zuschauer. In
den Corona-Jahren 2020 und 2021 stieg diese Zahl auf gut zwölf
Millionen. Das sind nicht alle Deutschen, aber darauf kommt es hier
nicht an. Diese Sendung wird zum einen in jeder Redaktion registriert —
auch in jeder öffentlich-rechtlichen Redaktion — und dort zum Anker für
die eigene Arbeit. Zum anderen sind Ausschnitte und Kondensate in vielen
Formaten und auf allen Digitalkanälen verfügbar und erreichen dort auch
diejenigen, die sich dem linearen Fernsehen oder auch nur den
öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen verweigern.

Die Tagesschau wird so zu einem Gradmesser für die Erfüllung des
Rundfunkauftrags, wie er in § 26 des Medienstaatsvertrages formuliert
ist. Ein Thema oder eine Perspektive auf ein bestimmtes Thema werden in
Deutschland erst dann — auch politisch — relevant, wenn sie von den
20-Uhr-Nachrichten im Ersten aufgenommen und dort als legitim markiert
werden. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Themen und Perspektiven von
der öffentlichen Debatte im Land ausgeschlossen bleiben, wenn sie nicht
in der Tagesschau auftauchen oder dort legitimiert werden. Mit gewissen
Abstrichen gilt dies auch für die öffentlich-rechtlichen Foren, bei
denen nationale Reichweite und damit allgemeine Bekanntheit unterstellt
werden kann. Das sind neben den Nachrichtenmagazinen Tagesthemen und
heute-Journal vor allem die Abend-Talkshows in den Hauptprogrammen.

Die Komplexität des Programmangebots bringt es mit sich, dass sich
Inhaltsanalysen auf ausgewählte Zeiträume, auf einzelne Sendungen und
oft auch auf bestimmte Themen beschränken. In diesem Abschnitt werden
Studien zusammengefasst, die für das Verfahren gegen den Bayerischen
Rundfunk relevant sind, weil sie Auskunft geben über die Erfüllung des
Rundfunkauftrages und hier vor allem über die Meinungsvielfalt in
solchen Sendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die
Leitmediencharakter haben.

Nicht berücksichtigt werden dabei Arbeiten, die von den Anstalten in
Auftrag gegeben wurden, und Untersuchungen, die direkt aus ihren
Forschungsabteilungen kommen. Solche Studien haben in aller Regel eine
medienpolitische Stoßrichtung und zielen entweder auf die Legitimation
des Rundfunkbeitrags und eine Abwertung der kommerziellen Konkurrenz
oder auf die Genehmigung neuer Onlineangebote.
Corona-Berichterstattung I

Über weite Teile des Jahres 2020 war das Thema Corona omnipräsent und
hat noch bis weit in das Jahr 2021 hinein nahezu alle anderen relevanten
Fragen aus der Öffentlichkeit verdrängt. Dazu gehörten auch andere
Bedrohungen und Risiken — andere Krankheiten, Kriege, der Hunger auf der
Welt, die Umwelt.

ARD und ZDF haben ab der zweiten Märzhälfte bis zum Juni 2020 nach den
Hauptnachrichten nahezu täglich eine Corona-Sondersendung gebracht. ZDF
Spezial zum Beispiel kam 2019 insgesamt auf zwölf Ausgaben. In den zwei
Monaten von Mitte März bis Mitte Mai 2020 waren es 42.

Die Literaturwissenschaftler Dennis Gräf und Martin Hennig von der
Universität Passau haben in ihrer Untersuchung folgerichtig von einer
„Verengung der Welt“ gesprochen — dem Gegenteil von Meinungsvielfalt —
und diesen Befund auch damit begründet, dass es in den Sondersendungen
von ARD und ZDF so gut wie keine Kritik an der Politik gab. Folgt man
der Studie von Gräf und Hennig, dann wurde hier stattdessen eine
„Gesellschaft in der Krise“ präsentiert sowie ein Journalismus, der im
Gleichschritt mit der Politik marschiert und damit am öffentlichen
Auftrag vorbeisendet, der auch in der damals gültigen Version des
Rundfunkstaatsvertrages festgeschrieben war (7).

Nicht nur am Rande: Zwei Petitionen, die sich im Herbst 2020 und Anfang
2021 für eine Diskussionsveranstaltung einsetzten, bei der sich
Befürworter (Christian Drosten, Lothar Wieler, Karl Lauterbach) und
Kritiker der Corona-Politik (Stefan Homburg, Sucharit Bhakdi, Wolfgang
Wodarg) nach den Abendnachrichten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen
austauschen, blieben ohne Resonanz, obwohl Initiator Bastian Barucker
eine sechsstellige Zahl an Unterschriften gesammelt und den Anstalten
übergeben hat. Der öffentliche Auftrag wurde nicht erfüllt, obwohl ein
nicht kleiner Teil der Beitragszahler dies aktiv und explizit unter
Berufung auf die Rundfunkgesetzgebung einforderte.
Corona-Berichterstattung II

Bei dieser Studie, finanziert und veröffentlicht von der Rudolf Augstein
Stiftung für Qualitätsjournalismus, wurden neben den Hauptausgaben von
Tagesschau und heute sowie ARD-Sondersendungen zur Pandemie auch
überregionale Onlineangebote und die Sendung RTL aktuell berücksichtigt.
Eingeflossen sind alle Beiträge über die Pandemie, die zwischen dem 1.
Januar 2020 und dem 30. April 2021 gesendet wurden — bei den
Nachrichtensendungen jeweils über 1.000.

Für das Thema dieser Stellungnahme besonders relevant sind die Befunde
zu den Akteuren, die im Untersuchungszeitraum zu Wort kamen. Dass der
Forschungsbericht hier nicht zwischen den untersuchten Medienangeboten
differenziert, ist kein Problem, weil das normalerweise nur gemacht
wird, wenn es signifikante Unterschiede gibt.

Zusammengefasst: Von Meinungsvielfalt kann keine Rede sein. Die
Berichterstattung wurde von Politikern und Wissenschaftlern dominiert —
im Zeitverlauf nahm die Präsenz von Politikern dabei noch zu.
„Betroffene“ und „Corona-Skeptiker“ kamen so gut wie gar nicht vor (1,2
beziehungsweise 1,6 Prozent der überhaupt genannten Akteure). Auch bei
den Parteivertretern gibt es mehr als eine Unwucht: FDP, Linke, AfD und
Grüne kommen in der Studie auf Werte zwischen null und zwei Prozent, die
SPD auf sechs und die Union auf 17.
Zitat:
„Der Vollständigkeit halber soll auch hier erwähnt werden, dass die AfD
als einzige Partei, die man im weitesten Sinne dem Umfeld der
Corona-Skeptiker zuordnen kann, in der Berichterstattung am seltensten
vorkam (0,6 Prozent aller Akteursnennungen)“ (8).

Ergänzt werden soll an dieser Stelle, dass „in den Medien ein die
Maßnahmen unterstützender beziehungsweise sogar noch weitreichendere
Maßnahmen fordernder Tenor vorherrschte“ (9). Es gab zwar Kritik, aber
noch etwas häufiger wurde nach Verschärfungen gerufen. Zusammengefasst:
Die Studie dokumentiert eine eklatante Verletzung des öffentlichen
Auftrags und hier vor allem der gesetzlichen Forderung nach
Meinungsvielfalt. Es kamen weder Wissenschaftler zu Wort, die die
Ansichten der Regierungen in Bund und Ländern nicht teilten, noch
Kritiker aus Politik und Zivilgesellschaft.

Corona in Talkshows
Diese Studie, ebenfalls finanziert und veröffentlicht von der Rudolf
Augstein Stiftung für Qualitätsjournalismus, bestätigt das eben Gesagte
für die Sendungen mit Maybrit Illner, Anne Will und Frank Plasberg, die
in den Hauptprogrammen von ARD und ZDF zur besten Sendezeit ausgestrahlt
werden (Untersuchungszeitraum: Januar 2020 bis Juli 2021). Die
wichtigsten Befunde (10):

Ein Thema — Corona — dominiert alles. Die Sprechpositionen werden
mit Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten besetzt, „wobei ein
recht kleiner Kreis von Personen in diesen Talkshows sehr präsent ist“.
Karl Lauterbach kam auf 22 Auftritte, Christian Lindner, Helge Braun,
Markus Söder und Olaf Scholz auf je zwölf, Manuela Schwesig auf elf und
Melanie Brinkmann auf zehn. Das heißt: Exekutive und Regierungsparteien
setzen den Ton. Wie in den Nachrichtensendungen gab es deutlichen
Rückenwind für die Maßnahmen: 68 Prozent der Bewertungen fielen positiv
aus, zehn Prozent ambivalent und nur 22 Prozent negativ.

Ukrainekrieg 2022
Im Auftrag der Otto Brenner Stiftung wurde hier untersucht, wie acht
deutsche Leitmedien, darunter erneut die Hauptausgaben von Tagesschau
und heute, zwischen dem 24. Februar und dem 31. Mai 2022 über den Krieg
und seine Folgen berichtet haben (11). Die beiden Nachrichtensendungen,
die für diese Stellungnahme relevant sind, haben in diesem Zeitraum
jeweils mehrere Hundert Beiträge zum Thema veröffentlicht.

Insgesamt hat in allen acht untersuchten Medien die Perspektive
Deutschlands dominiert (42 Prozent). Rechnet man die 28 Prozent der
Beiträge hinzu, in denen die Perspektive der Ukraine eingenommen wurde,
wird ein Bias deutlich. Die Perspektive Russlands wurde nur in zehn
Prozent der Beiträge eingenommen. Hier sei wiederholt, dass es in
solchen Forschungsberichten üblich ist, immer dann auf Differenzierungen
zwischen den einzelnen Medienangeboten zu verzichten, wenn es keine
signifikanten Unterschiede gibt.

Wie schon bei der Corona-Berichterstattung dominieren politische Akteure
die Berichterstattung (rund 80 Prozent aller Nennungen) und hier vor
allem Vertreter der Regierungsparteien. Während die Ukraine und
Präsident Selenskyj fast ausschließlich positiv bewertet wurden, bekamen
Russland und Präsident Putin fast ausschließlich negative Bewertungen.
Nahezu alle Beiträge (93 Prozent) schrieben Russland und Putin „die
alleinige Verantwortung für den Krieg“ zu. „‚Der Westen‘ wurde in nur
vier Prozent als (mit)verantwortlich bezeichnet, die Ukraine noch
seltener (zwei Prozent).“ Bei den für den Krieg in den deutschen
Leitmedien genannten Gründen „dominierte eindeutig das Motiv des
Großmachtstrebens“ (71 Prozent).

Tagesschau und heute haben auch innenpolitisch deutlich Partei ergriffen
— für Wirtschaftssanktionen gegen Russland, für eine militärische
Unterstützung der Ukraine, für die Lieferung schwerer Waffen und gegen
diplomatische Maßnahmen zu einer Beendigung des Konflikts. Von
Meinungsvielfalt im oben definierten Sinn kann keine Rede sein.

Russland in der Tagesschau
Diese Masterarbeit, ausgezeichnet mit dem Best Thesis Award des
Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der
Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, untersucht alle
20-Uhr-Ausgaben von Dezember 2016 bis Mai 2017 (12).

Die Befunde nehmen vorweg, was das Forscherteam der Otto Brenner
Stiftung fünf Jahre später gefunden hat: In der Tagesschau ist Russland
mächtig und böse — der Gegenpol zur friedlichen EU, die sich zugleich um
alle kümmern muss, die unter Russland leiden. Die Tagesschau macht
Russland und Putin zu Synonymen, lässt Oppositionelle zu Wort kommen und
niemanden sonst. Fazit der Forscherin: Die Berichterstattung ist
„einseitig und tendenziös“.

Griechische Schuldenkrise
Ein Forscherteam aus Würzburg und Gelsenkirchen hat mithilfe der Otto
Brenner Stiftung untersucht, ob die Nachrichtensendungen Tagesschau und
heute sowie die ergänzenden Formate Brennpunkt und ZDF Spezial vom 1.
Januar bis zum 31. Dezember 2015 bei der Griechenland-Berichterstattung
die Kriterien für journalistische Qualität erfüllt haben, die auch
damals im Rundfunkstaatsvertrag verankert waren (13).

Die wichtigsten Ergebnisse: Alle vier untersuchten Angebote haben das
Neutralitätsgebot verletzt. Während die Reformvorschläge der
griechischen Regierung weitgehend ignoriert und damit der öffentlichen
Debatte in Deutschland entzogen wurden, bekamen die Fernsehzuschauer ein
eindeutig negatives Bild der Athener Politik.

Parteipolitik in Tageschau und heute
Das Unternehmen Media Tenor sitzt in der Schweiz und ist seit vielen
Jahren auf quantitative Inhaltsanalysen von deutschsprachigen Angeboten
spezialisiert. Unternehmen, Parteien oder Behörden kaufen hier zum
Beispiel Studien, die die öffentliche Sichtbarkeit und die Bewertung
ihrer Aktivitäten in den Leitmedien dokumentieren. Die Untersuchung, um
die es hier geht (14), zielt zwar auf die Legitimation des ZDF — Befund:
kaum Eigenleistung —, ist aber wegen der Materialmenge trotzdem relevant
(18.805 Beiträge, erschienen von Januar 2021 bis Juni 2022 in
Tagesschau, heute und RTL aktuell).

Die Analyse zeigt, dass die Bundestagsparteien in den beiden
öffentlich-rechtlichen Formaten sehr unterschiedlich thematisiert und
bewertet werden. Auch hier wieder in Kurzform: AfD und Union kommen, in
dieser Reihenfolge, am schlechtesten weg. SPD und Grüne haben dagegen
ein deutlich besseres Verhältnis von positiven und negativen
Einschätzungen.

In der Liste der am häufigsten genannten Politiker stehen bei Tagesschau
und heute auf den ersten sechs Plätzen die gleichen Namen (Scholz,
Merkel, Laschet, Spahn, Baerbock, Söder). Beim ZDF taucht der erste
AfD-Politiker auf Platz 17 auf (Alice Weidel). Bei der ARD hat es
niemand aus dieser Partei unter die ersten 20 geschafft. Weidel bekommt
von heute fast folgerichtig die negativste Bewertung, vor Laschet, der
diese Wertung in der Tagesschau anführt.

Beide Sendungen zitieren die gleichen Ökonomen am häufigsten — Claudia
Kemfert und Marcel Fratzscher vom regierungsnahen Deutschen Institut für
Wirtschaftsforschung —, und beide übersehen zum Beispiel die Probleme
des Rentensystems, dem durch die demografische Entwicklung der Kollaps
droht.

Zwischenfazit
Der Gesetzgeber hat dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk via
Medienstaatsvertrag den Auftrag erteilt, alle gesellschaftlichen Gruppen
und geistigen Richtungen zu Wort kommen zu lassen und so die öffentliche
Meinungs- und Willensbildung zu ermöglichen. Das Herstellen von
Öffentlichkeit, zu messen vor allem am Kriterium Meinungsvielfalt,
legitimiert den Rundfunkbeitrag.

Die hier knapp referierten Studien zu zentralen politischen Themen der
jüngsten Vergangenheit zeigen ein strukturelles Versagen der
Rundfunkanstalten, weil diese das gesellschaftliche Meinungsspektrum in
ihren wichtigsten Sendungen im Wesentlichen auf Regierungs- oder
„offizielle“ Positionen beschränken, Gegenstimmen ausblenden oder
abwerten und so keine vorurteilsfreie öffentliche Debatte erlauben.

Um den gerade skizzierten Forschungsstand für diese Stellungnahme zu
aktualisieren und um weitere Schlaglichter zu ergänzen, wurden an meinem
Forschungs- und Lehrbereich an der LMU München zwei Untersuchungen zur
Meinungsvielfalt in der Tagesschau konzeptualisiert, die sich mit
Ereignissen der jüngeren Vergangenheit beschäftigen.

Studie 1: Butscha in der Tagesschau (29. März bis 6. April 2022)
Untersucht wurden insgesamt zwölf Beiträge: acht, die ab dem 3. April
2022 die Bilder hingerichteter Zivilisten auf den Straßen und in Kellern
von Butscha thematisieren, und vier, die sich in den Tagen davor mit
Friedensverhandlungen und Truppenbewegungen in der Ukraine beschäftigt
haben. 75 Prozent der untersuchten Beiträge wurden von der Redaktion an
der Spitze der Sendung platziert (Positionen eins oder zwei) und damit
für das Publikum als besonders relevant markiert.

Schon eine rein quantitative Betrachtung verdeutlicht das
Ungleichgewicht der Berichterstattung: Es dominiert die Perspektive der
Regierungen in Kiew und Berlin. In Kurzform: Schuld hat Russland, die
Ereignisse sind mit der NS-Zeit vergleichbar und deshalb nach dem Modell
der Nürnberger Prozesse zu ahnden. Die wenigen O-Töne russischer
Vertreter beschränken sich auf Dementis. Argumente der Gegenseite werden
nicht genannt. Ebenfalls fehlen Akteure, die an der Schuld Russlands
zweifeln oder darauf verweisen, dass es weder belastbare Beweise noch
eine unabhängige Untersuchung gibt.

Die Tagesschau ignoriert sowohl wichtige Gegenstimmen als auch
Kontextfaktoren und hochrangige Meldungen, die vor vorschneller und
einseitiger Deutung warnen. Als einzige deutsche Oppositionspartei kommt
die CDU zu Wort — für sechs Sekunden und ohne dabei die
Regierungsposition in Frage zu stellen. Stimmen der Friedensbewegung
fehlen völlig.

In der Tagesschau werden die Ereignisse von Butscha zum einen genutzt,
um Russland generell die Verletzung humanitärer Standards in diesem
Krieg sowie die Torpedierung von Verhandlungen vorzuwerfen, etwa durch
Verletzungen der Waffenruhe. Zum anderen wird Druck in Richtung
Sanktionen — Stichwort: Energie —, NATO-Erweiterung und
Waffenlieferungen aufgebaut. Mögliche wirtschaftliche Folgen für
Deutschland werden nur am Rande erwähnt.

Von einer Erfüllung der vier Qualitätskriterien, die in § 26 des
Medienstaatsvertrages genannt werden (Objektivität, Unparteilichkeit,
Meinungsvielfalt, Ausgewogenheit), kann im Untersuchungszeitraum beim
Gegenstand Ukrainekrieg keine Rede sein. Dies ist besonders fatal, weil
die skizzierte Deutung der Ereignisse von Butscha genutzt wurde,
Verhandlungen abzulehnen oder abzubrechen und Deutschland auf einen
längeren Krieg mit allen damit verbundenen Einschränkungen und Opfern
einzustimmen.

Studie 2: BLM- und Querdenken-Demos in der Tagesschau
Diese qualitative Inhaltsanalyse vergleicht auf Basis des
Framing-Ansatzes die Berichterstattung über zwei Demonstrationstypen:
Black Lives Matter (BLM) im Frühsommer 2020 und Querdenken am 1. August
2020 in Berlin. Die Ergebnisse zeigen zum Teil deutliche Abweichungen
von den Vorgaben des Medienstaatsvertrags.

Die BLM-Proteste werden neutral bis wohlwollend dargestellt. Kritische
Positionen waren ob der Kernforderung der Bewegung — gegen rassistisch
motivierte tödliche Polizeigewalt — kaum zu erwarten. Es fehlt aber jede
Stimme, die die Vorwürfe der Demonstranten einordnet. Der ursprüngliche
Gegenstandsbereich der BLM-Bewegung wird unreflektiert für andere
Sachverhalte anschlussfähig und somit für die Bundesrepublik relevant
gemacht. Diese Öffnung durch die konzeptionelle Trennung von
Polizeigewalt und Rassismus bereitet der willkürlichen Unterordnung von
Themen ein Feld, das kaum mehr bestellbar ist.

Der Protest gegen die Coronamaßnahmen wird dagegen bereits auf
inhaltlicher Ebene scharf kritisiert. In der Tagesschau wurde, auch
mithilfe der zitierten Funktionseliten, ein Feindbild konstruiert, das
dem gesellschaftlichen Gemeinwesen unzuträglich ist und die Ziele des
Medienstaatsvertrages geradezu konterkariert. Besonders negativ fällt
die einseitige Bewertung von O-Töne der Demonstranten auf. Während
Kritiker der Kundgebung — hier: Politiker von Union und SPD sowie
Bundespräsident Steinmeier — unkommentiert eine Bühne bekamen, wurden
Pro-Aussagen von Tino Chrupalla (AfD) moralisiert und in der Sache
angegriffen.

Ein ähnlicher Gegensatz zeigt sich bei der Bewertung des Umgangs mit den
seinerzeit geltenden Pandemie-Regeln. Während die Tagesschau in den
Beiträgen über die Anti-Maßnahmen-Kundgebung mehrfach auf die
Missachtung dieser Regeln verweist, die Polizei zeigt und von
juristischen Konsequenzen für Teilnehmer und Organisatoren spricht,
liefert sie bei den BLM-Demonstrationen ein anderes Bild. Verstöße gegen
die Corona-Regeln galten der Redaktion hier als notwendiges Übel beim
Protest für einen guten Zweck.

Die Berichterstattung läuft den Grundsätzen des Medienstaatsvertrags zum
Teil fundamental zuwider. Die moralisiert-tendenziöse Aufbereitung der
redaktionellen Inhalte ist unübersehbar. Die Redaktion der Tagesschau
scheut dabei nicht einmal davor zurück, ihr Ausgangsmaterial
sinnentstellend zu verzerren und aus dem Zusammenhang zu reißen, hier:
Äußerungen der US-Politiker Trump und Walz.

Fazit
Beide Fallstudien bestätigen und differenzieren den Tenor der zuvor
referierten Forschungsliteratur. Weder in der Berichterstattung über
wichtige Demonstrationen 2020 noch bei den Ereignissen von Butscha im
Frühjahr 2022 erfüllt die Redaktion der Tagesschau die Kriterien, die
die Rundfunkgesetzgebung nennt. Von Objektivität, Unparteilichkeit,
Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit kann keine Rede sein. Dieser Befund
lässt sich mit einem Hinweis auf die Selektivität der Materialauswahl,
die keine Untersuchung vermeiden kann, nicht relativieren.

Die öffentliche Wahrnehmung beider Ereignisse hatte Folgen, die weit
über den Tag hinauswiesen und zum Teil bis heute zu spüren sind. Das
gilt für die öffentliche Delegitimierung der Proteste gegen die
Corona-Politik 2020 genauso wie für die Schuldzuweisung an Russland und
die daraus abgeleiteten politischen Forderungen und Weichenstellungen
2022.

Die Fülle an Nachweisen, die in diesem Gutachten nur angedeutet werden
kann und durch weitere Untersuchungen zu erhärten sein dürfte, erlaubt
es, von einem strukturellen Versagen des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks zu sprechen. Bei den hier betrachteten Fällen handelt es sich
um Ereignisse von überragender Bedeutung, die für den politischen Kurs
des Landes genauso wegweisend waren wie für die Atmosphäre im Land und
damit für die Lebensqualität. Bei all diesen Ereignissen hat der
öffentlich-rechtliche Rundfunk über Themensetzung, Sprache, Zitate,
Weglassen und Framing Partei ergriffen und Gegenpositionen ausgeblendet
oder delegitimiert. Damit entfällt die Basis für die Finanzierung durch
einen Rundfunkbeitrag.

Quellen und Anmerkungen siehe unter
https://www.manova.news/artikel/chronik-des-versagens
--
Begegnen sich zwei Rotarmisten im Sommer 1945 vor dem Reichstag.
Einer davon blickt bedrückt auf den Boden. Sagt der andere zu ihm:
Genosse, warum schaust du so traurig? Der antwortet: Ich finde es
so schlimm, dass wir den Informationskrieg gegen Goebbels verloren
haben!
(Geklaut bei Dagmar Henn)
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