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Claas Relotius: «Ich hatte nicht mehr das Gefuehl, eine Grenze zu ueberschreiten», 2021

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Werner Sondermann

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Jun 8, 2021, 6:19:13 AM6/8/21
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«Ich hatte nicht mehr das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten»

Claas Relotius stürzte im Dezember 2018 den deutschsprachigen
Journalismus in eine Krise. Nun äussert er sich erstmals öffentlich.

Margrit Sprecher und Daniel Puntas Bernet

https://reportagen.com/content/erfundene-wirklichkeit
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2 1/2 Jahre ist das jetzt bereits wieder her.

w.



"Einszweidrei im Sauseschritt
läuft die Zeit, wir laufen mit."
[Wilhelm Busch]

Werner Sondermann

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Jul 1, 2021, 5:21:03 PM7/1/21
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<https://reportagen.com/content/erfundene-wirklichkeit>

«Ich hatte nicht mehr das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten»

Claas Relotius stürzte im Dezember 2018 den deutschsprachigen
Journalismus in eine Krise. Nun äussert er sich erstmals öffentlich.

Margrit Sprecher und Daniel Puntas Bernet

Als freier Reporter schrieb Claas Relotius zwischen 2013 und 2016 fünf
Texte für Reportagen. Gleich mit der ersten Geschichte über demente
Häftlinge in den USA gewann er den renommierten Deutschen Reporterpreis
für die beste deutschsprachige Reportage des Jahres.

Fünf Jahre später, im Dezember 2018, legte der Spiegel einen Betrugsfall
im eigenen Haus offen. Relotius, mittlerweile 33 Jahre alt und fest beim
grössten Nachrichtenmagazin Deutschlands angestellt, hatte in seinen
Reportagen wichtige Fakten, Personen, Zitate erfunden und sogar ganz
ausgedachte Geschichten fabriziert.

Die Aufklärung des Medienskandals hatte der Spiegel-Mitarbeiter Juan
Moreno ins Rollen gebracht, nachdem er mit Relotius den Text Jaegers
Grenze geschrieben hatte. Moreno reiste zum Ursprung der Unwahrheit
dieser Reportage, an die Grenze der USA zu Mexiko. Er fand heraus, dass
Relotius die Bürgerwehr, die angeblich Jagd auf Einwanderer machte, nie
getroffen hatte.

Relotius löste eine Debatte über die Form der Reportage aus,
Storytelling im Journalismus geriet unter Generalverdacht. Viele
Kollegen überprüften ihre Arbeitsweisen, Redaktionen bauten ihr
Fact-Checking aus, setzten neue Standards. Als Publikation, die
ausschliesslich Reportagen veröffentlicht, spüren wir die Nachwirkungen
dieses Skandals bis heute. Unbeantwortet blieb die Frage, warum Claas
Relotius Redaktionen und Leser getäuscht hatte. Die
Spiegel-Aufklärungskommission, die den Fall monatelang unabhängig
aufarbeitete, fokussierte sich auf redaktionelle Abläufe.

Im September 2019 veröffentlichte Juan Moreno das Buch 1000 Zeilen Lüge,
in dem er den Fall Relotius aus seiner Sicht aufarbeitete. Moreno
beschreibt einen ehrgeizigen Reporter, der systematisch und kalkuliert
vorging, um Karriere zu machen. Mit Relotius hatte er nicht gesprochen.
Er ist ihm auch nie persönlich begegnet.

Claas Relotius befand sich nach der Aufdeckung für mehrere Monate in
stationärer psychiatrischer Behandlung. In dieser Zeit kontaktierte er
die Redaktion von Reportagen, um sich zu entschuldigen. Wir blieben in
Kontakt. Ein Interview zu führen, war zu dieser Zeit kein Thema.
Erst im Sommer vergangenen Jahres trafen wir, Chefredakteur Daniel
Puntas Bernet und die Reporterin Margrit Sprecher, die Relotius' ersten
Text in unserem Magazin mit dem ersten seiner vier Reporterpreise als
Jurymitglied ausgezeichnet hatte, Relotius mehrmals zu ausführlichen
Gesprächen in Hamburg. Dabei erlebten wir einen Menschen, der zwischen
extrem hoher Konzentration und phasenweiser Abwesenheit schwankte. Der
verunsichert wirkte und nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie eine
ambulante Therapie begonnen hatte.

Relotius versicherte uns, unsere Fragen mit aller Offenheit beantworten
zu wollen, auch wenn es ihm schwerfalle, aufrichtig zu erklären, was er
selbst kaum begreifen könne. Er sprach über Phasen von
«Realitätsverlust» und «psychotischen Störungen». Wir hatten unsere
Zweifel: Wie begegnen wir einem, von dem nicht nur wir über Jahre hinweg
getäuscht wurden, mit der nötigen journalistischen Distanz? Was kann man
jemandem, der so viel gelogen hat, noch glauben?

Wir entschieden uns, das zu tun, was unseren Beruf ausmacht: Zuhören,
Nachfragen und Recherchieren. Wir haben uns Zeit genommen, um uns ein
möglichst umfangreiches Bild zu machen und Relotius' Schilderungen zu
überprüfen. Wir konnten mit dem behandelnden Psychiater und Therapeuten
sprechen und haben Einsicht in psychiatrische Berichte erhalten. Wir
haben frühere Kollegen von Relotius beim Spiegel kontaktiert. Einige
gaben, zum Teil anonym, Auskunft, andere schwiegen. Wir haben mit seinem
privaten Umfeld gesprochen – mit engen Weggefährten, langjährigen
Freunden und ehemaligen Kommilitonen. Ausserdem baten wir unabhängige
psychiatrische Experten um Einordnung. Am Ende unserer Recherche ist
dieses Interview entstanden.

Reportagen: Herr Relotius, vor zweieinhalb Jahren erschütterte die
Tatsache, dass Sie über Jahre hinweg für den SPIEGEL und andere Blätter
erfundene Reportagen geschrieben hatten, die Medienwelt. Sie selbst
haben öffentlich fast die ganze Zeit geschwiegen. Warum?

Claas Relotius: Ich habe riesigen Mist gebaut. Das habe ich versucht mit
professioneller Hilfe aufzuarbeiten, und ich versuche es bis heute.
Dafür habe ich diese Zeit gebraucht, in der ich auch Menschen persönlich
kontaktiert habe, denen ich geschadet habe.

Weshalb haben Sie sich entschlossen, sich öffentlich zu äussern?

Ich habe als Journalist gearbeitet, aber über Jahre hinweg Dinge
geschrieben, die nicht stimmten. Damit habe ich nicht nur einzelnen
Menschen Unrecht getan, sondern auch Lesern, Kollegen und Redaktionen,
die mir vertraut haben. Es gibt Leute, die an eine sogenannte
Lügenpresse glauben oder daran, dass Journalisten arrogante Menschen
seien. Mein Verhalten hat diese Verschwörungstheorien scheinbar
bestätigt. Ich kann das nicht wiedergutmachen, aber versuchen zu
erklären, dass mein Handeln nichts damit zu tun hatte, sondern mit
meinen persönlichen Fehlern.

Wollen Sie nicht vielmehr Ihr öffentliches Bild korrigieren?

An dem, was ich getan habe, gibt es nichts zu korrigieren, es liegt
alles da. Aber ich bin Antworten schuldig. Und ja, ich möchte auch
versuchen zu erklären, warum ich das getan habe.

In Ihrem bisher einzigen öffentlichen Statement stand, nicht
«karrieristisches Kalkül» stehe hinter Ihrem Handeln, sondern
«krankhafter Realitätsverlust». Sie wirken keineswegs krank.
Wie wirkt denn jemand, den man als erkrankt bezeichnet?

Ich lege keinen Wert auf dieses Label. Ich kann bei mir heute Phasen
oder Denkweisen sehen, die verstörend oder wohl einfach nicht normal
sind, aber ich weiss nicht, wo dieses «Krank» beginnen soll. Hätten mich
Freunde vor drei Jahren gefragt, ob ich vernünftig meine Arbeit mache,
ob ich mit beiden Beinen im Leben stehe ‒ ich hätte in voller
Überzeugung «Ja» geantwortet.

Sie haben sich, als die Affäre öffentlich wurde, in stationäre
psychiatrische Behandlung am Hamburger Universitätsklinikum begeben.
Nach zwei Monaten sind Sie in eine andere Klinik gegangen, weit weg von
Hamburg. Insgesamt waren Sie sechs Monate in stationärer Behandlung. Die
Medienbranche war mit dem Aufräumen des Scherbenhaufens beschäftigt, den
Sie hinterlassen hatten. Womit haben Sie sich befasst?

Ich habe in einer Therapie versucht zu begreifen, was ich getan habe und
warum. Ich war jeden Tag mit den Fragen von aussen konfrontiert und habe
mich weitgehend mit dem öffentlichen Bild identifiziert, mich selbst als
skrupellosen, gewinnsüchtigen Menschen gesehen. Äusserlich habe ich
versucht, damit umzugehen. Innerlich war ich noch Monate später
überzeugt, es sei in vielen Fällen absolut richtig gewesen, eine
Geschichte genau so zu schreiben, wie ich sie geschrieben hatte.

Im Klinikbericht steht, Sie hätten starke Schuldgefühle gehabt, vor
allem gegenüber Kollegen. Gleichzeitig seien Sie verunsichert darüber
gewesen, ganz anders auf Ihr Handeln zu schauen als sogar die Menschen,
die Ihnen am nächsten stehen.

Ich kann das nicht in einem Interview erklären. Ein Teil von mir hat an
dieser offensichtlich falschen Sichtweise, die ich über Jahre hatte,
festgehalten. Ich habe gesehen, was ich angerichtet habe, habe die
öffentliche Wut gespürt, aber ich bin von dieser Vorstellung auch nach
dem Skandal nicht einfach weggekommen.

Das ist schwer nachzuvollziehen.

Ich habe mehr als ein Jahr gebraucht, um ansatzweise zu begreifen, wie
ich an diesen unmöglichen Punkt kommen konnte. Das hemmungslose
Schreiben hatte für mich eine ganz egoistische Funktion. Es hat mir
geholfen, Zustände, in denen ich den Bezug zur Realität verloren habe,
zu bewältigen, zu kontrollieren und von mir fernzuhalten. Schon lange
vor dem Journalismus. Ich habe diesen Beruf auf eine Art von Anfang an
missbraucht.

Um Realitätsverlust geht es in einem wesentlichen Teil Ihrer
psychiatrischen Aufarbeitung. Im Kontext eines Fälschungsskandals klingt
das nach einer zu einfachen Erklärung.

Es gibt keine einfache Erklärung und auch keine Rechtfertigung. Es gibt
keine notwendige Verbindung zwischen einer psychischen Störung und dem
Schreiben der Unwahrheit in einem Nachrichtenmagazin. Viele Menschen
haben seelische Probleme. Man muss deswegen keinen Medienskandal
verursachen.

Ihr ehemaliger Kollege Juan Moreno zeichnet in einem Buch über den Fall
das Bild eines genialen Betrügers, der von langer Hand den Plan
entwickelte, seine Leser und Auftraggeber mit gefälschten Reportagen
gezielt zu täuschen, um Journalistenpreise zu gewinnen und schliesslich
beim SPIEGEL Karriere zu machen. Moreno behauptet ein System dahinter.
Ist irgendetwas falsch an diesem Bild?

Ich kenne Juan Moreno nicht persönlich, bin ihm aber ernsthaft dankbar,
dass er mich im Dezember 2018 indirekt gezwungen hat, mich Problemen und
Verhaltensweisen zu stellen, die ich schon lange nicht mehr sehen
konnte. Was seine Buchveröffentlichung betrifft, wäre ich ihm noch
dankbarer gewesen, hätte er mich als den Menschen blossgestellt, der ich
auch bin.

Morenos Darstellung liest sich sehr überzeugend.

Ich habe sie zwei Tage lang selbst geglaubt. Es gibt darin nicht einen
Widerspruch. Aber wenn es mir um eine Karriere gegangen wäre, dann hätte
ich nicht immer wieder und bis ganz zuletzt Aufstiegsmöglichkeiten, die
die meisten Journalisten angenommen hätten, ausgeschlagen. Wenn es mir
um Journalistenpreise gegangen wäre, hätte es genügt, in sechs
prestigeträchtigen Reportagen gezielt zu erfinden, nicht wahllos in 60
und nie in diesem Ausmass. Ich habe immer wieder wahnsinnig dumme und
irrationale Dinge getan. Ich habe gedruckte Belegexemplare von Texten an
Personen geschickt, die ich darin vollkommen falsch beschrieben hatte.
Ich habe andere Journalisten und Journalistinnen beim Aufsuchen von
Orten unterstützt, über die ich zuvor komplett falsch berichtet hatte.
Jeder grosse Text ist voller grosser, sinnloser Fehler, die den Text
nicht besser machen, aber jederzeit hätten auffallen können. In Texas
habe ich sechs Seiten über ein Zeugenprogramm bei Hinrichtungen
geschrieben, das es in 16 Bundesstaaten gibt, aber nicht in Texas. In
Minnesota habe ich über Trump-Wähler einer Stadt geschrieben, wo auf
zehn Seiten nicht einmal Strassennamen oder das Wahlergebnis korrekt
waren. Daran ist nichts genial. Der SPIEGEL-Chefredakteur [Anm. der
Redaktion: Steffen Klusmann] sagte, was ich getan hätte, sei so irre,
dreist, absurd, dass einem die Verfehlungen geradezu ins Gesicht
springen. Das stimmt.

Sie haben, wenn Zweifel an Ihren Texten aufkamen, immer wieder Vorwürfe
entkräftet. Sie sagen heute, von offensichtlich falschen Sichtweisen
überzeugt gewesen zu sein. Symptome wie Wahrnehmungsstörungen und
Erinnerungsfälschung spielen bei Ihnen eine Rolle. Verstehen Sie, dass
wir Schwierigkeiten haben, Ihnen zu glauben?

Ja.

Personen, die Ihnen nahestehen, sagen, dass Sie in den Wochen vor der
Skandalaufdeckung völlig ruhig waren, obwohl Ihnen hätte klar sein
müssen, was passieren würde.

Ich kann das nicht erklären, aber ich hatte jahrelang nie Angst, nie
Zweifel, auch nie ein schlechtes Gewissen.

Über Jahre haben Sie Ihre Leser und Auftraggeber getäuscht, Ihnen
erfundene Geschichten als Reportagen verkauft. Und Sie behaupten, dabei
kein schlechtes Gewissen gehabt zu haben?

Mir ist bewusst, dass das für Leser, Leserinnen und Journalisten ein
Schlag ins Gesicht ist. Und wohl auch für jeden anderen Menschen
unbegreiflich.

Insgesamt haben Sie 120 Texte verfasst, grössere und kleinere. Wie viele
davon waren journalistisch korrekt?

Nach allem, was ich heute über mich weiss, wahrscheinlich die
allerwenigsten. Bei einigen Texten kann ich es einfach nicht sicher
sagen. Ich bin erschrocken über mich selbst, noch immer, und es tut mir
aufrichtig leid.

Wie erklären Sie das Lesern, die Ihnen vertraut haben, oder Redaktionen,
die diese Texte gedruckt haben?

Ich habe in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der
Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der
Realität entspricht oder nicht. Als seien Reportagen ohnehin nie
Tatsachenberichte, sondern immer Geschichten, also verdichtete,
konstruierte Wirklichkeiten, und als ginge es in erster Linie darum,
Leserinnen und Lesern ein Thema so nahe wie möglich zu bringen. Ich habe
es mir damit leicht gemacht und das offensichtlich Falsche für das
Richtige halten wollen.

Um sich als junger, ehrgeiziger Reporter einen Vorteil zu verschaffen.

Ich bin ehrgeizig, aber das habe ich nicht aus Ehrgeiz getan. Ich habe
mich damit immer wieder über Realitätsverluste hinweggetäuscht, habe
damit auch Menschen in meinem Umfeld getäuscht. Kollegen, die ich
schätze. Menschen, die ich liebe. Die Abwehr, an mir selbst und
teilweise auch an meinem Verstand zu zweifeln, war so gross, dass mich
kaum etwas anderes dazu gezwungen hätte als dieser Skandal.

Laut psychiatrischer Diagnostik erleben Sie dissoziative, psychosenahe
und auch psychotische Zustände. Der Begriff Psychose dient als
Sammelbegriff für eine Gruppe schwerer psychischer Erkrankungen, die mit
Realitätsverlust, Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Störungen des
Denkens, der Sprache und der Gefühlswelt verbunden sind. In Ihrer
Therapie beschäftigen Sie sich damit, Zustände aufzuklären, die bis zu
15 Jahre zurückliegen. Um zu verstehen, was wann und wo passiert sein
könnte, haben Sie andere Menschen befragen müssen. Wann haben Sie zum
ersten Mal gemerkt, dass etwas nicht stimmt?

Fünf Jahre bevor ich angefangen habe, als Journalist zu arbeiten. Ich
war 19 und habe nach dem Abitur in Köln an der Uni meinen Zivildienst
gemacht. Der bestand darin, Studenten mit Behinderungen zu Vorlesungen
zu begleiten. Auf einem dreiwöchigen Lehrgang habe ich so viel gelesen
wie nie zuvor in meinem Leben. Und irgendwann habe ich nur noch die
Seiten angestarrt. Zurück bei der Arbeit habe ich Aufgaben, Namen und
Vorlesungszeiten vergessen, mich auf dem Universitätsgelände nicht mehr
zurechtgefunden.

Wie haben Sie sich das erklärt?

Gar nicht. Ich habe mich erst in den vergangenen zwei Jahren und nur mit
professioneller Hilfe damit auseinandersetzen können. Ich hatte all das
auch nach dem Skandal nicht einfach präsent, sondern musste lernen,
diese Dinge überhaupt zu sehen. Die Zeit hat damals Sprünge gemacht, ich
bin nach der Arbeit durch die Stadt geirrt. Einmal stand ich nachts auf
der Zoobrücke im Gegenverkehr und wusste nicht, warum. Ein anderes Mal
war ich mir sicher, einen Studenten über Tage im Seminar betreut zu
haben ‒ bis ich hörte, dass dieser Student im Urlaub war.

Haben Sie mit niemandem darüber geredet?

Ich habe es verheimlicht. Ich habe Stimmen gehört und hatte das Gefühl,
andere Menschen könnten meine Gedanken lesen. Nach Wochen habe ich
beobachtet, wie an verschiedensten Orten Menschen verschwanden: an der
juristischen Fakultät. Am Hauptbahnhof. Im Krankenhaus gegenüber meinem
WG-Zimmer. Irgendwann habe ich für all das eine Erklärung gefunden: Ich
war mir sicher, dass Menschen an der juristischen Fakultät ohne Prozess
verurteilt, am Hauptbahnhof gegen ihren Willen festgehalten und im
Krankenhaus maschinell entsorgt werden. Die Strassenbahn diente nur
dazu, die Verurteilten vom Straflager in die Entsorgungsfabrik zu
bringen. Das war real für mich. Ich war überzeugt, dass das passiert.

Der auf dem Gebiet psychotischer Störungen erfahrene Psychiater, bei dem
Sie seit zwei Jahren in Behandlung sind, sagt, Sie hätten nicht mehr
zwischen Innenwelt und Aussenwelt unterscheiden können und zur
Bewältigung des gedanklichen Zerfalls eine in sich geschlossene,
scheinbar logisch aufeinander aufbauende Welt konstruiert, die es nicht
gab. Das psychotische Erleben, so die heutige Lehrmeinung, wird
ausgelöst durch einen Dopaminüberschuss im Gehirn und kann grundsätzlich
jeden treffen. Wie hat das aufgehört?

Ich habe unbewusst versucht, wieder Ordnung zu schaffen, und angefangen,
Gedanken aufzuschreiben. Ich habe Fahrzeiten der Strassenbahn notiert,
versucht, Muster zu erkennen, für alles Erklärungen zu finden.
Irgendwann habe ich eine juristische Klausur geschrieben, von der ich
keine Ahnung hatte. Der Vorgang, Wörter zu sortieren, Sätze zu bauen,
das Geschriebene zu ordnen und dabei scheinbar rationale Gedanken zu
fassen, hat mir wahrscheinlich geholfen. Ich habe damit zurückgefunden
ins Reale.

Wieso haben Sie keinen Arzt aufgesucht?

Weil ich den Zustand abgekapselt habe, ihn nicht als Teil von mir
begreifen konnte. Nach Wochen habe ich aus allem herausgefunden, die
Strassenbahn weiterhin gemieden, aber ganz normal gelebt. Es gab in den
fünf Jahren danach keinen Einbruch mehr in diesem Ausmass. Immer dann,
wenn es Einrisse gab, habe ich mich unbewusst in irgendeine Form von
Schreiben gestürzt. Ich habe nie Drogen genommen, nie wieder rauschhaft
gelesen. Es muss eine Angst geblieben sein, noch einmal in diesem
Ausmass die Kontrolle über mein Denken zu verlieren.

Sie haben in Ihrem Erststudium Kulturwissenschaft an der Uni Bremen
studiert. Recherchiert man die Liste der Theoretiker, über die Sie in
dieser Zeit Arbeiten geschrieben haben – Foucaults «Wahnsinn und
Gesellschaft», «Das wilde Denken» von Lévi-Strauss, Watzlawicks «Die
erfundene Wirklichkeit» oder Adornos und Horkheimers «Kulturindustrie.
Aufklärung als Massenbetrug» – dann wirkt das wie ein Vorgriff auf Ihren
Fall.

Ich habe nie einen Zusammenhang gesehen. Ich habe auch später beim
Schreiben falscher Reportagen nicht an Konstruktivismus gedacht.

Es geht teilweise um Werke, die die Ansicht vertreten, dass jede
Wirklichkeit die Konstruktion derer ist, die diese Wirklichkeit zu
entdecken wähnen, wobei sie sich des Aktes der Erfindung nicht bewusst
sind. Fehlte Ihnen schon der Respekt vor den Gesetzen der Reportage,
bevor Sie Ihre erste Reportage schrieben?

Wahrscheinlich. Sonst hätte ich mich nicht so konsequent darüber
hinweggesetzt.

Fünf Jahre nach Ihrer Zivildienstzeit und einer mutmasslich ersten
Erkrankungsphase haben Sie in Hamburg Journalismus studiert. Warum
wollten Sie Journalist werden?

Ich glaube, weil es in diesem Beruf darum geht, den Überblick zu
behalten, und weil es ums Schreiben geht.

Ehemalige Kommilitoninnen erinnern sich an Sie als den Studenten mit den
meisten Fehlzeiten, als einen beliebten, aber verschlossenen Menschen,
der kaum von sich erzählte. Abendgespräche mit Persönlichkeiten aus der
Branche, bei denen sich Türen öffneten, haben Sie häufig geschwänzt. Hat
Sie das Handwerk von Anfang an nicht interessiert?

Bei diesen Veranstaltungen ging es nicht um Handwerk, sondern ums
Kontakteknüpfen.

Psychotische Störungen verlaufen chronisch oder in Episoden. Im Frühjahr
2010, fünf Jahre nach Ihrer ersten Krise, erlebten Sie möglicherweise
eine zweite. Freunde wussten nicht, wo Sie sind und was Sie tun. Sie
selbst sagen, Sie wüssten auch nicht genau, was damals über Monate
passiert sei.

Nach einer Beerdigung habe ich mir Dinge eingebildet und wieder Stimmen
gehört. Ich habe ein vereinbartes Pflichtpraktikum während der
Semesterferien kurzfristig abgesagt und bin stattdessen allein nach Kuba
geflogen. Warum, weiss ich nicht mehr. In meiner Erinnerung bin ich
damals weiter nach Mexiko geflogen, aber ich kann heute keinen Beleg
dafür finden, dass ich im Sommer 2010 tatsächlich in Mexiko gewesen bin.

Wenig später erschien in der WELT eine Reportage mit dem Titel «Mein
Nachbar, der Tod». Der Text, Ihre erste veröffentlichte Reportage,
handelt von einem namentlich erwähnten Bestatter in der mexikanischen
Grenzstadt Ciudad Juárez, den es, wie man heute weiss, nicht gibt. Haben
Sie die Grenzen im Journalismus bewusst von Anfang an überschritten?

In meinem Alltag waren die Grenzen über Monate verschwommen. Die Grenze
in einem Text war für mich in dieser Zeit nicht existent. Ich habe das
Schreiben benutzt, um wieder Klarheit zu bekommen. Später habe ich mich
nicht gefragt, ob wirklich alles so gewesen ist. Ich habe meinen Text in
der Zeitung gesehen, mich daran festgehalten und hochgezogen, mich
normal gefühlt. Ich hatte es ja hinbekommen, einen Text zu schreiben,
der in der Zeitung stand.

Nach Abschluss des Studiums begannen Sie, als freier Autor zu arbeiten.
Alle damals entstandenen längeren Texte handelten von Geisteszerfall.
Sie schrieben über ein Pflegezentrum in den Niederlanden, in dem
Alzheimer-Patienten täuschend echt vorgespielt wird, sie lebten in einem
Dorf. Oder über junge Kolumbianer in den Anden, die aufgrund eines
Gen-Defekts an Alzheimer erkrankten.

Ich habe keinen Bezug zu mir gesehen. Auch jetzt wäre er mir nicht
aufgefallen.

Und Sie wollen auch nicht gesehen haben, dass das Erfinden in Reportagen
nichts anderes als Täuschung an Lesern und Redaktionen ist?

Ich hätte das sehen müssen, jeden Tag, aber ich habe das Falsche daran
ausgeblendet, weil ich mich oft nur durch diese Art zu arbeiten im Leben
halten konnte. Ich habe mir mit jedem Text das Gefühl gegeben, meinen
Verstand im Griff zu haben. Ich war innerlich abhängig davon. Das kann
ich jetzt sehen, nach zwei Jahren Therapie.

Die Not zu erfinden, ist nicht nachzuvollziehen. Gerade Sie hätten Grund
gehabt, sich an die Realität zu halten.

Es gab keine Not zu erfinden, aber eine, ungebremst zu schreiben. Ich
habe von Anfang an und auch später beim SPIEGEL sehr häufig das
Doppelte, Dreifache eines normalen Textes geschrieben, nur für mich.
Textlängen, die nie gedruckt werden. Richtige Reporter sammeln Material
und bauen daraus einen Text. Ich bin schon mit einem Wust an Text
zurückgekommen und habe dann gekürzt, bis alles extrem geschlossen war
und irgendwie Sinn und Ordnung hatte.

In der Therapie, die Sie machen, stand sehr lange das Thema Schreiben
als Bewältigungsstrategie von Krankheitsphasen im Mittelpunkt. Es gibt
Studien, die nahelegen, dass gerade kreatives Schreiben bei
psychotischen Störungen, die mit innerer Fragmentierung, also Gedanken-,
Welt- und Sprachzerfall einhergehen, heilsam sein kann. Im Journalismus
hat so etwas aber nichts verloren.

Eine Geschichte zu schreiben, ist das eine. Sie einer Zeitung
abzuliefern, bedeutet nichts anderes als Täuschung, Fälschung. Ich habe
das nicht sehen wollen, sondern mich in Arbeit gestürzt, von da an
sechs, sieben Jahre lang praktisch jeden Tag in irgendeiner Form
geschrieben. Meistens journalistisch falsch.

Laut der psychotherapeutischen Aufarbeitung haben Sie damals
möglicherweise einmal im Jahr mehrwöchige psychotische oder psychosenahe
Krisen erlebt. Häufig nach Reisen.

Das stimmt. Es gibt keinen Grund, das hier alles auszubreiten. Nach
einer Rückkehr aus Albanien bin ich über mehrere Tage in ein Waldstück
bei Hamburg gegangen, um nach einem Störsender zu suchen, der meine
Gedanken blockiert und die Kommunikation mit anderen Menschen
verhindert. Danach habe ich Freunde getroffen, aber niemandem von meinen
geheimen Waldmissionen erzählt, weil ich der Meinung war, andere würden
das nicht ganz verstehen.

Der psychiatrische Begriff der «doppelten Buchführung» beschreibt eine
Erlebensspaltung und ein gleichzeitiges Nebeneinander von Realität und
Wahn. Erkrankte können in der Lage sein, die innere Welt, die in der
äusseren Welt nicht adäquat erscheint, für sich zu behalten und
krankhafte Gedanken zu verheimlichen. Wollen Sie so auch Ihre
Fälschungen erklären?

Die sind nicht mit psychiatrischen Begriffen zu erklären. Ich bin dafür
verantwortlich.

Psychotische Störungen sind mit einem Tabu belegt. Welche Rolle hat
Scham gespielt, so etwas wie einen Störsender in Ihren Gedanken zu
verheimlichen?

Ich habe mich geschämt, wenn mir das Entrückte in irgendeiner Weise
klargeworden ist. Es wird einem aber nicht immer klar. Ich kenne andere
Menschen mit psychischen Erkrankungen, aber ich habe mich selbst nicht
als krank wahrgenommen.

Stress, Einsamkeit und fremde Umgebungen begünstigen psychotische
Zustände. Es fällt auf, dass Sie all das geradezu gesucht haben und
schon als freier Autor vor allem über Themen im Ausland schrieben. Weil
in Deutschland Unstimmigkeiten leichter aufgefallen wären?

Mir war klar, dass im Ausland weniger Menschen mitbekommen, was ich
überhaupt mache. Allein mit mir hatte ich ein Gefühl der Kontrolle,
gleichzeitig habe ich sie verloren. Als ich im Sommer 2012 von einer
längeren Reise nach Israel zurückkam, funktionierte meine Sprache nicht
mehr. Ich hatte Angst zu sprechen, habe mich in meinem WG-Zimmer
eingeschlossen, Steckdosen abgeklebt. Ich hatte das Gefühl, meine
Gedanken verschwinden und fremde Gedanken strömen ein. Der Typ, der am
Bahnhof mit sich selbst redet ‒der war in der Zeit ich. Aber statt zu
Hause zu bleiben, habe ich versucht, gleich wieder zu verschwinden und
Ihrer Redaktion ein Thema vorgeschlagen. Das war wie eine Flucht.

Wie kann es sein, dass Sie sich an abgeklebte Steckdosen erinnern, nicht
aber daran, ob Sie in Mexiko gewesen sind?

Noch vor drei Jahren wäre ich mir sicher gewesen, dass ich in Mexiko
gewesen bin, und an das andere hätte ich mich nicht erinnert.

Die Geschichte, die Sie unserer Redaktion vorschlugen, handelt von
geisteskranken Mördern, die in einem kalifornischen
Hochsicherheitsgefängnis von anderen Insassen gepflegt werden. Sie
bekamen den Auftrag, meldeten sich nicht wieder und lieferten irgendwann
einen fertigen Text ab. Jeder Satz sass perfekt. Es fällt schwer, diese
Perfektion mit der angeblich vorangegangenen Verwüstung in
Übereinstimmung zu bringen.

Je grösser meine Verunsicherung war, desto perfekter wurden die Texte.
In Hamburg hätte ich keine geraden Sätze schreiben können. Wochen
später, im Gefängnis, habe ich ohne Rücksicht geschrieben, um nicht
wieder zurückzufallen. Die Beschäftigung mit einem Thema, die
Konzentration beim Formulieren, das hat mich abgelenkt. Damit konnte ich
falsche Gedanken unterdrücken. Ich hatte das Gefühl, beim Schreiben den
Kontakt zur Realität zu behalten. Dass ich journalistisch jeden
Realitätsbezug verliere, habe ich einfach ignoriert.

Heute weiss man, dass Sie zwar im Gefängnis waren, die beschriebenen
Menschen aber nicht existieren. Wie hätten Sie reagiert, wenn schon
während der Recherche jemand an Ihrer Geschichte gezweifelt hätte?

Ich hätte bewusst gelogen, um genau die Geschichte schreiben zu können,
die ich dort gesehen habe. Ich hatte viele Überzeugungen, viel Energie,
aber wenig Hemmungen. Tagsüber war ich im Gefängnis, auf der
Krankenstation, mit Häftlingen in ihren Zellen, nachts habe ich nicht
geschlafen, sondern geschrieben, um auf dem Papier und in mir Ordnung zu
schaffen. Dabei habe ich sieben oder acht Häftlinge zu zweien
verdichtet. Ich will noch heute glauben, dass diese Geschichte viel über
das erzählt, was in diesem Gefängnis passiert.

Ein Reporter, der mit dieser Argumentation seine Texte verteidigt hat,
war Tom Kummer. Einer, der Reportagen fälschte und ganze Interviews
erfand, der sich als Künstler sah und über den Journalismus stellte.
Teilen Sie diese Haltung?

In Reportagen oder in dem, was ich geschrieben habe, habe ich nie Kunst
oder Literatur gesehen. Die macht ja gerade nicht das Geschlossene,
sondern das Fragile, Unsagbare und Unsichtbare aus.

Ein Jahr später wurde dieser Text mit dem Deutschen Reporterpreis 2013
ausgezeichnet. Die Jury lobte: «Eine grosse Geschichte, ein aufregender
Stoff, dramaturgisch und sprachlich meisterhaft erzählt.» Heute wird
Ihnen vorgeworfen, Sie hätten auf Effekt geschrieben.

Natürlich wollte ich gute Texte schreiben. Ich habe beim Schreiben aber
nicht daran gedacht, was wie irgendwo ankommt. Ich war immer nur mit dem
jeweiligen Thema und mit mir beschäftigt.

Kurz nach dem Deutschen Reporterpreis bekamen Sie das Angebot, ein
zweimonatiges Praktikum im SPIEGEL-Gesellschaftsressort zu machen. Der
Effekt hätte nicht grösser sein können.

Stimmt.

Angeblich wollten Sie dieses Praktikum zunächst nicht machen. Weil Sie
wussten, dass der SPIEGEL eine Dokumentationsabteilung hat, die jeden
Text auf Fakten checkt?

Das wäre logisch gewesen, aber daran habe ich nicht gedacht. Ich habe
befürchtet, zwei oder drei Monate lang jeden Tag in ein Büro zu gehen,
in dem mehrere hundert intelligente, aufmerksame Menschen arbeiten. Ich
hatte die drei Jahre davor vor allem mit mir verbracht, Freunde auf
Distanz gehalten, andere Menschen nur gezielt getroffen.

Warum haben Sie das Praktikum trotzdem gemacht?

Ich wollte mir selbst und anderen zeigen, dass ich das kann. Dass ich in
einem normalen Arbeitsumfeld funktioniere wie jeder andere auch. Dass
das, was ich erlebe, normal ist.

Ihre ersten Texte waren Beiträge für die Kurzrubrik «Eine Meldung und
ihre Geschichte». Einschliesslich Ihrer späteren Zeit beim SPIEGEL
schrieben Sie insgesamt 40 Texte für diese Rubrik, mit «Tempo» und
«Witz», wie das Magazin in seiner Skandaloffenlegung festhielt. Aber
genau wie in den grossen Reportagen fanden sich in fast allen Beiträgen
kleinere und grössere Fehler oder Falschdarstellungen. Wollten Sie
einfach mit jedem Text glänzen?

Die Rubrik ist in der Redaktion ein beliebter, aber unglamouröser
Dienst, der jede Woche erledigt wird. Man kriegt dafür keine
Auszeichnung, kein Schulterklopfen, erst recht keinen Vertrag. Es wäre
irrsinnig, dort auch nur einmal etwas Falsches zu schreiben, um zu
glänzen. Es ist komplett sinnlos, das sogar noch in Festanstellung 40
Mal zu tun und jedes Mal für gar nichts alles zu riskieren.

Sie sagten, womöglich seien die wenigsten Texte, die Sie je geschrieben
haben, journalistisch ganz korrekt gewesen. Das heisst, Sie haben auch
dann, wenn Sie gesund waren, ganz bewusst erfunden.

Ja. Ich habe nicht nur als Reaktion auf Denk- oder
Wahrnehmungsstörungen, sondern auch in Phasen ohne für mich heute
erkennbare Not zwanghaft daran festgehalten, als ginge es gar nicht anders.

In Phasen von Realitätsverlust nicht auf Fakten zu achten, mag das eine
sein. Dasselbe in Klarheit zu tun, ist etwas anderes. Wie können Ihnen
da keine Zweifel, keine Gewissensbisse gekommen sein?

Ich habe nicht vor jedem Text eine Wahl treffen müssen. Ich musste mir
nichts schönreden. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, eine Grenze zu
überschreiten, und stand beim Schreiben auch nie vor der Frage, ob ich
das so machen kann. Ich habe das offensichtlich Falsche nicht nur
verdrängt, sondern vollständig ausgeblendet. In meinem Alltag liefen
sehr grosse Widersprüche fast ständig nebeneinander her.

Wie soll man sich das vorstellen, wie gingen Sie vor, wenn Sie ein Thema
erhielten? Stand die Geschichte schon am Schreibtisch fest?

Es gab kein systematisches Vorgehen, jeder Text ist anders entstanden.
Ich habe nicht einfach möglichst beeindruckende Geschichten am
Reissbrett konstruiert, sondern in den allermeisten Fällen recherchiert
wie jeder andere auch, mich wochenlang eingelesen, Orte und Personen
besucht. Ich hatte wirklich den Anspruch, dem Leser ein Thema so nahe
wie möglich zu bringen. Beim Schreiben selbst habe ich mich dann in ganz
unterschiedlichem Bewusstsein und auch Ausmass von der Realität gelöst,
als ginge es bei Reportagen vor allem darum, Bilder zu erzeugen. Ich
habe dabei journalistische Regeln ignoriert, und ich hätte mich deswegen
permanent falsch fühlen müssen, aber das habe ich überhaupt nicht.

Sie kennen Debatten um journalistische Ethik, waren umgeben von Leuten,
deren Beruf es ist, die Realität abzubilden. Wie wollen Sie das
ausgeblendet haben?

Es gibt Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Den beruflichen Wahnsinn
zu erkennen, hätte wahrscheinlich bedeutet, auch den anderen Wahnsinn
dahinter zu erkennen. Dann hätte ich am nächsten Tag nicht mehr in die
Redaktion gehen dürfen, sondern an meinem Verstand zweifeln müssen. Ich
habe versagt, mir das einzugestehen, und mein Handeln in Jahren nicht
mal für zwei Minuten in Frage gestellt.

Sie werden auch gemerkt haben, dass Ihre Texte geschätzt werden, dass
Sie damit erfolgreich sind.

Ich habe das als meine Arbeit angesehen und geglaubt, ich mache meine
Arbeit gut. Ich habe auch viele Kollegen sehr geschätzt, und natürlich
fand ich es toll, wenn Texte von mir gelobt wurden. Wenn Leserinnen oder
Leser schrieben, dass diese Texte etwas in Ihnen ausgelöst hätten, hat
mich das noch mehr bestärkt.

Erfolgreich wurden Sie vor allem mit Ihren grossen Reportagen für den
SPIEGEL. Kritiker werfen Ihnen vor, Sie hätten ein bestimmtes Weltbild
bedient, um damit durchzukommen.

Ich habe nie an Durchkommen gedacht. Der Vorwurf kommt vor allem aus der
rechten Ecke, hat sich an einem Text über geflüchtete Kinder und einem
Text über Trump-Wähler entzündet und irgendwie verselbständigt. Dabei
spielten bei den allermeisten Themen Weltbilder gar keine Rolle. Ein
Dokumentar, der Texte auf faktische Fehler prüft, wird auch keine
Einwohnerzahl weniger prüfen, weil ihm das Weltbild gefällt. Auch kein
Ressortleiter wird den Text weniger kritisch betrachten. Im Gegenteil.

Viele Ihrer grossen Texte ‒ zu Themen wie dem Syrienkrieg, Guantánamo,
Rassismus in den USA – bestätigten das Weltbild der Leser und Redaktionen.

Wie soll ein anderes Weltbild zu diesen drei Themen aussehen? Nach einer
Geschichte über Abtreibungen in Mississippi musste ich wütende
Leserreaktionen beantworten. Eine Geschichte über die Todesstrafe in den
USA wurde offenbar aufgrund ihrer zu kontroversen Haltung von einzelnen
Juroren des Reporter-Forums abgelehnt, wie nachzulesen war. Ich weiss
nicht, wie das ins Weltbild einer liberalen Redaktion passen soll.
Gerade im SPIEGEL-Gesellschaftsressort ging es um das Aushalten von
Widersprüchen.

Gleich drei Ihrer grossen Geschichten haben von Kriegsflüchtlingen
gehandelt und Auszeichnungen erhalten. Der Verdacht liegt nahe, dass Sie
um die Vorlieben der Journalistenpreis-Jurys wussten.

In allen drei Fällen hatte ich mir das Thema nicht selbst ausgesucht.
Ich wurde, was selten vorkam, beauftragt. Bestimmt hatten diese Texte
eine Schlagseite. Ich weiss nicht, wie man ambivalent über Kriegswaisen
schreiben soll.

Laut Aufarbeitung des SPIEGELS sei auch Ihr vielbeachtetes Interview mit
Traute Lafrenz, einer Unterstützerin der Weissen Rose, nicht ganz «akkurat».

Es fällt mir schwer, mich dazu angemessen zu äussern. Ich bin Frau
Lafrenz nach langer Vorbereitung mit viel Demut begegnet und wollte,
dass man in Deutschland unbedingt von ihr erfährt. Ihr zuzuhören, war
eindrucksvoll. Das Gespräch in den USA wurde zum Teil auf Englisch, zum
Teil auf Deutsch geführt. Es brach zwischendurch aber auch immer wieder
ab. Um das Transkript lesbar zu machen, habe ich es geschliffen,
teilweise Sätze in Formulierungen vervollständigt, die sie in der
Biografie des Norwegers Peter Normann Waage verwendet hat. Um einzelne
Passagen zu verifizieren, habe ich mich vor Abdruck mit dem
Hans-Scholl-Biografen Robert Zoske getroffen. Ich selbst hatte sie vor
Ort gebeten, das Interview vorab zu lesen, und habe nach
Veröffentlichung versucht, Kontakte zu vermitteln, da ihr nach dem
Interview das Bundesverdienstkreuz verliehen werden sollte. Ich hätte
all das nicht gemacht in dem Bewusstsein, dass nur einzelne Zeilen
falsch wiedergegeben sein könnten. Dass ausgerechnet dieses Interview
aufgrund meiner ganzen anderen Verfehlungen überhaupt in den Verdacht
der Fälschung geraten ist, ist schlimm. Ich habe Frau Lafrenz als Erster
einen Brief geschrieben, um mich zu entschuldigen.

Im Bericht der Untersuchungskommission zu Ihrem Fall hiess es, im
SPIEGEL-Gesellschaftsressort habe eine Kultur des Geschichtenerzählens,
des Rundmachens geherrscht. Es war die Rede von einem Druck, mit
Reportagen Auszeichnungen zu gewinnen.

Ich habe davon nichts gemerkt. Ich habe in diesem Ressort hervorragende
Kolleginnen und Kollegen kennengelernt, die im Gegensatz zu mir richtige
Reporter sind und die nicht auch nur einen Text für einen Preis
geschrieben hätten. Ich habe überhaupt keinen Journalisten
kennengelernt, dem es mehr um Handwerk, Inhalt und die Sache ging als
meinem ehemaligen Ressortleiter. Keinen, der sich weniger für
Auszeichnungen interessiert hat.

Trotzdem gewannen Sie in wenigen Jahren mehr Auszeichnungen als die
allermeisten.

Wenn ich darauf hingeschrieben hätte, dann hätte ich gezielt prägnante
Szenen in ausgewählten Texten dramatisch erhöht, bei denen es drauf
ankommt. Ich habe stattdessen wahllos ganze Texte geschrieben, in denen
überhaupt nichts stimmte, darunter vor allem völlig unbedeutende, kleine
Texte, die niemals in die Nähe einer Auszeichnung gelangen konnten.

Sie galten in der Redaktion als sehr beliebt. Als jemand, der nicht nur
für seine Texte, sondern auch für sein Auftreten bewundert wurde und
sich für einfache Arbeiten nicht zu schade war. In vielen Artikeln zum
Fall wurde Ihre Hilfsbereitschaft und vor allem Bescheidenheit
hervorgehoben. Das alles kann man im Nachhinein als Masche deuten.

Wenn ich jemand wäre, der all das aus Geltungssucht getan hätte oder
sich in besonderer Weise über Karriere und Status definieren würde, dann
hätte ich die Zeit seit dem Skandal nicht überstanden.

Nach dem Skandal haben Sie sämtliche Preisgelder von sich aus
zurückgezahlt. Schon in den Jahren zuvor hatten Sie Preisgelder in
voller Höhe an Kinderhilfsorganisationen gespendet. Weshalb?

Weil ich keine Preisgelder für Geschichten über Kinder im Krieg behalten
wollte, auch dann nicht, wenn diese Kinder gar nicht existierten.

Sie haben insgesamt 21 000 Euro gespendet. Mussten Sie doch Ihr Gewissen
beruhigen?

Nein, nie. Nach dem Skandal waren mir einzelne Spenden gar nicht mehr
klar. Ich habe in den Texten auch nie etwas Schlechtes gesehen, und
andere Reporter hätten bei solchen Themen das Gleiche gemacht. Aber wenn
mein Verhalten in der Redaktion nur eine Masche gewesen wäre, um mich
hervorzutun oder Kollegen für mich einzunehmen, dann hätte ich davon
erzählt.

Journalistische Erfolge haben in Ihrem Privatleben fast keine Rolle
gespielt. Die meisten Ihrer Freunde hatten bis zum Skandal kaum eine
Reportage von Ihnen gelesen. Auch Sie haben selten davon erzählt. Weil
Ihnen klar war, wie diese entstanden sind?

Ich verstehe, dass man das denken muss. Wenn mir jemand zu einem Text
gratuliert hat, habe ich mich ehrlich gefreut. Ich würde einfach
grundsätzlich eher nicht von mir aus von so etwas erzählen.

Als freier Mitarbeiter war Ihnen im Frühjahr 2015 eine Festanstellung
beim SPIEGEL angeboten worden. Sie lehnten die Traumstelle mit dem
Hinweis ab, dass Sie sich um eine Schwester kümmern müssten, die Sie
nicht haben. Warum?

Ich habe mich im Jahr 2015 tatsächlich um jemanden gekümmert. Eine
Erinnerung an die Absage habe ich nicht, aber ich habe auch keine
Schwester. Als ich in einem späteren Moment noch einmal darauf
angesprochen wurde, habe ich das nicht aufgelöst, sondern einmalig
aufrechterhalten und damit gelogen, weil ich über mich selbst
erschrocken war und es mir unendlich peinlich war. Der Punkt ist, ich
hätte mir die Festanstellung zu dieser Zeit wirklich nicht zugetraut.

In der gleichen Woche, als Sie die Stelle beim SPIEGEL ablehnten,
sprachen Sie auch privat von Ereignissen, die nicht real waren. Einen
Menschen, der Ihnen nahesteht, haben Sie wiederholt dazu gebracht, an
seinem eigenen Verstand zu zweifeln.

Ich habe den Menschen, den ich am meisten liebe, leiden sehen und
trotzdem an meiner Realität festgehalten, um nicht an mir zweifeln zu
müssen. Genau so habe ich mich Jahre später auch gegenüber Juan Moreno
verhalten, als dieser alles aufdeckte und zeitweise wohl auch an seinem
Verstand zweifeln musste, weil ich unerbittlich an etwas festgehalten habe.

SPIEGEL-Kollegen, aber auch Privatpersonen schildern Sie als Menschen,
der häufig zwischen entrückter Abwesenheit und höchster Konzentration
schwankt. Vielen ist Ihr scheinbar extremes Gedächtnis aufgefallen. Auch
dass Sie häufig unruhig wurden, wenn Sie nicht arbeiteten. Dass Sie
derart den Bezug verlieren, hat niemand wirklich erkannt. Wie lässt sich
das verbergen?

Die Phasen bestimmen nicht mein ganzes Leben. Das zu verbergen,
bedeutet, einen Teil abzukapseln, der in Momenten gross werden kann. Ich
habe versucht, häufig allein zu sein. Es gab und gibt aber Phasen, in
denen ich es nicht merke. Das bedeutet, im Nachhinein Brände austreten
zu müssen, Unsicherheiten zu überspielen, sich selbst und andere darüber
hinwegzutäuschen und sich umso kontrollierter, selbstsicherer zu
präsentieren. Ich habe das so automatisch gemacht, dass ich mir
tatsächlich ganz normal vorkam. Genau wie mir die Arbeit ganz normal vorkam.

In den knapp zwei Jahren Festanstellung beim SPIEGEL schrieben Sie nicht
nur die meisten, sondern in der Regel auch die längsten Texte aller
Reporter. Sie sagen, das Schreiben habe Ihnen geholfen, Klarheit zu
behalten, sagen aber auch, dass Sie selbst dabei den Bezug zur Realität
verloren hätten. Wie soll das zusammenpassen?

Je länger ich irgendwo mit mir allein gewesen bin, desto mehr ist das
passiert. In der Stadt Fergus Falls in Minnesota war ich vier Wochen und
habe dort einen Text geschrieben, der überhaupt nichts mehr mit diesem
Ort zu tun hatte.

Im Dezember 2016, während der Schlacht um Mossul, recherchierten Sie im
Nordirak. Kontoauszüge zeigen, dass Sie dort umgerechnet gut 4500 Euro
in irakischen Dinar abgebucht haben. Wofür braucht man so viel Geld in
einem Kriegsgebiet?

Nicht fürs Hotel, auch nicht für Fixer oder Mietwagen. Ich war Monate
vorher schon mal dort gewesen, bei einem Mann, dessen Bruder auf der
Flucht in einem Kühllaster zwischen Ungarn und Österreich erstickt ist.
Ich erinnere mich, dass ich diesem Mann und seiner Familie Geld geben
wollte, um sie aus dem Land zu bringen, dass ich für sie Flugtickets
nach Istanbul gekauft und am Flughafen auf sie gewartet habe, sie aber
nie erschienen sind. Es kann auch sein, dass alles ganz anders war und
ich mir Teile davon nur eingebildet habe.

Wie soll man glauben, dass sich ein SPIEGEL-Redakteur, der scheinbar
problemlos in Kriegsgebiete gereist ist, derart verliert?

Ich erwarte nicht, dass man das nachvollziehen kann.

Wir haben für dieses Interview mit verschiedenen Experten für
psychotische Störungen gesprochen. Eine hohe Intelligenz kann Erkrankten
helfen, Symptome zu kompensieren und vor Mitmenschen zu verheimlichen.
Das Gleiche dürfte für systematischen Betrug gelten.

Wenn mir Widersprüche klar geworden sind, habe ich die Fehler in meinen
Texten genauso verschleiert wie manche Symptome. Ich habe bei einigen
Recherchen vorgegeben zu recherchieren, wenn ich es in Wahrheit gar
nicht konnte, gar nicht an den richtigen Orten war oder statt zu
recherchieren mit Irrsinn beschäftigt war. Ich habe viel dafür getan und
häufig bewusst dafür gesorgt, dass das niemand mitbekommt. Nicht nur im
Nachhinein, manchmal sogar schon davor. Ich habe auch Zustände nicht nur
im beruflichen Umfeld aktiv verheimlicht, vertuscht, sondern noch viel
mehr im privaten. Auf offener Bühne und trotz ständiger Warnungen
konsequent das Falsche zu schreiben, ist aber kein systematischer Plan.

Fehler verschleiern ist ein gutes Stichwort: Der Wikipedia-Eintrag zu
Claas Relotius wurde nach dem Skandal, ab Frühjahr 2019, von einem
Server aus dem Grossraum Hamburg zu Ihren Gunsten verändert. Haben Sie
eine Erklärung dafür?

Ich war in diesen Monaten durchgehend in der Klinik, mehrere hundert
Kilometer von Hamburg entfernt. Ich hatte bis zum Skandal auch gar
keinen eigenen Wikipedia-Eintrag und kann ausschliessen, dass jemand aus
meinem direkten Umfeld das gemacht hat.

Der Medienwissenschaftler Volker Lilienthal nannte Ihren Fall die
Geschichte eines begabten jungen Mannes, der sich willentlich in die
berufliche Selbstvernichtung begeben habe. Haben Sie nie an Ihre
Verantwortung gedacht?

Ich habe offensichtlich sehr viel Verantwortungsgefühl ausgeschaltet, am
meisten gegenüber Kollegen, aber auch gegenüber realen Menschen, über
die ich geschrieben habe. Ich hatte beim Schreiben nie niederträchtige
Absichten, und ich wollte auch niemanden verletzen, indem ich etwas
Falsches schreibe. Dass ich das getan habe, bereue ich am meisten.
Weltweit steht die Arbeit von Journalisten unter Beobachtung.

Glaubwürdigkeit ist alles, was diese Branche hat. Sie haben denen, die
von Fake News reden, Auftrieb gegeben.

Es ist bitter, das zu sehen. Die allermeisten Texte von mir waren
vollkommen unpolitisch, kein Text hatte einen Nachrichtenwert, mein
Verhalten sagt nichts über den Journalismus aus. Der SPIEGEL hat
sämtliche seiner Recherchen unabhängig überprüfen lassen müssen, und
herausgekommen ist, dass seit mehr als 70 Jahren praktisch sämtliche
Recherchen korrekt sind.

Besonders grosse Empörung löste Ihr Text über die Trump-Wähler in der
US-amerikanischen Kleinstadt Fergus Falls aus. Sie durften gut einen
Monat vor Ort sein und haben der Redaktion am Ende eine zehnseitige
Geschichte geliefert, in der ausser der Jahresdurchschnittstemperatur
überhaupt nichts stimmte. Was haben Sie dort die ganze Zeit gemacht?

Ich bin zwei Wochen lang jeden Tag vom Motel an der Interstate in den
Ort gelaufen, um Bewohner zu treffen. Ich habe mit mehr als 20 Menschen
gesprochen, fünf verschiedene Kirchen besucht, auf der Polizeistation
oder in der Schule habe ich mir Notizen gemacht, bei Interviews im
Rathaus oder beim Diner lief manchmal ein Tonbandgerät mit. Wie bei
jeder Recherche habe ich niemandem gegenüber verschwiegen, wie ich
heisse und für welches Magazin ich schreibe. Ich habe vor Ort keine
Spuren verwischt. Ich habe den Artikel sogar angekündigt und gesagt,
wann und wo er zu lesen sein werde.

Wir haben mit dem Bürgermeister gesprochen, der dies bestätigt. Nach
zwei Wochen berichteten Sie damals der Redaktion: «Ich sehe hier
nichts.» Kurz darauf, von einem Abend zum nächsten Morgen, vermeldeten
Sie verschiedenen Personen zu Hause, Sie hätten es jetzt. Was war passiert?

Ich bin an einem Abend aus der Stadt zurückgelaufen, mit sehr vielen
Gedanken gleichzeitig. Als ich beim Motel ankam, hatte ich die ganze
Geschichte im Kopf, die ich in derselben Nacht runtergeschrieben habe.

Sie waren mit einem Rechercheauftrag für vier Wochen in den USA und
haben die Geschichte in einer einzigen Nacht erfunden?

Ja.

Was haben Sie in den restlichen zwei Wochen gemacht?

Ich bin unruhig geworden. In der dritten Woche habe ich einen Wagen
gemietet und bin von Minnesota nach North Dakota gefahren, in das Gebiet
Standing Rock, durch das Trump eine Pipeline legen wollte. Menschen zu
Hause habe ich glauben lassen, ich sei weiterhin in Fergus Falls und
würde recherchieren. Ich habe verschwiegen, dass ich ohne Auftrag in
einem anderen Bundesstaat war, um noch einen Text schreiben zu können.

Wir haben keine Gelegenheit zu überprüfen, ob das stimmt.

Acht Monate später, während einer weiteren USA-Reise mit ursprünglich
nur einem Auftrag, ist auf genau diese Weise ein zweiter vollständig
falscher Text entstanden, der gedruckt wurde.

Wir wissen, dass Sie kurz vor dieser Reise ein Fernsehredakteur
kontaktierte, der einen Film über Fergus Falls drehen wollte und Ihnen
von der Unzufriedenheit eines Bewohners über Ihren Text berichtete.
Während Ihrer Reise konfrontierte Sie auch unsere Redaktion mit
unangenehmen Fragen zu einer vier Jahre alten Geschichte. Hatten Sie
keine Angst, dass da zwei Bomben gleichzeitig hochgehen könnten?

Nein. Ein Journalist würde nie in die Situation kommen. Ein genialer
Betrüger würde vermutlich spätestens jetzt korrekt arbeiten. Meine
Reaktion war, wie in anderen Fällen auch, einfach noch zwei Geschichten
zu schreiben, weil es mir innerlich Sicherheit gegeben hat. Für die
zweite, einen Text über den Footballer Colin Kaepernick, hatte ich
wieder gar keinen Auftrag, die Redaktion hat nichts verlangt. Es gab
keinen Druck, keine äussere Not. Die war nur in mir.

Sie müssen erkannt haben, was in Ihren Texten falsch ist. Sonst hätten
Sie Zweifel nicht immer wieder entkräften können.

Wenn ich mit Fehlern konfrontiert wurde, habe ich reflexartig
Erklärungen dafür gefunden, auch für mich selbst. In anderen Momenten
habe ich sehr bewusst gelogen, in der Überzeugung, dass andere nur nicht
verstehen könnten, warum ich die Geschichte genau so schreiben musste.

Geschickte Handlungen, die auf Kalkül hindeuten, vermischen sich mit
Irrsinn. In Ihren Texten finden sich vielfach leicht überprüfbare,
haarsträubende und vor allem unnötige Falschdarstellungen, die den Text
nicht farbiger oder besser machen. Ihre Geschichte über Fergus Falls
beispielsweise beginnt mit einem Wald, obwohl dort kilometerweit nur
Steppe ist. Das Wahlergebnis haben Sie sogar weniger dramatisch
dargestellt, als es tatsächlich war. Wie wir wissen, haben Sie – wie
auch in anderen Fällen – Einwohnern der Stadt trotzdem Belegexemplare
geschickt. Was haben Sie sich dabei gedacht?

Nichts. Es gibt viele Fotos von mir auf Preisverleihungen, jeder muss
auf diesen Fotos einen eiskalten Blender sehen. Das meistpublizierte
Bild stammt vom Liberty Award 2017, und die Person, die man dort sieht,
sieht tatsächlich keine Probleme, diesen Preis entgegenzunehmen, hat
keinen einzigen zweiten Gedanken. Genauso wenig wie ich zwei Tage später
ein Problem darin gesehen habe, den zehnseitigen, beleidigend falschen
Text nach Fergus Falls zu schicken an Menschen, über die ich darin
falsch berichtet hatte.

Wollten Sie manchmal, dass alles auffliegt?

Das Wort Auffliegen war überhaupt nie da. Zwei Jahre später, als es um
die Bürgerwehr in Arizona ging, die ich nie getroffen hatte, stand ich
im Layout neben Kollegen, um Archiv-Fotos zu sichten. Es gab genügend
Bilder, auf denen keine Gesichter der Protagonisten zu sehen waren.
Damit wäre auch nichts nachprüfbar gewesen. Ich selbst bin es gewesen,
der ohne jede Not die Bilder mit den Gesichtern jener Nationalisten
ausgewählt hat, die Juan Moreno dann besuchen konnte. Dass ich sie nie
getroffen hatte, das war zeitweise nicht mehr in meinem Kopf.

Ihr ehemaliger Kollege musste Ihnen hinterherreisen, um zu beweisen,
dass Sie die Arizona-Geschichte erfunden hatten. Konfrontiert mit seinen
Vorwürfen, haben Sie diese so überzeugend entkräftet, dass Moreno
zeitweise als Nestbeschmutzer dastand. Wie konnten Sie das tun?

Ich hatte keinerlei Schuldbewusstsein. Es ist gekippt, als mir
Handy-Videos gezeigt wurden, auf denen Männer dieser Bürgerwehr in die
Kamera sagten, sie hätten mich noch nie gesehen. Trotzdem habe ich
weiter an meiner Vorstellung festgehalten. Ich war nicht in Panik,
sondern bis zuletzt ganz ruhig, habe ernsthaft überlegt, nach Arizona zu
fliegen, um zu belegen, dass ich recht habe. Ich habe dazu auch E-Mails
manipuliert, um andere und mich selbst davon zu überzeugen. Ich habe
ignoriert, in welche Lage ich Juan Moreno und meine Vorgesetzten damit
bringe.

Sie nahmen in Kauf, dass Moreno nicht nur seinen Ruf als Journalist,
sondern möglicherweise auch seinen Job verliert. Es heisst, Sie hätten
sogar gesagt, er werde jetzt leider entlassen.

Ich habe die Person, der gegenüber ich diesen Satz gesagt haben soll,
danach gefragt. Diese Person hat nicht nur mir gegenüber bestätigt, dass
dieser Satz nie gefallen ist. Ich wusste zu keinem Zeitpunkt von einer
Entlassung, weiss es bis heute nicht und möchte mich zu Morenos
damaliger Position beim SPIEGEL nicht äussern. Fest steht, dass ich
skrupellos in Kauf genommen habe, dass er in der Redaktion gegen Wände
anrennen, um seinen Ruf fürchten und sich meinetwegen sogar noch
rechtfertigen musste, obwohl er mit allem recht hatte.

Ende 2018, also zur gleichen Zeit, sollte die Leitung des
Gesellschaftsressorts weitergegeben werden. Laut Moreno standen Sie als
künftiger Ressortleiter fest und hätten sich als solcher bereits mit
Kollegen von SPIEGEL TV getroffen, um eine Kooperation zu besprechen.
Sie seien am Ziel gewesen.

Es war nie mein Ziel, und es stand auch nie fest. Ich habe zu keinem
Zeitpunkt zugesagt, und ich hatte auch nie ein konkretes Angebot. Ich
habe mich auch nie mit Kollegen von SPIEGEL TV getroffen. Das sind
Behauptungen für ein Buch, das Antworten geben will, die es nicht geben
kann.

Laut Moreno wären Sie auch deswegen am Ziel gewesen, weil Sie keine
eigenen Texte mehr hätten schreiben müssen und Ihre alten im Archiv
verschwunden wären, online nicht mehr verfügbar. Sie hätten aufgehört,
als Reporter zu arbeiten und nicht mehr auffliegen können. Darauf läuft
der ganze Spannungsbogen, das «System Relotius», hinaus.

Das genaue Gegenteil stimmt. Es gibt drei ehemalige Vorgesetzte, die
bestätigen können, dass ich nicht aufgehört hätte und mir die Position
vielmehr völlig egal gewesen wäre, solange ich nur weiter in der
gleichen hohen Frequenz hätte schreiben können. Sämtliche Archiv-Texte
aller SPIEGEL-Autoren sind bis heute frei verfügbar, auch die von Moreno
selbst. Würde es stimmen, dass die Ressortleitung feststand und diese
mein strategisches Ziel gewesen wäre, dann hätte ich bei der letzten
Recherche auch keinen irrsinnig falschen Text mehr geschrieben, sondern
einfach nichts. Dann wäre ich nicht mehr freiwillig losgeflogen, denn
dann wäre ich als karrieristischer Betrüger ja am Ziel gewesen.

Wir haben Juan Moreno Fragen zu diesen und anderen Darstellungen
geschickt, die er unbeantwortet liess. Er hat Sie mit seinem Buch zum
Hochstapler erklärt. Weder der SPIEGEL noch die Aufklärungskommission
verwenden diesen Begriff. Was stimmt?

Wenn es keine Redakteursstellen beim SPIEGEL gäbe, wenn es keine
Journalistenpreise gäbe – ich hätte alles genau so gemacht. Aber ich
denke bis heute nicht bloss über Realitätsverluste nach. Ich frage mich
noch viel mehr, wie ich in so vielen Situationen so gewissenlos handeln
konnte. Ich habe aktiv gehandelt und will mich nicht hinter psychischen
Problemen verstecken. Niemand hat mich gezwungen, Journalist zu werden.
Ich wollte das. Es war meine Entscheidung.

Das Buch von Juan Moreno wurde in der Branche einhellig gelobt. Der
Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen bezeichnete Moreno als
«Musterbeispiel eines investigativen Medienjournalisten». Moreno hatte
Sie nach dem Skandal per SMS einmalig kontaktiert und Ihnen angeboten,
ihm ein Interview zu geben. Sie hätten seinem Bild rechtzeitig
entgegentreten können.

Ich war zu dem Zeitpunkt in einer psychiatrischen Klinik und habe so
kurz nach allem gar nichts verstanden. Er schrieb, dass er mich nicht
brauche, und hat keine Frage gestellt, nur angekündigt, wie gut sich
sein Buch verkaufen lassen werde, dass er die Filmrechte schon verkauft
habe.

Nach Veröffentlichung des Buches wurde in Ihrem Auftrag eine Abmahnung
gegen Juan Moreno und den Rowohlt-Verlag erlassen. Viele in der Branche
sind der Meinung, dass Ihnen das nicht zusteht.

Der Grund, warum ich mich erst nach einem Monat dazu entschlossen habe,
war, dass ich derselben Meinung gewesen bin. Mir ist die offensichtliche
Ironie und auch das schwer Erträgliche daran, dass ausgerechnet ich mich
gegen Falschdarstellungen wehre, sehr bewusst.

Warum dann diese Entscheidung?

Einen Tag nachdem der Regisseur für die Verfilmung angekündigt worden
war, sagte mir Morenos zeitweiliger Co-Autor, ein anerkannter, vom
SPIEGEL abgestellter Redakteur, wie dieses Buch entstanden sei. Er hatte
für seine eigene Recherche auf ein Honorar verzichtet, weil es ihm nicht
um einen Bestseller ging, sondern um Erkenntnisse, und mich Monate
vorher bereits einmal in der Klinik angerufen. Er sagte und schrieb mir
damals, wenn Moreno dieses Buch allein mache, stünde ich da wie der
Teufel in Menschengestalt und alle ausser ihm selbst wie Idioten. So sei
es nicht gewesen, aber die Leute würden das glauben.

[Die Textnachricht liegt der Redaktion vor] Kurz darauf platzte die
Zusammenarbeit mit Moreno. Angeblich, weil der Rowohlt-Verlag mit der
Mitarbeit des SPIEGEL-Redakteurs nicht einverstanden war.

Ich habe diesen Redakteur nicht als missgünstigen Menschen
kennengelernt, und er steht nicht auf meiner Seite. Nachdem das Buch
erschienen war, sagte er trotzdem, dass Morenos Auftritte als
Wahrheitssucher eine Inszenierung seien: er gebe eine Recherche vor, die
es so nicht gegeben habe. Vor allem habe er nichts über mich als
Menschen gewusst, da keine der am Fall beteiligten Personen, kaum jemand
aus der Redaktion und niemand aus meinem früheren oder heutigen Umfeld
mit ihm reden wollte.

In uns vorliegenden Textnachrichten macht der SPIEGEL-Redakteur
deutlich, dass Moreno an zentralen Stellen Insiderwissen suggeriere, das
in Wirklichkeit eine Farce sei. Dass er falsche Dinge behauptet, Zitate
gefälscht, teilweise selektiv fragwürdige, negativste Quellen verwendet
und sich das, was er nicht gewusst habe, ausgedacht habe. Wir haben mit
einer weiteren am Fall beteiligten Person gesprochen, die diese
Einschätzungen bestätigt. Es war auch jener SPIEGEL-Redakteur, der Ihnen
mehrfach schriftlich zur Klage riet und konkrete Hinweise auf
Falschdarstellungen und Fälschungen gegenüber Ihrem Anwalt bestätigte.
Öffentlich wollte er sich nicht über einen Kollegen äussern. Warum wurde
die Klage bis heute nicht eingereicht?

Ich habe mich nicht in der Position gesehen, jemanden zu verklagen, ohne
mich selbst meiner viel grösseren Schuld zu stellen. Ich meine das mit
der Dankbarkeit gegenüber Juan Moreno, was sein Handeln im Dezember 2018
betrifft, auch wirklich ernst. Die Abmahnung diente vor allem dazu, ihn
zu bremsen, weiter Falschbehauptungen zu verbreiten.

Sie beziehen sich darauf, dass er verbreitete, Sie hätten nur
vorgegeben, in einer Klinik zu sein, obwohl Sie es angeblich nicht
waren. Der Co-Autor vom SPIEGEL bestätigte, dass Moreno diese Behauptung
nicht missverständlich, sondern wider besseres Wissen konstruiert habe.

Er ist damit in Talkshows aufgetreten. Später sagte er dann, er habe nur
eine Figur erschaffen. Um mehr ging es nicht, und er hat mit anderen
Dingen ja auch recht: meine Agenda sei ich selbst gewesen. Das stimmt,
wenn vielleicht auch etwas anders als gemeint.

In einem Fernsehinterview zwei Monate später antwortete Moreno auf die
Frage, warum Sie das alles gemacht hätten, man müsse Sie selbst fragen.
Netflix, Amazon und internationale Filmproduktionsfirmen haben das getan
und versucht, Sie für eine Dokumentation aus Ihrer Sicht zu gewinnen.
Dabei war von Honoraren im sechsstelligen Bereich die Rede. Warum gingen
Sie nicht darauf ein?

Der SPIEGEL hat den Fall sachlich aufgeklärt. Ich habe anderen konkreten
Schaden zugefügt und möchte hiermit auch öffentlich dafür geradestehen.
Dass wieder andere damit nun Geld verdienen und unterhaltsame Bücher und
Filme produzieren, ist klar. Ich sehe keinen Grund, da mitzumachen. Für
mich geht es hier um mein Leben.

Im Dezember 2018 ist Ihr Leben öffentlich zusammengebrochen. Auch das
berufliche Umfeld brach von einem Tag zum nächsten weg. Wie geht es
Ihnen heute?

Gesund für mich war nicht das ständige Abtauchen und Schreiben, sondern
der Redaktionsalltag. Die feste Struktur, die täglichen Gespräche mit
Kollegen ‒ das hat mir mehr geholfen als vieles andere. Es tut weh, dass
ich ausgerechnet dieses Umfeld, diese Menschen, so enttäuscht habe. Und
es ist nicht so gewesen, dass ich mir nach dem Skandal einfach meiner
Probleme bewusst geworden bin. Ich habe weiterhin irrationale Gedanken
für mich behalten, genau wie vorher. Die Gefahr besteht, dass ich das
auch heute tue und in Zukunft. Erst 14 Monate nachdem alles bekannt
geworden war, habe ich es hinbekommen, eine falsche Überzeugung als
solche zu erkennen und engsten Menschen davon zu erzählen. Erst seitdem
schaffe ich es, einen besseren Umgang damit zu finden.

Auch für Ihr privates Umfeld war das, was Sie getan haben, ein Schock.
Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe versucht, auf Menschen zuzugehen und so offen wie möglich
Fragen zu beantworten. Das ist mir häufig nicht gelungen. Ich habe
trotzdem viel Vertrauen erfahren, vielleicht auch, weil diese Menschen
nie den angeblichen «Starreporter», von dem erst nach dem Skandal die
Rede war, in mir gesehen haben und andere Dinge wichtiger waren. Ich bin
sicher, dass ‒ abgesehen von Printreportern ‒ auch die allermeisten
Journalisten meinen Namen bis dahin noch nie gehört hatten. Ich war
abseits der Arbeit nie Teil einer Medienszene, in jeder Hinsicht nicht.
Dass Menschen, die mir wichtig sind, nicht noch stärker an mir
gezweifelt haben, hat mir geholfen.

Ihr Name wird immer für einen der grössten Skandale im deutschsprachigen
Journalismus stehen. Wissen Sie, wie die Zukunft aussieht?

Ich habe mich zweieinhalb Jahre lang vor allem damit beschäftigt, die
Vergangenheit zu verstehen.
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