Google Groups no longer supports new Usenet posts or subscriptions. Historical content remains viewable.
Dismiss

Vernunft und Geschichte bei Marx

63 views
Skip to first unread message

Kai Fischer

unread,
May 20, 2002, 5:56:00 PM5/20/02
to
Wolfgang Pohrt, 1978

_Vernunft und Geschichte bei Marx_

Wenn ich grob einschaetzen sollte, wie sich das Verhaeltnis von
Vernunft und Geschichte bei Marx darstellt, wuerde ich folgendes
sagen: Das Kapitalverhaeltnis gilt Marx als notwendiges Uebel,
weil ohne seine Errungenschaften offenbar kein Verein freier
Menschen moeglich ist.

Wo Marx diese Errungenschaften erwaehnt, tut er dies an den
grossartigsten Stellen mit feiner Zurueckhaltung: "Es ist gesagt
worden und mag gesagt werden ... " (Ro/ 97) oder er benutzt die
englische Sprache. Dass kein Weg am Kapitalverhaeltnis
vorbeigefuehrt hat, ist zwar zum Verzweifeln idiotisch und in
letzter Konsequenz so unbegreiflich wie die Geschichte
insgesamt, aber es ist eben so.

Erst unter der Fuchtel des Wertgesetzes fingen die Menschen an,
allgemeinen Reichtum zu produzieren. Dass sie diesen allgemeinen
Reichtum nicht immer schon besessen haben, bleibt fuer immer
unverstaendlich, und nur die Religionen haben durch ihren
Schwindel diesen aergerlichen Bloedsinn gerechtfertigt und
begruendet.

Dass schliesslich kein vernuenftigeres Produktionsverhaeltnis als
ausgerechnet das terroristische, menschenverwuestende Kapital die
Menschen zur Produktion der materiellen Basis eines Vereins
freier Produzenten getrieben hat, ist wiederum eine bittere
Tatsache, die man zwar konstatieren muss, aber doch eigentlich
schlecht begreifen kann. Ich wuerde deshalb nicht von
weltgeschichtlich unvermeidbaren Dingen sprechen, denn diese
Redeweise setzt eine in der Geschichte waltende Vernunft voraus,
die fast an Vorsehung grenzt.

Das Kapital vorausgesetzt, muessen wir beispielsweise die
sogenannte urspruengliche Akkumulation als einen unvermeidbaren
Vorgang begreifen. Das Kapital selbst aber ist weltgeschichtlich
so wenig unvermeidbar wie es sich logisch aus seinen
Voraussetzungen nicht erklaeren laesst. Der beruehmte Satz, dass der
Schluessel zur Anatomie des Affen die Anatomie des Menschen sei,
ist auch so zu verstehen, dass die Anatomie des Affen eben eine
andere waere, wenn es keine oder andere Menschen gaebe, und dieser
Satz ist vor allem so zu verstehen, dass die Anatomie des
Menschen sich nicht logisch aus der Anatomie des Affen ableiten
laesst.

Man kann also zwar zeigen, dass ein frueherer Zustand die
Voraussetzung eines spaeteren gewesen ist, aber man kann deshalb
nicht sagen, dass sich aus dem frueheren Zustand zwangslaeufig der
spaetere hat entwickeln muessen, mehr noch: Der fruehere Zustand
ist keineswegs die unumstoessliche Basis der spaeteren Entwicklung,
sondern ein von der spaeteren Entwicklung gepraegtes Konstrukt,
d.h. der Ursprung und der Verlauf der Geschichte ist immer durch
ihr gegenwaertiges Resultat vermittelt.

Dass die Erkenntnis der Menschen stets eine spezifische
historische ist, ergibt nur dann einen Sinn, wenn die Geschichte
kein konsequent logischer Prozess ist, der sich nach immanenten,
stets gleichbleibenden Gesetzen entwickelt. Wenn man die
Geschichte unter die Bestimmungen der Vernunft setzt, darf man
nicht vergessen, dass weder die Geschichte noch ihr
Ausgangspunkt, also die Natur, jemals vernuenftig waren. Sie
koennen dies schon insofern nicht gewesen sein, als die Vernunft
etwas erst spaet in der Geschichte Entstandenes ist, und also von
den entlegenen Epochen, die begriffen werden sollen, sehr
verschieden.

Selbst dieser Satz setzt allerdings die historische Vernunft
schon voraus, und er kann nur gedacht und ausgesprochen werden,
wenn sich durch ihrerseits unverstaendliche geschichtliche
Zufaelle eine Ahnung von historischer Vernunft, und das heisst
immer auch: vernuenftiger Historie gebildet hat. Der vernunftlose
Zufall in der Geschichte wird gerade an ihren Bruechen offenbar.
Zwischen dem Kapital und den vorangegangenen
Gesellschaftsformationen gibt es zum Beispiel im strengen Sinn
keine Kontinuitaet. Warum das Kapitalverhaeltnis sich ausgerechnet
im Europa des siebzehnten Jahrhunderts bildete, kann man nicht
erklaeren. Die Voraussetzungen waeren vielleicht auch anderswo und
frueher gegeben gewesen, und alle Voraussetzungen zusammen machen
noch kein Kapital, insofern dieses etwas von seinen
nichtkapitalistischen Voraussetzungen wesentlich Verschiedenes
ist. Das Kapitalverhaeltnis ist gerade nicht reduzierbar auf eine
Konstellation nichtkapitalistischer Faktoren, und eine
vermutlich beliebig verlaengerbare Liste von Voraussetzungen
aller Art wuerde niemals den stringenten Begruendungszusammenhang
darstellen, der spaeter das Kapital, unter der Voraussetzung, dass
es schon existiert, bestimmt. Die Entstehung des
Kapitalverhaeltnisses, und das heisst: Die Entstehung von Vernunft
in der Geschichte gehorcht also keiner geschichtlichen Logik,
und dieses Schandmal aller historischen Vernunft, diesen Makel
ihrer erbaermlichen Herkunft, hat Marx stets im Auge behalten,
insofern er unerbittlich darauf bestand, das Kapital logisch aus
seinen Gesetzen, und nicht historisch aus seinen
Entstehungsbedingungen zu begreifen.

Im Gegensatz zu Engels hat er der Versuchung widerstanden, die
Kritik der politischen Oekonomie in eine Geschichtsschreibung von
fataler Plausibilitaet umzumuenzen, eine Geschichtssehreibung, die
mit dem allwissenden Erzaehler auch die allwissende Vorsehung
voraussetzt, eine Geschichtsschreibung, in der die sperrigen,
sproeden, furchtbaren, aller Vernunft spottenden Momente kassiert
sind, weil sie stets nur als in weiser Voraussicht geplante
Entwicklungsstufen der Menschheit erscheinen.

Wo das Kapitalverhaeltnis also herkommt, laesst sich nicht sagen,
aber wenn es einmal da ist, wird die Geschichte fuer einen
Augenblick logisch - freilich nur im Hinblick auf einen Zweck,
der das Kapital bereits transzendiert. Genauer: Die Existenz des
Kapitals eroeffnet die Moeglichkeit, die Geschichte unter die
Bestimmung der Vernunft zu setzen. Ob diese Moeglichkeit von den
Menschen wahrgenommen wird, ist dann allerdings keine logische,
sondern eine praktische Frage. Wenn auf das Kapitalverhaeltnis
ein Verein freier Menschen folgt, ist es ein Fortschritt
gewesen. Wenn auf das Kapitalverhaeltnis der Atomkrieg folgt,
wird man es, als Vorstufe dieses Atomkriegs, hingegen kaum als
Fortschritt bezeichnen koennen. Ohne den Begriff des Fortschritts
aber ist es unmoeglich, von Logik in der Geschichte zu sprechen.
Nur wenn man einen Ursprung und ein Ziel schon voraussetzt,
stellt sich Geschichte ueberhaupt als ein Prozess mit
unterscheidbaren, naemlich in Relation zum Ursprung und zum Ende
verschiedenen Entwicklungsstufen dar, und die Unterscheidung
verschiedener Entwicklungsstufen ist die erste Voraussetzung,
deren zeitliche Abfolge in einen logisch zwingenden Zusammenhang
zu bringen. Logik und Teleologie haengen hier offenbar eng
zusammen.

Logik ist immer zwar die Sache, aber die Sache, gesetzt unter
die Bestimmung des Subjekts. Die Natur ist zwar kein
Menschenwerk, die Naturgesetze aber sind dies immer. Die
logischen Zwaenge setzen also immer ein frei oder willkuerlich
Zwecke setzendes Subjekt voraus. Nur wenn ich der Natur mit
einem bestimmten und von der Natur verschiedenen Willen
entgegentrete, erfahre ich am Widerstand, den sie gegen meinen
Willen leistet, ihre eigene Gesetzmaessigkeit.* Der verrueckte
Eigenwille zum Beispiel, mitten im Winter unbedingt Erdbeeren
essen zu wollen, ist die Voraussetzung fuer die Erkenntnis, dass
diese nur im Fruehsommer zu haben sind. Ein Baer hingegen, der
Winterschlaf haelt und aehnlichen Gesetzen unterworfen ist wie die
Erdbeeren, wuerde von diesen Gesetzen nichts merken.

Die zwingende Logik des Wertgesetzes erlaubt daher Rueckschluesse
auf die Existenz eines Subjekts, und zwar eines Subjekts,
welches nicht einfach nur der Natur, sondern dem
gesellschaftlichen Leben der Menschen selber als Subjekt
gegenuebersteht. Damit sind die Menschen einerseits das die Logik
des Wertgesetzes konstituierende Subjekt, andererseits die eben
der von ihnen selbst konstituierten Logik unterworfene Sache. Es
ist dies ein Widerspruch, der genau in dem Moment auftaucht, wo
die Gesetzmaessigkeit des gesellschaftlichen Lebens der Menschen
als wesentlich erkannt wird, der folglich schon in Montesquieus
Buch "Vom Geist der Gesetze" zu finden ist und dort zur bloss
graduellen Differenz neutralisiert wird. Montesquieu versucht,
die Freiheit zu retten, indem er beschwichtigend sagt, die
Gesetze des gesellschaftlichen Lebens der Menschen seien nicht
so unbedingt, so perfekt wie die Naturgesetze. Anders verfaehrt
Marx. Er nimmt den Anspruch der politischen Oekonomie,
Wissenschaft zu sein, ernst, und vor genau dieser
Ernsthaftigkeit wird der Anspruch zunichte. Die Logik der
politischen Oekonomie bleibt stets partiell und partikular, ihrem
Anspruch, den ganzen gesellschaftlichen Lebensprozess der
Menschen zu erklaeren, kann sie nicht genuegen. An ihrem eigenen
Anspruch gemessen, erweist sich die Logik der politischen
Oekonomie als lueckenhaft und widerspruechlich, und das Subjekt,
worauf diese Logik Rueckschluesse erlaubt, entpuppt sich als
Aufziehpuppe, als bewusstloser Automat. Marx kann also zeigen,
dass die Logik der politischen Oekonomie unter den Praemissen,
unter denen sie denken muss, scheitert, und er tut dies mit
nervtoetender Akribie.

Die Praemissen aber, die fuer das Scheitern der politischen
Oekonomie verantwortlich sind, sind selbst keine logischen,
sondern ganz reale. Eben deshalb haelt Marx keine
wissenschaftliche, sondern eine wirkliche Revolution fuer noetig,
und diese vorweggenommene wirkliche Revolution ist eine Praemisse
des Marxschen Denkens. An dieser Stelle gesellt sich
gewissermassen zu Marx, dem nimmermueden, pedantischen Tueftler,
der sich ueber Seiten hinweg in chaotische Rechenoperationen
verstrickt und sie am Ende mit "lassen wir das" kommentiert - da
gesellt sich also zu Marx, dem penetranten Wissenschaftler sein
Zwillingsbruder, naemlich Marx als revolutionaeres
Schreibtischsubjekt. Das Kapital als Vorstufe zu einem Verein
freier Produzenten betrachtet, also diesen Verein freier
Produzenten vorausgesetzt, werden die Luecken und Widersprueche
der politischen Oekonomie begreiflich, und der Widerspruch von
Freiheit und Notwendigkeit im gesellschaftlichen Leben der
Menschen, eine der zentralen Aporien buergerlichen Denkens, loest
sich materialistisch gewendet dahin auf, dass die freien
Produzenten das Wenige, was zu tun sie noch gezwungen waeren,
sehr wohl in freier Uebereinkunft regeln koennten und keines ueber
ihnen schwebenden gesetzmaessigen Zusammenhanges mehr beduerften.
Die Voraussetzung dieser theoretischen Aufloesung der
Widersprueche der politischen Oekonomie ist aber so wenig eine
logische, wie zuvor die Unfaehigkeit zur Aufloesung dieser
Widersprueche nicht logisch, sondern real begruendet war. Man muss
das Kapital vielmehr abschaffen wollen, wenn man es begreifen
will, und dieser Wille, das Kapital abzuschaffen, hat
seinerseits aussertheoretische Gruende. Ueber die Kontinuitaet
zwischen politischer Oekonomie und Kritik der politischen
Oekonomie ist hier wieder der Bruch nicht zu vergessen, und als
Bruch ist hier zu verstehen der Entschluss des revolutionaeren
Schreibtischsubjekts, sich mit keinen Verhaeltnissen abfinden zu
wollen, welche den Menschen unterdruecken, ausbeuten, quaelen,
verdummen, entmuendigen. Mit diesem revolutionaeren Entschluss
hatte nun der Wissenschaftler Marx insofern Glueck, als dieser
Entschluss die aussertheoretische Praemisse zur Klaerung von
Ungereimtheiten in der politischen Oekonomie war. Ungereimtheiten
allerdings, an denen das offizielle Interesse schon laengst
voruebergegangen war, weshalb Marx auch nie Professor wurde.

Zwar ist das Kapital nur begreiflich, wenn man es abschaffen
will, aber wenn man es abschaffen will, ist es immerhin
tatsaechlich zu begreifen. Eben dies wuerde ich von der
Entwicklung seit meinetwegen 1870 nicht behaupten. Warum diese
Entwicklung, zwei Weltkriege und der Faschismus inklusive, als
Voraussetzung fuer einen Verein freier Menschen notwendig waere,
wuesste ich nicht zu sagen. Dies scheint mir der Grund fuer das
Auseinanderbrechen der Einheit von Wissenschaft und
Revolutionstheorie zu sein, die freilich, wie ich auszufuehren
versuchte, schon bei Marx keine, also noch niemals eine
bruchlose war. Aber immerhin arbeitete Marx unter Verhaeltnissen,
die sich in einer Theorie ausdrueckten, der das erloesende Wort
fast schon auf der Zunge lag, unter Verhaeltnissen, wo so etwas
wie ein Verein freier Produzenten am Horizont erahnbar wurde,
weil tatsaechlich um ihre Emanzipation kaempfende Menschen in
ihrem Kampf dessen Ziele teilweise schon antizipierten. In
solchen Situationen finden Vernunft und Geschichte ausnahmsweise
fuer einen Augenblick zueinander, ist die Revolution vernuenftig
und die Theorie revolutionaer - mit wesentlichen Einschraenkungen,
die ich nun kurz entwickeln will.

Den Verein freier Produzenten schon vorausgesetzt - so wurde
bisher argumentiert - wird das Kapitalverhaeltnis logisch. Diese
Voraussetzung und also die sich auf sie gruendende Logik tritt
aber solange in Widerspruch zur Realitaet, wie die Revolution
noch nicht stattgefunden hat, der Wille des erkennenden
Subjekts, welcher Voraussetzung seiner Erkenntnis, noch nicht
verwirklicht ist. Logik - so wurde gesagt - ist die Sache,
gesetzt unter die Bestimmungen des Subjekts. Solange die Sache
also nicht wirklich unter die Bestimmungen des Subjekts gesetzt
ist, bleibt die Logik widerspruechlich oder Wahn. Die
Widersprueche, die immer ein der Realitaet widersprechendes
Subjekt voraussetzen, ein Subjekt, welches die Realitaet unter
von ihr selbst verschiedene Bestimmungen setzt - diese
Widersprueche also droeselt Marx mit zermuerbender Akribie auf.
Marx kann zeigen, dass die Logik des Kapitals an inneren
Widerspruechen zerbrechen wird - wobei Voraussetzung dieser Logik
freilich wieder die vorausgesetzte Revolution ist. Wenn auf das
Kapital nicht der Verein freier Produzenten folgt, zerbricht
eigentlich nichts, sondern es bleibt alles beim alten. Die
grossartige Vernunft, unter welche Marx das Kapitalverhaeltnis
setzt, resultiert naemlich aus dem greifbar gewordenen Telos der
endgueltigen Befreiung der Menschheit, nur in Bezug auf diesen
ihren letzten Zweck kann man Vernunft und Widersinn in der
Geschichte unterscheiden. Nicht weniger als die profane Arbeit
hat die historische Arbeit zur Bedingung, dass der Produzent das
Produkt schon im Kopf hatte, bevor er Hand anlegte. Und ebenso
wie die profane Arbeit ist die historische Arbeit stets mit dem
Risiko behaftet, zu misslingen. Wenn aus dem im Kopf
antizipierten Produkt schliesslich kein wirkliches wird und dies
weiss man vorher nie mit letzter Sicherheit - dann war alle Muehe
vertan.

Folgt also auf das Kapital nicht der Verein freier Produzenten,
so ist es auch kein historischer Fortschritt gewesen, sondern es
landet auf dem Friedhof zwar bemerkenswerter, aber
untergegangener Kulturen, wird aus einem Gegenstand der Kritik
der politischen Oekonomie zu einem Gegenstand der Voelkerkunde.
Das diskriminierende Kriterium ist immer, ob eine Epoche zur
Revolution taugt. Wenn nicht, unterscheidet sie sich von allen
anderen nur graduell. Voraussetzung sogar der Unterscheidung von
Kapitalismus und Barbarei ist immer noch die Erwartung der
Revolution. Wenn man sie aufgibt, wird diese Distinktion
hinfaellig und weicht einem Kaleidoskop verschiedener
Gesellschaftsformationen und Epochen.

Indem Marx das Zerbrechen des Kapitalverhaeltnisses
prognostizieren kann - indem Marx also das Voruebergehen jener
revolutionaeren Situation prognostizieren kann, die seiner
Darstellung des Kapitals als widerspruechlichen Verhaeltnisses
konstitutiv ist, insofern kann Marx die mit diesem Zerbrechen
verbundenen Alternativen nennen: Entweder die Menschheit
konstituiert sich wirklich zum historischen Subjekt, oder sie
darf sich darauf gefasst machen, von der zweiten Natur, die noch
etwas ungemuetlicher ist als die erste, erschlagen oder doch
wenigstens zurueckgeschlagen zu werden, und zwar nicht nur auf
geschichtlich, sondern eventuell sogar naturgeschichtlich
zurueckliegende Entwicklungsstufen, auf die Stufe jener
"schwachen und gehetzten Tierarten", von denen Marx im Kapital
noch metaphorisch spricht, zu denen die Menschen nach der
nuklearen Katastrophe aber durchaus tatsaechlich mutieren
koennten. Marx kann zeigen, dass die fuer eine befreite Menschheit
notwendigen Produktivkraefte existieren, und dass diese
Produktivkraefte sich in masslose Destruktivkraefte verwandeln
werden, wenn die Revolution nicht gemacht wird. Marx kann also
Notwendigkeit und Moeglichkeit der Revolution beweisen - mehr
aber auch nicht, insofern sie ein Akt ist, der sich nicht in den
Bedingungen seiner Moeglichkeit und den Zwaengen seiner
Notwendigkeit erschoepft.

Logische Konsequenz aus der Geschichte ist die Revolution nur
unter der Voraussetzung, dass ein historisches Subjekt bereits
existiert. Die Existenz dieses Subjekts ist aber ihrerseits
nicht logisch zu begruenden. Weil die Voraussetzungen von
Geschichte immer idiotisch sind und der wirkliche Eintritt der
Menschheit in die Geschichte dies nicht mehr sein soll, klafft
zwischen beiden auch eine rational nicht ueberbrueckbare Luecke.
Die Revolution setzt immer die Menschheit als historisches
Subjekt schon voraus, obwohl sie dies erst in der Revolution
wirklich werden kann. Die Konstitution der Menschheit zum
historischen Subjekt bleibt also immer ein Stueck Usurpation,
Antizipation, Spekulation - ein Sprung ins kalte Wasser.

Es bleibt bei der Konstitution der Menschheit zum historischen
Subjekt unter Verhaeltnissen, die dies eigentlich nicht erlauben,
also unter allen Verhaeltnissen, unter denen Revolution
erforderlich ist, stets ein irrationales Restchen stehen, die
freie, und das heisst: Nicht am Schreibtisch prognostizierbare
Uebereinkunft der Betroffenen naemlich, deren spontaner Wille. Zu
Marxens Zeiten freilich konnte sich dieses irrationale Restchen,
dieser spontane Wille, auf denkbar solide Argumente stuetzen. Dass
sich mit Hilfe dieses Willens Fragen klaeren liessen, welche die
buergerliche Vernunft selber angeschnitten hatte, verlieh ihm die
Autoritaet und den langen Atem der Wissenschaft.

Diese ueberaus glueckliche Konstellation halte ich heute fuer
Geschichte. Unter der Voraussetzung, dass es eine proletarische
Revolution geben wuerde, konnte Marx das Kapital begreifen, weil
es als Vorstufe zum Verein freier Menschen tatsaechlich
vernuenftig war. Das heisst aber: Nur unter der Voraussetzung, dass
die Revolution auch wirklich gemacht wird, ist die Theorie, die
das Kapital als Vorstufe zum Verein freier Menschen begreift, im
strengen Sinn richtig gewesen. Diesem Risiko der Falsifikation
durch die fernere Geschichte ist jede ernst zu nehmende
Gesellschaftstheorie ausgesetzt; die Marxsche ist an diesem
Risiko gescheitert, und genau dieses Scheitern macht ihre Groesse
aus. Als Wissenschaftler ist Marx gescheitert, als Revolutionaer
hat er ebenso recht behalten wie Thomas Muenzer oder Fidel
Castro, die beide nichts von der politischen Oekonomie
verstanden. Gescheitert ist aber mit der Marxschen Theorie die
vernuenftige Begruendung der Revolution, und an dieser
vernuenftigen Begruendung muss man trotz ihres Scheiterns
festhalten, wenn die Menschheit sich in der Revolution
tatsaechlich zum Subjekt konstituieren soll, welches mit Willen
und Bewusstsein seine Geschichte macht. Das Scheitern der Theorie
ist der Grund, weshalb man stets wieder auf die Marxsche
zurueckgreifen muss. Nach ihr gab es keine mehr.

Wenn man dies tut, muss man aber sich ueber die Merkwuerdigkeit
dieses Verfahrens Rechenschaft ablegen: Die Vernunft ist so
obsolet geworden, dass man sie nur in Archiven und Bibliotheken
findet. Sie ist nicht die herrschende. Und wenn sich auf einem
Verlagsprospekt der "Marxistischen Blaetter" der Slogan findet:
"Der Marxismus - eine geistige Grossmacht unserer Zeit", so ist
dies nicht nur geschmacklos, sondern Wahn.

* Als Indiz dafuer ist der Umstand zu werten, dass der politische
Gesetzesbegriff dem naturwissenschaftlichen historisch
voranging.

0 new messages