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Laengere Wuerdigung des NewsTalk-Radios Berlin

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Jochen Meissner

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Apr 2, 1996, 3:00:00 AM4/2/96
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Der folgende Text ist Ergebnis eines längeren Höreindrucks von
Deutschlands erstem Talkradio-Sender. Er erscheint in leicht
abegewandelter Form in der aktuellen Ausgabe des Mediendienstes
Funk-Korrespondenz. Also bitte nicht ohne Genehmigung nachdrucken.

Drüber reden
Deutschland erstes Talkradio NewsTalk 93.6 Berlin


In Berlin kann man über Antenne oder Kabel mehr als 30 Radiosender
empfangen. Seit 19.2. ist in diesem überfüllten Äther ein neues Format
zu hören: NewsTalk 93.6, eine 40 %-ige Tochter von RTL Radio,
Deutschlands erstes Talkradio. Von 5.00 bis 23.00 Uhr heißt es „Hier
spricht Berlin“, den Rest der Nacht und am Wochenende ab 18.00 Uhr kann
Berlin nur zuhören, nämlich Wiederholungen vom Tage, inklusive
veralteter Nachrichten, Verkehrshinweise und Wettervorhersagen.

Die im Vorfeld laut gewordenen Befürchtungen, daß jetzt auch in
Deutschland das Hate-Radio nach US-amerikanischen Vorbild einziehen
könnte, haben sich nicht bestätigt. Im Gegenteil: die Macher waren von
dieser Aussicht ebenso beeindruckt, daß sie zur Verhinderung von
Naziparolen auf dem Sender eine technische Sperre eingebaut haben. Die
Anrufe werden nicht nur von einer Producerin vorsortiert, sondern
NewsTalk sendet auch noch mit 7 sekündiger Verzögerung, was bei einigen
Anrufern zu Irritationen führt, wenn sie sich nicht live im Radio hören.


Diese technokratische Lösung ist in zweierlei Hinsicht merkwürdig: zum
einen wird Hate-Radio in erster Linie von einschlägigen Moderatoren (in
etwas veraltetem Jargon „Talkmaster“ genannt) und nicht von den Hörer
gemacht und andererseits ist die Abkoppelung vom Live in einer –
zumindest der Theorie nach – freien Diskussion mindestens ebenso
problematisch wie der vielbeklagte „Terror der Echtzeit“ bei CNN zu
Golfkriegszeiten. Die Abwendung von der Echtzeit des Gesprächs liefert
ein erstes Indiz dafür, daß es sich bei der Welt von NewsTalk um eine
spezifische handelt, die mit der üblichen „Realität“ nur
Berührungspunkte hat. Mit medialer Vermittlung hat das weniger zu tun
als vielmehr mit Inszenierung und Simulation.

Eine Talkradio-Schiene halten sich viele Berliner Sender – vom
DeutschlandRadio bis zu Fritz. Allerdings beginnen die erst gegen 23
Uhr, wenn bei NewsTalk das Vormittagsprogramm wiederholt wird. Der
beliebteste und wohl auch beste Talker in Berlin/Brandenburg ist der
promovierte Kulturwissenschaftler und Sprechfunker Jürgen Kuttner, der
im Jugendradio Fritz Gespräche über so weltbewegende Fragestellungen wie
„Haben Elche Kniegelenke?“ zu einem ebenso vergnüglichen wie logisch
plausiblen Diskussionsstrang verdichten kann. Talkradio kann etwas
Wunderbares sein.

Exaltation und Redundanz

Neben guten Moderatoren braucht Talkradio vor allem aber Hörer und ein
großer Teil der Anstrengungen der NewsTalk-Crew ist darauf gerichtet
diese zu Anrufern (Telefon 93 6 999) zu machen „Ich kann mir nicht
vorstellen, daß es niemanden in Berlin und Brandenburg gibt, der dazu
keine Meinung hat“ ist eine der häufigsten Floskeln der Moderatoren, die
ebenso häufig ins ätherisch Leere geht. Aber wenn keiner Lust hat sich
zu den Kurden-Krawallen zu äußern redet man eben weiter über das Wetter
– ein Thema das zeitweise 20 % der Programms ausmacht, denn dazu hat nun
wirklich jeder etwas zu sagen. Bunte Boulevardthemen erfreuen sich
größter Zuschauerresonanz; und wenn schon mal nach Haßobjekten gefragt
wird, dann handelt es sich um Mahlzeiten (!) oder Schauspieler.

Um ihre doppelte Funktion zu erfüllen: die Hörer zum Telefon zu locken
und sie zu möglichst pointierten Meinungsäußerungen zu veranlassen,
sehen sich die Talkmaster häufig gezwungen auch trivialste Themen zu
Kontroversen hochzustilisieren, und, falls letzteres nicht gelingt, die
Äußerungen der Hörer mehrfach zu wiederholen, zu vergröbern und
zuzuspitzen. Selbst so Entscheidungssituationen wie „Rauchen oder
Nichtrauchen“ müssen ins Sektiererhafte gesteigert werden. Die
Konsequenzen sind auf seiten des Moderators zunehmende Exaltation,
inhaltlich zunehmende Redundanz und beim Hörer zunehmende Langeweile.
Die inhaltlich kaum zu motivierende Erregung des Talkmasters wirkt
bestenfalls unfreiwillig komisch, dann nämlich wenn er Kontroversen
vorformulieren muß, wie es bei NewsTalk Pflicht ist. Öfter aber entlarvt
er sich als wenig unterhaltsame Sprechmaschine aus der Retorte eines
Rhetorikseminars, deren einzige Funktion es ist, das Gespräch am Laufen
zu halten. So stehen denn die Moderatorennamen mit denen einige
Sendungen angejingelt werden, beispielsweise „Mattukat & Thielen“ für
den ‘Berliner Morgen’ (5 bis 9 Uhr), nicht etwa für
Talkmaster-Persönlichkeiten sondern als Chiffren für einen
Moderationsstil und sollten deshalb um Verwechslungen mit den realen
Personen zu vermeiden in Anführungszeichen gesetzt werden. Logische
Stringenz darf man von derartigen Figuren nicht erwarten; Sparaufrufe
zur Sanierung der öffentlichen Haushalte werden ebenso gefeiert, wie
über die Bußgelder fürs Falschparken gejammert. Bei „dem Radio, in dem
Meinungen Programm sind“ werden diese ausprobiert wie Oberbekleidung.
NewsTalk entdeckt die rhetorische Pubertät als Stilmittel.

Meinungsumfrage in Permanenz

„Wir haben eine Meinung. Wir stehen dazu. Ihr habt eine Meinung? Steht
dazu!“ lautet einer der penetranten Eigenwerbungsjingles. Und so
funktioniert NewsTalk auch: als permanente Meinungsumfrage; Argumente
die eine Meinung begründen oder eine These untermauern sind nicht
unbedingt notwendig. Wenn ein(e) Anrufer(in) es versteht seine Position
vernünftig darzustellen, wird er/sie sofort zu Tode gelobt: „Margret aus
Lichterfelde, man merkt schon, daß du da richtig drin bist in dem Thema“
bevor ohne weitere inhaltliche Würdigung der nächste Hörer drankommt.
Darüber, daß die Margrets überhaupt anrufen, scheinen sich die
Moderatoren dezent zu wundern, widerspricht es doch einer gewissen
Verachtung des Hörers, die sich an ihrem Produkt ablesen läßt, und dem
Teufelskreis der Unterforderung in den sich Newstalk verstrickt hat: Wir
müssen unsere Hörer auf möglichst breitem (vulgo niedrigem) Niveau
ansprechen, also fühlen sich auch nur die motiviert anzurufen, die auf
dieses Niveau reagieren. Dem Rest mag das zwar zu blöd sein, aber die
rufen ja auch nicht an.

Daß das auch anders geht beweist Woche für Woche ein anderer privater
Veranstalter, die dctp von Alexander Kluge. Der arbeitet zwar in einem
etwas anderen Gerne, von seiner Meisterschaft im Stellen einfacher aber
nie trivialer Fragen, könnten die Kollegen von NewsTalk noch einiges
lernen. Vor dem Hintergrund von Kluges ‘News & Stories’ wirkt deshalb
die zur Schau getragene unangenehme Attitüde von Naivität,
Unvoreingenommenheit und Diskussionbereitschaft der NewsTalker besonders
ärgerlich, weil sie sich bisweilen als reale Ahnungslosigkeit,
Gleichgüligkeit und Dummheit entpuppt. Und das beschädigt die Differenz
von Rolle und Person, von „Mattukat“ und Mattukat. Kluges Intelligenz
läßt sich hinter seinen einfachen Fragen nicht verbergen, im Gegenteil.
Und Kuttner bleibt immer Kuttner, der Identische, was natürlich eigene
Probleme impliziert.

Newstalk geht es nicht um Erkenntnis als Ergebnis von Gesprächen.
NewsTalk geht es nur um den Talk selbst, allenfalls noch um dessen
polarisierenden Effekt. Mit Journalismus hat das wenig zu tun, was
besonders bei den Politiker- oder Experteninterviews auffällt. Nicht
weil die ab und zu auch Argumente statt Meinungen in sinnvolle Sätze zu
kleiden wissen, sondern weil ihre Statements auf die Existenz einer
Realität außerhalb des Getalkes verweisen. Das ist die unfreiwillige
(!?) Leistung von NewsTalk 93.6 und ein weiteres Indiz für die Sphäre
der Metarealität in der sich Newstalk bewegt.

Der „Größte Anzunehmende Depp“

Zielgruppe der Themenauswahl und Moderationstechnik von NewsTalk ist –
beabsichtigt oder nicht – der ‘Größte Anzunehmende Depp“. Wer sich so an
Volkes Stimme wendet, braucht sich nicht zu wundern, wenn dann die
Alfred Teztlaffs der Hauptstadt anrufen. Aber leider reicht es meistens
doch nur zu den Motzkis. Denn so abenteuerlich komische
Verschwörungstheorien voller bizarrer Schönheit, wie sie Wolfgang Menge
produziert hat, kommen so gut wie gar nicht vor. Statt dessen bleibt
saures Aufstoßen und die schlechte Luft über den Stammtischen, jene
Mischung aus Ressentiment, Bescheidwisserei und schlechter Laune. Ob
sich ein Ostberliner vom Westen annektiert fühlt: „schlimmer als unter
Adolf“ oder wegen der steigenden Kriminalität aus dem Westen nach
durchgreifenden Maßnahmen gerufen wird. Das ästhetische Ereignis
NewsTalk wirkt etwas beängstigend, wenn die Simulation und Realität sich
treffen.

Das macht, und so schließt sich der Kreis, den NewsTalk-Machern eine
unterschwellige Publikumsverachtung relativ leicht. Anläßlich einer
Diskussion über den von einer Mine verletzten Soldaten in Kroatien sahen
sich „Karsten Sander“ und „Jan Luther“ fassungslos einer derartigen
Welle aggressiver Dummheit gegenüber („Deutschland ist ja einer der
größten Minenproduzenten der Welt; der ist quasi auf seine eigene Mine
getreten.“, „Wir haben damals die Minen auch selber weggeräumt, uns hat
auch keiner geholfen.“, „Die Jugoslawen sind doch alle hier und werden
kriminell, die sollte man mal da runter schicken“), daß man ihnen jede
Publikumsbeschimpfung verziehen hätte. „Man muß gute Nerven haben und
sich immer wieder bewußt machen, daß der Besuch auf einer Krankenstation
keine gesicherten Erkenntnisse über den Gesundheitszustand der
Gesamtbevölkerung zuläßt“, hat Henryk M. Broder kürzlich im Spiegel
geschrieben.

Die Spannweite der Fallbeispiele reicht allerdings von „Thomas
Reckermann“s Interview im ‘Berliner Salon’ mit einem etwas paranoiden
Sozialwissenschaftler und Alfred-Tetzlaff-Nachfolger, der nachweist, daß
die Chaostage in Hannover eigentlich aus Steuergeldern einer rot-grünen
Mafia finanziert worden sind, und der sich deswegen keine einzige
kritische Frage gefallen lassen muß - bis zu einer erstaunlich
kompetenten Diskussion über die Einführung des Faches LER in Brandenburg
bei der jeder Polemikversuch „Reckermann“ ins Leere lief.

Geschuldet sind die provokativ gemeinten, häufig ressentimentgeladenen
und nicht gerade differenzierten Statements der Talkmaster denn auch dem
rettungslosen Zwang zur permanenten Rederei. NewsTalk ist ein reines
Wortprogramm und so muß mangels Anrufern und Musik die Zeit gefüllt
werden bis endlich wieder ein Jingle oder Werbung gespielt werden darf.
Auf einem der undankbarsten Sendeplätze am frühen Nachmittag sitzt die
zwischenzeitlich erkrankte „Anja Krystyn“, eine in der Tschechoslowakei
geborene Wienerin, die sich schon in ihrem Temperament von der
hektisch-exaltierten Männercrew unterscheidet. Sie ist die einzige
Moderatorin bei der man fast Mitleid bekommt, wenn sie über das
Nullthema „Gehen Sie in Ausstellungen oder lehnen Sie das ab, weil es
langweilig ist?“ so lange schwadronieren muß bis endlich jemand anruft.
Die andere Frau im Team die Ex-Abendschau-Moderatorin Marianne Beland
ist seit Sendebeginn erkrankt und war bisher noch nicht on air.

Angenehm bei „Anja Krystyn“, wie übrigens auch bei „Sven Blümel“ (Ex
1A-Fernsehen) im Stadtgespräch von 19-23 Uhr, ist, daß sie nicht
vorgeben bei ihren Gesprächen ginge es um etwas anderes als um
Geplauder. „Sven Blümel“ macht relativ entspannt den Elmar Hörig (SWF 3)
des Senders und er vermeidet damit das Mißverhältnis zwischen seinen
Themen („Von Bar bis Blind-Date“) und ihrer unangemessenen Aufladung mit
Wichtigkeit und Bedeutung.

Ein anderes Mißverhältnis herrscht zwischen angestrengter Moderation und
heiter-lockeren Jingles. Letzteres erinnert mehr als alles andere an die
britische Privatfernsehsatire ‘KY-TV’ und trägt genauso zur
unfreiwilligen Komik bei, wie der Werbespot einer Hilfsorganisation, in
der sich ausgerechnet die deutsche Stimme von Al Bundy beschwert:
„Spenden? Ohne mich! Da weiß man ja gar nicht was mit seinem Geld
passiert ...“ Völlige Ironiefreiheit erweist sich als weitere
Sollbruchstelle im Konzept des Senders. Wo es um Meinung geht, hört der
Spaß nämlich auf. Die mühsam mit hörbarer Anstrengung aufgebaute
Spannung zu so merkwürdigen Fragen, wie der richtigen Position des
Schalters für die Warnblinkanlage im Auto (Samstag und Sonntag früh:
„Auto Talk“), würde sonst ins Nichts verpuffen. Ärgerlich wird die
Humorlosigkeit, wenn „Stephan Mattukat“ vom ‘Berliner Morgen’ offenbar
zuständig für ‘Volksnähe’ die etwas unwirsche Reaktion eines
Prominenten, auf einen Überraschungsanruf kurz nach 8 Uhr völlig
unironisch und mit einem Beigeschmack von Wahrheit mit „Er war etwas
angepisst.“ kommentiert.

Die Metarealität von NewsTalk

NewsTalk kreiert eine Parallelwelt, die nur deswegen Gegenstand von
Medienkritik ist, weil sie im Radio stattfindet. Dieses Universum, das
in einem um 7 Sekunden verschobenen Raum-Zeit-Kontinuum existiert,
gehört einer künstlichen Welt an, für die eigentlich die ästhetische
Kritik zuständig ist. So wird das Fehlen von seriösem Journalismus, die
Konstitution von Sprechpuppen als Agenten einer sinnentleerten
Dauerkommunikation zeichenhaft.

Medial vermittelte Gespräche, verzögert, aneinander vorbei und
selbstreferentiell; Crosstalk; in Meinungen sich auflösende Identitäten,
die sich in einer als sinnlos und irrational verstandenen Welt als
irrelevant erweisen. Das erinnert eher an ein Konzept des absurden
Theaters. Verschwörungstheorien oder die Generierung von Sündenböcken
reduzieren die Komplexität ebenso, wie das heitere Geplauder übers
Wetter und den Frühling, in dem die Sprache eine ähnliche Tiefe hat, wie
die Sprechblase, die das Logo des Senders ziert. Insgesamt scheint es
sich um eine Mischung von aufklärerischem Tendenzstück und absurdem
Theater – Brecht und Beckett. Die Talkmaster sprechen öfters auf ihre
eigenen Jingles oder verwechseln die Pronomina, aber diese Fehler bilden
keine „Lücke im Ablauf“ auf die Heiner Müller noch seine Furcht und/oder
Hoffnung gesetzt hatte, sondern fungieren lediglich als Sprachkritik.

Leider können sich die Akteure nicht entscheiden diesen Kurs offensiv
weiterzuverfolgen. Es sind nur Momente in denen dieses Konzept zu sich
selbst kommt. „Thomas (‘Das wird spannend’) Reckermann“ scheint der
avancierteste Agent der Metarealität zu sein, zettelte er doch eine
bizarre Diskussion über die Wiederanbringung des DDR-Emblems auf dem
Palast der Republik an: „Also ich meine: Absolut nein! Da red’ ich doch
gar nicht mehr drüber“ und tut es dann doch. Nachdem er von einem
Anrufer auf die völlig Sinnlosigkeit und Überflüssigkeit dieser
Diskussion hingewiesen worden war, kam die etwas rüde und wahrscheinlich
eingeübte Retourkutsche auf derartig fundamentale Kritik, denn die
Grundbedingung von NewsTalk ist die Diskursivierung von allem und jedem;
wer macht’s denn, wenn wir’s nicht machen: „Und: Darüber muß doch
geredet werden.“

Jochen Meißner
_________________________________________________
meis...@zedat.fu-berlin.de


Jochen Meissner

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Apr 2, 1996, 3:00:00 AM4/2/96
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Exaltation und Redundanz

zuzuspitzen. Selbst Entscheidungssituationen wie „Rauchen oder

Meinungsumfrage in Permanenz

Der „Größte Anzunehmende Depp“

bei der jeder Polemikversuch „Reckermann“s ins Leere lief.

Geschuldet sind die provokativ gemeinten, häufig ressentimentgeladenen
und nicht gerade differenzierten Statements der Talkmaster denn auch dem
rettungslosen Zwang zur permanenten Rederei. NewsTalk ist ein reines
Wortprogramm und so muß mangels Anrufern und Musik die Zeit gefüllt
werden bis endlich wieder ein Jingle oder Werbung gespielt werden darf.
Auf einem der undankbarsten Sendeplätze am frühen Nachmittag sitzt die
zwischenzeitlich erkrankte „Anja Krystyn“, eine in der Tschechoslowakei
geborene Wienerin, die sich schon in ihrem Temperament von der
hektisch-exaltierten Männercrew unterscheidet. Sie ist die einzige
Moderatorin bei der man fast Mitleid bekommt, wenn sie über das
Nullthema „Gehen Sie in Ausstellungen oder lehnen Sie das ab, weil es
langweilig ist?“ so lange schwadronieren muß bis endlich jemand anruft.
Die andere Frau im Team die Ex-Abendschau-Moderatorin Marianne Beland
ist seit Sendebeginn erkrankt und war bisher noch nicht on air.

Angenehm bei „Anja Krystyn“, wie übrigens auch bei „Sven Blümel“ (Ex
1A-Fernsehen) im Stadtgespräch von 19-23 Uhr, ist, daß sie nicht
vorgeben bei ihren Gesprächen ginge es um etwas anderes als um
Geplauder. „Sven Blümel“ macht relativ entspannt den Elmar Hörig (SWF 3)
des Senders und er vermeidet damit das Mißverhältnis zwischen seinen
Themen („Von Bar bis Blind-Date“) und ihrer unangemessenen Aufladung mit
Wichtigkeit und Bedeutung.

Ein anderes Mißverhältnis herrscht zwischen angestrengter Moderation und
heiter-lockeren Jingles. Letzteres erinnert mehr als alles andere an die

britische Privatfernsehsatire ‘KY-TV’ (kürzlich auf 3sat) und trägt


genauso zur unfreiwilligen Komik bei, wie der Werbespot einer
Hilfsorganisation, in der sich ausgerechnet die deutsche Stimme von Al
Bundy beschwert: „Spenden? Ohne mich! Da weiß man ja gar nicht was mit
seinem Geld passiert ...“
Völlige Ironiefreiheit erweist sich als weitere Sollbruchstelle im
Konzept des Senders. Wo es um Meinung geht, hört der Spaß nämlich auf.
Die mühsam mit hörbarer Anstrengung aufgebaute Spannung zu so
merkwürdigen Fragen, wie der richtigen Position des Schalters für die
Warnblinkanlage im Auto (Samstag und Sonntag früh: „Auto Talk“), würde
sonst ins Nichts verpuffen. Ärgerlich wird die Humorlosigkeit, wenn
„Stephan Mattukat“ vom ‘Berliner Morgen’ offenbar zuständig für
‘Volksnähe’ die etwas unwirsche Reaktion eines Prominenten, auf einen
Überraschungsanruf kurz nach 8 Uhr völlig unironisch und mit einem

Beigeschmack von Wahrheit kommentierte: „Er war etwas angepisst."

Die Metarealität von NewsTalk

NewsTalk kreiert eine Parallelwelt, die nur deswegen Gegenstand von
Medienkritik ist, weil sie im Radio stattfindet. Dieses Universum, das
in einem um 7 Sekunden verschobenen Raum-Zeit-Kontinuum existiert,
gehört einer künstlichen Welt an, für die eigentlich die ästhetische
Kritik zuständig ist. So wird das Fehlen von seriösem Journalismus, die
Konstitution von Sprechpuppen als Agenten einer sinnentleerten
Dauerkommunikation zeichenhaft.
Medial vermittelte Gespräche, verzögert, aneinander vorbei und
selbstreferentiell; Crosstalk; in Meinungen sich auflösende Identitäten,
die sich in einer als sinnlos und irrational verstandenen Welt als
irrelevant erweisen. Das erinnert eher an ein Konzept des absurden
Theaters. Verschwörungstheorien oder die Generierung von Sündenböcken
reduzieren die Komplexität ebenso, wie das heitere Geplauder übers
Wetter und den Frühling, in dem die Sprache eine ähnliche Tiefe hat, wie
die Sprechblase, die das Logo des Senders ziert. Insgesamt scheint es
sich um eine Mischung von aufklärerischem Tendenzstück und absurdem

Theater zu handeln – Brecht und Beckett. Die Talkmaster sprechen öfters


auf ihre eigenen Jingles oder verwechseln die Pronomina, aber diese
Fehler bilden keine „Lücke im Ablauf“ auf die Heiner Müller noch seine
Furcht und/oder Hoffnung gesetzt hatte, sondern fungieren lediglich als

eigengenerierte Sprachkritik.

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