Szasz-Zitat: Nahrungsmißbrauch und Schlankheitskur [442] Psychiatrie
Oder genauer:
Über die „Realität im Zeitalter des Wahnsinns [. . .], in dem die
herrschende Religion die Medizinische Wissenschaft ist.“
Und:
Über Klitoridektomie bei Mädchen und die Beschneidung oder Amputation
des Penis bei Jungen als ehemals „anerkannte Methoden zur Behandlung von
Masturbation“.
Und:
Mehr über „die medizinischen Prostituierten des Systems“.
Kurzzitate:
„ Ich habe die Auffassung vertreten, die heutige Hysterie gegenüber
dem Drogenkonsum und die daraus resultierende Verfolgung Drogensüchtiger
sei ein modernes Beispiel jenes „Massenwahns (13)“, von dem Charles
Mackay gesprochen hat. Falls diese Ansicht zutreffend ist, sollte es
möglich sein, außer den bereits genannten weitere Parallelen zwischen
der Verfolgung von Drogenkonsumenten einerseits und von Hexen und Juden
andererseits festzustellen; insbesondere müßte sich die Ausweitung des
Sündenbockstatus von einer ursprünglich überschaubaren Gruppe – wie
wehrlose Frauen, arme Juden oder schwarze Heroinsüchtige – auf andere
Gruppen, beispielsweise auf christliche Schismatiker, Nichtarier aller
Art oder langhaarige Jugendliche nachweisen lassen.
[. . .]
Im amerikanischen Kampf gegen Drogen haben sich bisher zwei klar
unterscheidbare Phasen abgezeichnet, in deren Verlauf sich die Identität
des verteufelten Rauschmittels zunächst von einer Droge auf eine andere
und dann auf mehrere andere verschob. Die erste dieser Phasen ist
vielleicht ein Sonderfall, aber dennoch relevant. ich spreche vom
Umschlagen des Kampfes gegen den Alkohol nach der Abschaffung der
Prohibition in den Kampf zunächst gegen Marihuana und dann gegen andere
„gefährliche Drogen“. Die zweite Identitätsausweitung des Sündenbocks
begann um 1960: Seither sind wir Zeugen eines flächenbrandartigen
Übergreifens der Kampfmaßnahmen von Marihuana und LSD auf Heroin,
Kokain, Barbiturate und Amphetamine geworden.
Die Eskalation dieses „Kampfes gegen schädliche Substanzen“ hat
schließlich einen Punkt erreicht, an dem die Nahrung selbst zum „Feind“
wurde!“
„ Die medizinische Sicht der Gewohnheiten neigt logischerweise dazu,
den Kern des „Problems“ – ob es sich um geschlechtliche
Selbstbefriedigung oder Nahrungsmißbrauch handelt – im „betroffenen“
Organ zu suchen und nicht in der betreffenden Person. Es ist etwa so,
als würde man jemand, der mit ausländischem Akzent Englisch spricht,
weil er als Kind im Ausland gelebt hat, einer chirurgischen Behandlung
seines Mundes, seiner Zunge und Zähne unterziehen, um seine fehlerhaften
Sprechgewohnheiten zu korrigieren. Die offenkundige Absurdität dieser
Art von Chirurgie und der noch offenkundigere Sadismus der Chirurgen,
die sie ausführen, sowie die Leichtgläubigkeit der Patienten, die sich
ihr unterwerfen, haben die immer wieder auflebende Begeisterung für
ständig neue chirurgische „Heilmethoden“ dieser Art nicht zu dämpfen
vermocht. So waren im 19. Jahrhundert die Klitoridektomie für Mädchen
und die Beschneidung für Jungen anerkannte Methoden zur Behandlung von
Masturbation. Die Amputation des Penis wurde noch 1891 von einem der
Präsidenten des (britischen) Königlichen College für Chirurgie empfohlen
(16). Im 20. Jahrhundert fahren die Chirurgen fort, ein völlig gesundes
Organ, das Gehirn, wegen bestimmter „schlechter Gewohnheiten“ des
Denkens, Sprechens und Betragens, „Schizophrenie“ genannt, zu
verstümmeln. Der Entdecker dieser „Behandlung“, Egas Moniz, erhielt den
Nobelpreis dafür. Die Behandlung selbst, als Lobotomie oder Leukotomie
bekannt, wurde auch bei Süchtigen angewandt.“
„Von Eheleuten sagt man oft, sie „verdienten“ einander; vielleicht gilt
das auch für Patienten und deren Ärzte. Da es viel mehr Patienten als
Ärzte gibt, müssen die Patienten außerdem, falls sie Opfer eines
Betruges werden, selbst eine wichtige Rolle bei diesem Betrug spielen –
ein Betrug, der, wie wir nur zu gut wissen, oft die Folge ihres Versuchs
ist, der Last der Verantwortung selbstkritischen Denkens und
selbstdisziplinierten Lebens auszuweichen.“
Zitat aus:
Szasz, Thomas S.:
/Das Ritual der Drogen – Das 'Drogenproblem' in neuer Sicht: Sündenbock
unserer Gesellschaft/
Seite 132, 135 ff.:
8. Nahrungsmißbrauch
und Freßaholismus:
Von der Seelenkur zur Schlankheitskur
[. . .]
Im 17. Jahrhundert entstand ein neuer Zweig der Medizin, der es sich zur
Aufgabe machte, diejenigen Personen zu studieren und zu kontrollieren,
die von den medizinischen Normen gesellschaftlichen Betragens abwichen:
Das war die Geburt der Psychiatrie. Im 20. Jahrhundert entstand eine
neue medizinische Fachrichtung, die sich der Erforschung und Kontrolle
all jener widmete, welche von den medizinischen Normen des Drogenkonsums
abwichen; das war die Geburtsstunde der Drogenmißbrauchs-Ideologie. Und
in den sechziger Jahren bildete sich eine weitere medizinische
Fachrichtung heraus, die sich mit dem Studium und der Kontrolle
derjenigen befaßte, die von den medizinischen Normen bezüglich des
Körpergewichts abwichen; so entstand die körpergewichtsorientierte
(bariatrische) Medizin. Die Professionalisierung dieser medizinischen
Einmischung in persönliche Lebensgewohnheiten ist aus mehreren Gründen
bedeutsam: Jede der medizinischen Pseudodisziplinen maßt sich an,
persönliche Präferenzen zu einem wissenschaftlichen und medizinischen
Problem zu erheben; tarnt medizinische Zwangsmaßnahmen als Behandlung;
und, was langfristig vielleicht am schwersten wiegt, jede weckt in der
Ärzteschaft ein enormes finanzielles Interesse daran, einfache
moralische Werturteile in betrügerischer Absicht zu komplizierten
medizinischen Diagnosen und brutalen Zwang zu ausgeklügelten
therapeutischen Maßnahmen hochzustilisieren.
Als die Psychiatrie noch in den Kinderschuhen steckte, wurden ihre
Praktiker wenigstens noch zutreffend als „Irrenärzte“ und „Vorsteher von
Irrenhäusern“ bezeichnet; sobald diese Quacksalber jedoch Macht und
Einfluß gewannen, ersetzte man diese schlichten und informativen
Bezeichnungen durch die hochtrabenden Titel „Psychiater“,
„Psychoanalytiker“ und „Verhaltensforscher“. Ähnlich wurden auch Ärzte,
die den Leuten rieten, weniger zu essen oder ihnen auf andere Weise bei
der Reduzierung ihres Gewichts halfen (oder zu helfen vorgaben), als
„Freßärzte“ oder „Pillenfritzen“ bezeichnet; gegenwärtig sind Bemühungen
im Gang, sie zu „Bariatrikern“ aufzuwerten. Im Jahr 1970 zählte die
Amerikanische Gesellschaft für Bariatrie (von dem griechischen Wort
/baros/ = Gewicht) bescheidene 30 Mitglieder; 1970 war sie auf die
eindrucksvolle Zahl von 450 angewachsen (2).
Die dringlichste Aufgabe der Bariatriker ist natürlich die
Fabrikation von „Patienten“, die an einer „Krankheit“ namens „Fettsucht“
leiden. Dr. Wilmer A. Asher, der Vorsitzende der Amerikanischen
Gesellschaft für Bariatrie, versteht sichtlich sein Geschäft; und er
langt – wie seine Patienten beim Essen – kräftig zu. Seine erste
Schätzung der Zahl von „Patienten“, die seiner Fürsorge und der Fürsorge
seiner Kollegen bedürfen, wirft einen um: „Zwischen 30 und 60 Millionen
Amerikaner“, schreibt Asher, „leiden an Fettsucht. Wenn die gleiche Zahl
von Bürgern an Masern oder Pocken erkrankt wäre, würde man von einer
Epidemie sprechen (3).“
Asher hat sich diese Zahlen nicht einfach aus den Fingern gesogen;
sie wurden ihm von anderen Ärzten und Ernährungswissenschaftlern
geliefert, die sich mit beträchtlichem Erfolg bemüht haben, uns davon zu
überzeugen, daß Fettsucht unsere verbreitetste Krankheit sei. Der
folgende Satz aus der Eröffnungsrede eines mit glanzvollen Namen
bestückten Symposions über Fettsucht, das 1967 an der Universität von
San Francisco stattfand, ist typisch: „In den Vereinigten Staaten ist
die Fettsucht zweifellos das ernsteste Symptom von Fehlernährung, wenn
man bedenkt, daß 25 bis 36 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zehn
Prozent oder mehr Übergewicht aufweisen (4).“
In einem Postskriptum zu diesem Symposion, das den Titel:
„Fettsucht: ein Bruttosozialprodukt (5)“ trägt, wird zwar in erster
Linie dem dekadenten Überfluß der amerikanischen Gesellschaft die Schuld
an dieser „Krankheit“ gegeben, aber wir werden doch auch an die
finanziellen Interessen erinnert, die die Ärzte, die pharmazeutische
Industrie und die Lebensmittelbranche an diesem medizinischen Schwindel
haben. Zu den interessanteren Zahlen zählen folgende: Die amerikanische
Lebensmittelindustrie gibt jährlich über eine Milliarde Dollar für
Werbung aus; gleichzeitig steigt der Absatz kalorienarmer
Schlankheitskost rapide an; allein der Absatz von Metracal (ein
kalorienarmes synthetisches Nahrungsmittel, das inzwischen vom Markt
verdrängt wurde) erreichte innerhalb von zwei Jahren nach seiner
Einführung 150 Mio. Dollar; jährlich werden Vitamintabletten im Wert von
200 Mio. Dollar und angeblich appetitreduzierende Präparate im Wert von
80 Mio. Dollar verkauft. Während die Amphetamine inzwischen in die
Walhalla der „gefährlichen Drogen“ eingezogen sind, deren illegaler
Besitz einem zu einer langjährigen Gefängnisdiät verhelfen kann, ist die
ärztliche Verschreibung von Appetitzüglern und ähnlichen Präparaten
interessanterweise nach wie vor ein riesiges Geschäft. So sind in der
Ausgabe von 1973 des /Physicians' Desk Reference/, dem
Standardverzeichnis aller amerikanischen pharmazeutischen Präparate,
nicht weniger als 34 verschiedene „Appetithemmer“ genannt, die auch
unter dem Stichwort „Präparate gegen Fettsucht“ aufgeführt werden (6).
Der obige knappe Überblick über den gegenwärtigen Entwicklungsstand
auf dem Gebiet der Dickenschröpfung legt den Schluß nahe, daß der
Bariatrie eine noch rosigere Zukunft beschieden sein könnte als der
Psychiatrie: Den Bariatrikern dürfte es unschwer gelingen, jedermann als
ihren Patienten zu reklamieren; und die Möglichkeiten der unfreiwilligen
Diagnose und Behandlung von Gewichtsproblemen sind so vielfältig, daß es
einen schaudert. Denn zweifellos ist für den gewissenhaften Bariatriker
jeder, der /mehr/ wiegt als ein Gandhi, ein akuter, latenter oder
potentieller „Fall von Fettsucht“; während jeder, der /soviel/ wiegt wie
ein Gandhi, als „Fall von nervösem Appetitmangel“ oder von „psychogener
Nahrungsverweigerung“ diagnostiziert werden könnte und damit ebenfalls
ein geeignetes Objekt medizinischer Behandlung wäre. Welche Abweichung
der Psychiatrisierung der amerikanischen Gesellschaft auch entgangen
sein mag – die Bariatrisierung wird sie sicher aufspüren und korrigieren.
Wie andere medizinische Sündenböcke und speziell wie unfreiwillige
psychiatrische Patienten, die gar keine Patienten sein wollen, lehnen
auch die „Fettsüchtigen“, wenn nicht in Worten, so in Taten, oft die
Patientenrolle ab. Ihr Verhalten läßt den Wunsch erkennen, dick zu sein
oder zu bleiben, oder vielleicht richtiger, mehr zu wiegen, als andere
für sie als richtig erachten. Obwohl er die Autorität der
Dickenschröpfer erweitert sehen möchte, und vielleicht um andere von
diesem Erwerbszweig abzuhalten, charakterisiert Asher selbst seine
potentiellen Patienten in diesen enthüllenden Worten: „Dicke Patienten
sind schwierig. Sie halten ihre Diät nicht ein; sie belügen ihre Ärzte;
sie Versäumen ihre Termine. Wenn der Arzt streng zu ihnen ist, gehen sie
zu einem anderen. Wenn er zu nachsichtig ist, bleiben sie dick. Oft ist
der Arzt nicht imstande, dem dicken Patienten zu helfen (7).“ Ohne es
offen auszusprechen, sagt Asher damit zwei Dinge: erstens, daß es
angesichts ihrer mangelnden Kooperationsbereitschaft am besten wäre, die
Fettsüchtigen – wie die Irren und Drogenabhängigen – gegen ihren Willen
in geschlossenen Anstalten zu behandeln; und zweitens, daß der Arzt
seinen übergewichtigen Patienten zwar /oft/ nicht helfen kann, daß er
sich jedoch /immer/ selbst saniert, indem er sich zum Geld des Patienten
bzw. der Krankenversicherung oder eines Dritten verhilft.
Ebenso wie in der Psychiatrie begegnen wir auch hier dem Arzt, der
den Patienten als „Lügner“ diffamiert – während es in Wirklichkeit der
Arzt selbst ist (sowie seine Organisation und sein Berufsstand), die
sich knüppeldicker Lügen schuldig machen. Denn der Arzt ist derjenige,
der unmäßige Esser (falls sie deshalb dick sind) als „krank“ bezeichnet;
der Leute, die ihn nicht sehen wollen – wie aus ihren
„Terminversäumnissen“ hervorgeht –, „Patienten“ nennt; und der den Rat,
weniger zu essen (als „Diät“ verkleidet) zur „ärztlichen Behandlung“
hochjubelt.
Gewisse Parallelen zwischen Fettsucht und Drogensucht sind freilich
unübersehbar und werden von Laien und Fachleuten gleichermaßen gesehen
bzw. hervorgehoben. Übergewichtige werden im Englischen als
„carboholics“ („Kohlehydratoholiker“) und „foodaholics“ („Freßaholiker“)
bezeichnet. Viele erklären, sie seien dem Essen ebenso verfallen wie der
Trunksüchtige dem Alkohol und suchen Hilfe, indem sie sich Autoritäten
ausliefern, deren Zwangsmaßnahmen sie schamlos herausfordern und in Kauf
nehmen. Natalie Allon – die übrigens zu den wenigen Autoren auf diesem
Gebiet zählt, die sich klar gegen die betrügerische Medizinisierung
dieses Problems ausgesprochen haben – bemerkt, daß „Schlankheitsgruppen“
ein attraktives alternatives Heilverfahren für die 'Krankheit' oder
'Sünde' der Übergewichtigkeit darstellen. Vielen Diätwilligen fällt das
Abnehmen leichter, wenn sie sich der äußeren Autorität der Gruppe
unterwerfen (8). Die Parallelen zwischen Schlankheitsklubs und den
Anonymen Alkoholikern liegen auf der Hand – bloß kann der Freßaholiker
nicht ganz „ohne“ auskommen; jedoch kann er – und das ist entscheidender
– die Ersatzgewohnheit des Diäthaltens annehmen, so wie der Alkoholiker
die Ersatzgewohnheit (bzw. „Sucht“) der Abstinenz annehmen kann. Allon
zitiert eine Schlankheitsfanatikerin, die sich folgendermaßen
beschreibt: „Vermutlich komme ich mein Leben lang nicht mehr von meinem
Schlankheitsfimmel los, ich bin ewig auf der Suche nach der Wunderdiät;
das Ende meiner Abmagerungsmanie wird erst mit dem Ende meines Lebens
kommen (9).“
Abgesehen von den medizinischen Experten sind die meisten Leute, die
ihrer Gewichtsabnahme solch übermäßigen Wert beimessen, ebenso wie die
meisten, die Alkoholiker zu Entwöhnungskuren zwingen, und
Drogenmißbrauchsideologen selbst bekehrte Sünder. Ihre Qualifikation
besteht ja gerade darin, sich aus „Sündern“ in „Heilige“ verwandelt zu
haben. Dieser mythisch-religiöse Prozeß der „Läuterung“ durch
Überwindung der „Unreinheit“, den ich bereits beschrieben habe (10),
stellt sich im Nahrungsverzicht vielleicht noch sinnfälliger und
dramatischer dar als in der Abstinenz von Alkohol oder anderen Drogen.
Allon schildert diesen Prozeß ebenso aufschlußreich wie treffend: „Der
moralische Schlankheitsapostel ist ein Mensch, der einen immer idealeren
Körper zu vervollkommnen sucht. Um ein so hohes Gut darzustellen, muß
der Läuterungsprozeß zu einem schlanken Leib von einem fetten
ausgegangen sein. Das Sakrale liegt im Akt der Reinigung. Um ein
Heiliger zu werden, muß man als Sünder beginnen (11).“
Diesem Modell entsprechend bemühen sich die geretteten Sünder,
andere zu retten, und zwar so viele wie möglich. „Bei den
Fettsucht-Heilern handelt es sich meist um selbsternannte Experten, die
sich in erster Linie deshalb zur Leitung von Schlankheitsklubs berufen
fühlen, Weil sie durch irgendeine Diät von ihrem Übergewicht befreit
wurden . . . Abgesehen von einer Grunddiät stellt der quasireligiöse
Vorgang der in Gruppen durchgeführten Schlankheitskuren den
Hauptbestandteil des Fettsucht-Heilverfahrens dar (12).“
Das unbeanstandete Auftreten angeblicher oder vermeintlicher
„wissenschaftlicher“ Experten auf der medizinischen Szene, deren
Autorität sich einzig und allein davon ableitet, „medizinische Sünder“ –
d. h. Alkoholiker, Drogensüchtige und Übergewichtige – gewesen zu sein,
hat bisher nicht die verdiente Beachtung gefunden, außer vielleicht im
Humor. Ich habe meine Kollegen mehr als einmal scherzweise sagen hören,
sie rieten ihren Söhnen nicht mehr, Ärzte oder Anwälte zu werden,
sondern „ehemalige Süchtige“.
Die tiefere Bedeutung und Wirkung des Ex-Alkoholikers, Ex-Süchtigen
und Ex-Übergewichtigen als paramedizinischer Experte liegt darin: Sie
alle machen den Verzicht der Fachmedizin auf das Setzen echter
wissenschaftlicher und technischer Maßstäbe und die
Verhaltensbeurteilung augenfällig; sie ermutigen die Ärzte, trotz der
bemerkenswerten wissenschaftlichen Fortschritte, die auf ihrem Gebiet in
jüngster Zeit erzielt wurden, sich nicht mehr auf Evidenz und
Schlußfolgerungen, Technologie und Wahrheit zu verlassen, sondern diese
durch den Pomp und die Glorie einer Pseudoreligion zu ersetzen; und
schließlich treiben sie die Medizin immer tiefer in die Arme des
Staates, dessen erdrückende Umschlingung zuerst die Sauerstoffzufuhr
ihres Gehirns abschnürt, so daß sie debil wird, um ihr dann ganz den
Garaus zu machen.
Ich habe die Auffassung vertreten, die heutige Hysterie gegenüber
dem Drogenkonsum und die daraus resultierende Verfolgung Drogensüchtiger
sei ein modernes Beispiel jenes „Massenwahns (13)“, von dem Charles
Mackay gesprochen hat. Falls diese Ansicht zutreffend ist, sollte es
möglich sein, außer den bereits genannten weitere Parallelen zwischen
der Verfolgung von Drogenkonsumenten einerseits und von Hexen und Juden
andererseits festzustellen; insbesondere müßte sich die Ausweitung des
Sündenbockstatus von einer ursprünglich überschaubaren Gruppe – wie
wehrlose Frauen, arme Juden oder schwarze Heroinsüchtige – auf andere
Gruppen, beispielsweise auf christliche Schismatiker, Nichtarier aller
Art oder langhaarige Jugendliche nachweisen lassen.
Sobald sich die Meinung durchsetzt, ein bestimmter Personenkreis –
z. B. Hexen oder Juden – sei „gefährlich“, fordert der Kreuzzug zur
Ausrottung jedes einzelnen Angehörigen dieses Kreises gewöhnlich auch
von anderen Gruppen seine Opfer. jedes der großen Kesseltreiben gegen
Sündenböcke hat dieses Charakteristikum aufgewiesen – zweifellos infolge
der Entfesselung niedriger menschlicher Leidenschaften wie Neid,
Habgier, Rachsucht und blanke Mordlust. Was als Verfolgung einer
Handvoll Hexen und Ketzer begann, wurde in der Hand der Inquisitoren zu
alles verschlingenden Kampagnen gegen dissidente Christen jeder
Schattierung, Juden und Mohammedaner, Arme und Reiche – schließlich
gegen jeden, der den Zorn oder Neid eines anderen erregte.
Im amerikanischen Kampf gegen Drogen haben sich bisher zwei klar
unterscheidbare Phasen abgezeichnet, in deren Verlauf sich die Identität
des verteufelten Rauschmittels zunächst von einer Droge auf eine andere
und dann auf mehrere andere verschob. Die erste dieser Phasen ist
vielleicht ein Sonderfall, aber dennoch relevant. ich spreche vom
Umschlagen des Kampfes gegen den Alkohol nach der Abschaffung der
Prohibition in den Kampf zunächst gegen Marihuana und dann gegen andere
„gefährliche Drogen“. Die zweite Identitätsausweitung des Sündenbocks
begann um 1960: Seither sind wir Zeugen eines flächenbrandartigen
Übergreifens der Kampfmaßnahmen von Marihuana und LSD auf Heroin,
Kokain, Barbiturate und Amphetamine geworden.
Die Eskalation dieses „Kampfes gegen schädliche Substanzen“ hat
schließlich einen Punkt erreicht, an dem die Nahrung selbst zum „Feind“
wurde! Die martialische Metapher stammt nicht von mir, wie das folgende
Beispiel zeigt. /Associated Press/ brachte am 6. Oktober 1971 eine
Meldung mit der Überschrift: „Fisch und Chips im Kampf der USAF gegen
den Bauchspeck als Feind identifiziert.“ Die kriegerische Metapher
resultiert hier zum einen aus der Tatsache, daß eine der Seiten in
dieser Auseinandersetzung die amerikanische Luftwaffe ist. Die andere,
der Feind – der in dem Bericht nicht in Anführungszeichen gesetzt wird,
bei dem es sich also um einen Feind im buchstäblichen und nicht im
übertragenen Sinne zu handeln scheint – ist die Nahrung; genauer gesagt,
ausländische Nahrungsmittel, wie wir schon aus der Überschrift des
Artikels erfahren, den ich unten gekürzt wiedergebe.
„Die amerikanische Luftwaffe führt einen Kampf gegen den überflüssigen
Speck ihres in England stationierten Bodenpersonals. Eines der
Angriffsziele sind Fisch und Chips. Gebratener Kabeljau mit Pommes
frites wird in zwei der sechs großen Luftwaffenstützpunkte, Lakenheath
und Mildenhall, nicht mehr serviert. In die in der Nähe befindlichen
Fisch-und-Chips-Läden ist der Eintritt verboten. Ähnliche Maßnahmen
werden auch andernorts erwogen. „Das Problem ist, daß viele der erst
kürzlich aus Amerika gekommenen Soldaten großen Geschmack an Fisch und
Chips finden“, erklärte ein Sergeant.
. . . In dem Stützpunkt South Ruislip nahe von London wird das gesamte
Luftwaffenpersonal gewogen, um festzustellen, wieviel Schaden die
englische Küche angerichtet hat. Die Dicken werden in Tagesbefehlen vor
diesem Gericht gewarnt. „Hunderte von Luftwaffenangehörigen in ganz
England werden sich als übergewichtig erweisen“, meinte ein Sprecher.
Mit Ausnahme von Fällen, in denen das Übergewicht medizinische Ursachen
hat, werden Fettwänste, die den Befehlen zuwiderhandeln und der
Verlockung von Fisch und Chips erliegen, so lange in Krankenhäusern der
Luftwaffe interniert, bis sie „entwöhnt“ sind (14).“
Man weiß kaum, wo man mit der „Analyse“ dieser Passage beginnen
soll, die einige der phantasievollsten Szenen aus George Orwells /1984/
oder /Farm der Tiere/ in den Schatten stellt. Lassen Sie mich zunächst
erwähnen, daß ich mich nicht erinnere, selbst nach der Veröffentlichung
dieser Geschichte in etwas gekürzter Form in der Zeitschrift /Parade/
(15), die angeblich von 25 Millionen Amerikanern gelesen wird, eine
einzige Beschwerde oder einen Protest gegen diese unglaubliche
Verletzung der bürgerlichen Freiheitsrechte nicht nur der angeblichen
amerikanischen „Dicken“, sondern auch der englischen Ladenbesitzer
gesehen zu haben, deren Läden durch einen Befehl der amerikanischen
Luftwaffe boykottiert werden. Nicht nur wurden keine Einwände gegen
diese Geschichte erhoben, sondern sie wurde speziell von /Parade/ in
einer Weise präsentiert, die deutlich erkennen ließ, daß die Zeitschrift
ein Vorgehen unterstütze, das den meisten Leuten als „sichtlich“
vernünftig und wohlmeinend erscheinen mußte: „Um den Männern die
Schlacht gegen den Bauch gewinnen zu helfen, hat das Oberkommando . . .
den Eintritt in die örtlichen Fisch-und-Chips-Läden verboten“, wie die
/Parade/ berichtete.
Diese Art von Hilfeleistung mag all jenen einleuchtend erscheinen,
die mit dieser Form von medizinischer Einmischung einverstanden sind,
für alle übrigen trifft dies jedoch nicht zu. Da ich zu letzteren zähle,
enthält dieser Bericht vom Inhalt und der Sprache her für mich eine
Menge interessanter Aufschlüsse.
Erstens, amerikanische Staatsbürger werden am Konsum von Substanzen
gehindert, die keine Drogen, sondern Nahrungsmittel sind; dennoch werden
dafür Begründungen angeführt, die sich nicht von jenen unterscheiden,
die zur Rechtfertigung des Verbots sogenannter gefährlicher Drogen dienen.
Zweitens, bei der verbotenen Speise handelt es sich um ein
ausländisches Gericht – ja um eines der Nationalgerichte des
befreundeten Landes, in dem die Luftwaffeneinheiten stationiert sind.
Das Argument, Fisch und Chips würden wegen ihres hohen Fettgehalts
verboten, ist natürlich keinesfalls überzeugend. Hot dogs, Apfelkuchen
und Eiscreme werden in der Agenturmeldung nicht erwähnt und stehen den
Soldaten in ihren eigenen Kantinen vermutlich weiterhin zur Verfügung.
Die AP-Meldung spricht ausdrücklich von dem „Schaden, den die englische
Küche unter den Soldaten angerichtet hat“. Die englische Küche, nicht
die amerikanische. Die Parallele mit der Werbung für den Tabak, weil er
amerikanisch ist, und dem Verbot von Marihuana, weil es ausländisch ist,
drängt sich auf: Hot dogs sind zu „legalisieren“, weil sie ein Teil
unseres Erbes sind; Fisch und Chips sind als „gefährlich“ zu erklären
und zu verbieten (und höchstens auf ärztliche Verschreibung als
Medikament gegen die Krankheit der Anglophobie zur Verfügung zu
stellen), weil sie unamerikanisch sind.
Drittens, die Ausdrücke, mit denen diese Speise beschrieben wird,
ähneln in auffallender Weise der Sprache, mit der die „gefährlichen“
Drogen beschrieben werden. Sie „richtet Schaden“ unter den Soldaten an,
die ihrer „Verlockung“ erliegen; die als Sündenböcke dienenden Menschen
werden als „Fettwänste“ bezeichnet, denen man den Genuß von Fisch und
Chips untersagt und die man in Luftwaffenhospitals inhaftiert, bis sie
„entwöhnt“ sind!
Viertens, niemand scheint sich über die moralischen, juristischen
und bürgerrechtlichen Aspekte der Situation, sowohl was die
amerikanischen Soldaten wie auch was die englischen Kaufleute betrifft,
den Kopf zerbrochen zu haben. Die Soldaten werden genauso wie
gefährliche Geisteskranke oder Süchtige behandelt – man interniert sie
in geschlossenen Anstalten. Die Gastwirte und Ladenbesitzer werden
attackiert wie Feinde in Friedenszeiten – durch einen Boykott ihrer
Produkte. Dennoch hat sich meines Wissen bis heute kein Protest gegen
diese Herabsetzung englischer Eßgewohnheiten und diese Verletzung
britischer Bürgerrechte erhoben.
Außerdem hat es der Gewichtseinschränkung der amerikanischen Truppen
sicher nicht genützt, ihnen den Besuch der Fisch-und-Chips-Läden in
England zu verbieten, während ihnen die Kentucky-Fried-Chicken-Shops
(eine Brathuhn-Kette) oder die Lums-Kette, die ebenfalls Fisch und Chips
führt, in Amerika offenstehen; wie sehr es jedoch ihrem Sinn für
Gerechtigkeit und Fairplay, Freiheit und Menschenwürde – kurz ihrem
Gefühl für alle jene Werte, zu deren Verteidigung sie angeblich die
Uniform tragen – geschadet hat, läßt sich nur vermuten.
Fünftens und letztens, ich protestiere gegen die grenzenlose
Entwürdigung – die Politisierung, Psychiatrisierung und Pönalisierung
der Medizin und medizinischer Institutionen, die sich in den hier
beschriebenen Vorgängen offenbart. Der Genuß englischer statt
amerikanischer Gerichte wird hier behandelt, als sei er ein
medizinisches Problem, und üppiges Essen wird als besonders ernstes
medizinisches Problem hingestellt, das „Hospitalisierung“ nötig macht.
Am bizarren Schluß der Geschichte wird uns mitgeteilt, „/mit Ausnahme
von Fällen, in denen das Übergewicht medizinische Ursachen hat/, würden
Fettwänste . . . die der Verlockung von Fisch und Chips erliegen, in
Krankenhäusern der Luftwaffe interniert . . .“ (Hervorhebung Th. S.).
Diese Maßnahme entlarvt, falls sie wirklich angewendet wird, alle dafür
Verantwortlichen als lügnerische medizinische Verbrecher. In der
traditionellen amerikanischen Anstaltspsychiatrie und im heutigen
sowjetischen Gesundheitswesen /tun die medizinischen Prostituierten des
Systems wenigstens so/, als seien ihre Opfer krank und als interniere
man sie, weil sie krank sind. Hier wird hingegen betont, daß die
wirklich Kranken von der Krankenhausbehandlung ausgenommen werden (die
sie vermutlich nicht brauchen; ambulante Behandlung scheint man
geeigneter für sie zu halten) und die „Hospitalisierung“ denjenigen
vorbehalten bleibt, die /keine/ medizinischen Probleme haben.
Wahrlich, die „Geißel“ des Drogenmißbrauchs und der Drogensucht
bedroht Amerika und die Amerikaner. Aber wie dieses Übergreifen der
medizinischen Verfolgung von der Masturbation auf Marihuana und von dort
auf Fisch und Chips zeigt, liegt die Gefährlichkeit dieser Geißel nicht
in der Krankheit, die gar nicht existiert, sondern im Heilverfahren, das
hemmungslose medizinische Barbarei ist, getarnt und bezeichnet als
Diagnose, Vorbeugung, Schutz, Hospitalisierung und Behandlung.
Damit man sich ein Bild davon machen kann, wie unerhört logisch sich
die „Kriminalisierung“ von Fisch und Chips aus der totalitären
medizinischen Einstellung zum Drogenmißbrauch, zur Fettsucht und zu
allen menschlichen Problemen ergibt, möchte ich mich nach der
„Krankenhausbehandlung“ von „Fisch-und-Chips-Sucht“ der chirurgischen
Behandlung von Übergewichtigkeit, ungeachtet der nationalen Herkunft der
Speisen, die diese „verursachen“, zuwenden.
Die medizinische Sicht der Gewohnheiten neigt logischerweise dazu,
den Kern des „Problems“ – ob es sich um geschlechtliche
Selbstbefriedigung oder Nahrungsmißbrauch handelt – im „betroffenen“
Organ zu suchen und nicht in der betreffenden Person. Es ist etwa so,
als würde man jemand, der mit ausländischem Akzent Englisch spricht,
weil er als Kind im Ausland gelebt hat, einer chirurgischen Behandlung
seines Mundes, seiner Zunge und Zähne unterziehen, um seine fehlerhaften
Sprechgewohnheiten zu korrigieren. Die offenkundige Absurdität dieser
Art von Chirurgie und der noch offenkundigere Sadismus der Chirurgen,
die sie ausführen, sowie die Leichtgläubigkeit der Patienten, die sich
ihr unterwerfen, haben die immer wieder auflebende Begeisterung für
ständig neue chirurgische „Heilmethoden“ dieser Art nicht zu dämpfen
vermocht. So waren im 19. Jahrhundert die Klitoridektomie für Mädchen
und die Beschneidung für Jungen anerkannte Methoden zur Behandlung von
Masturbation. Die Amputation des Penis wurde noch 1891 von einem der
Präsidenten des (britischen) Königlichen College für Chirurgie empfohlen
(16). Im 20. Jahrhundert fahren die Chirurgen fort, ein völlig gesundes
Organ, das Gehirn, wegen bestimmter „schlechter Gewohnheiten“ des
Denkens, Sprechens und Betragens, „Schizophrenie“ genannt, zu
verstümmeln. Der Entdecker dieser „Behandlung“, Egas Moniz, erhielt den
Nobelpreis dafür. Die Behandlung selbst, als Lobotomie oder Leukotomie
bekannt, wurde auch bei Süchtigen angewandt.
Somit kommen wir also zur chirurgischen Behandlung der
Fettleibigkeit – der „schlechten Gewohnheit“, zu viel zu essen. Da man
ohne richtig funktionierenden Verdauungstrakt nicht dick werden kann,
ortet die medizinische Wissenschaft die „Schadstelle“ der „Fettsucht“
genannten Krankheit im Verdauungstrakt und geht daran, diesen „zu
korrigieren“. Unglaublich? Mitnichten. Da sich Ärzte, Patienten und
Politiker alle darin einig sind, daß unmäßiges Essen ein medizinisches
Problem sei, Wer könnte sie noch davon abhalten, ihrer aufrichtigen
Überzeugung entsprechend zu handeln? Weshalb sollte sie überhaupt jemand
davon abhalten? Von Eheleuten sagt man oft, sie „verdienten“ einander;
vielleicht gilt das auch für Patienten und deren Ärzte. Da es viel mehr
Patienten als Ärzte gibt, müssen die Patienten außerdem, falls sie Opfer
eines Betruges werden, selbst eine wichtige Rolle bei diesem Betrug
spielen – ein Betrug, der, wie wir nur zu gut wissen, oft die Folge
ihres Versuchs ist, der Last der Verantwortung selbstkritischen Denkens
und selbstdisziplinierten Lebens auszuweichen.
Die chirurgische Behandlung von Fettleibigkeit wurde von zwei
Chirurgen in Los Angeles, J. Howard Payne und Loren T, DeWind,
entwickelt, die 1956 anfingen, sogenannte Darmüberbrückungsoperationen
durchzuführen. Das erste Verfahren bestand in einer Umleitung des
Darmtrakts, d, h. sie verbanden den Dünndarm mit dem Dickdarm, wodurch
ein Großteil des Dünndarms und ein geringerer Teil des Dickdarms ihre
Funktion verloren. Wegen der ungünstigen Nebenwirkungen gaben sie 1969
diese Methode auf und ersetzten sie durch eine weniger drastische
Operation, die /Jejunoileal-Verbindung/. Operationen gegen
Fettleibigkeit sind seither in den USA und Kanada in Mode gekommen. Es
geht mir im folgenden natürlich weniger darum, einen Überblick über
diese Literatur zu liefern, als vielmehr sie der Lächerlichkeit und der
Kritik preiszugeben. Ich werde jedoch einige Äußerungen der
angesehensten Kapazitäten auf diesem Gebiet zitieren, sowohl um ihre
Auffassungen zu Wort kommen zu lassen, als auch um den anscheinend
unwiderstehlichen Hang der Ärzte, ihre Patienten zu entmündigen, vor
Augen zuführen.
In der Ausgabe des /American Journal of Surgery/ vom August 1969
ziehen Payne und DeWind die Bilanz ihrer fünfzehnjährigen Erfahrung auf
diesem Gebiet:
„1. Eine Jejunoileal-Verbindung ist bei ausgewählten Patienten
angezeigt, für die ihr Übergewicht zum Gesundheitsrisiko geworden ist.
2. Das Verfahren empfiehlt sich nicht bei Patienten, die nur 25 bis 50
Pfund Übergewicht haben. 3. Da ein hohes Maß an Kooperation wesentlich
ist, muß das Verhältnis zwischen Arzt und Patient von gegenseitiger
Achtung, Vertrauen und Verantwortung getragen sein, Eine feindselige
Haltung seitens des Patienten kann nicht geduldet werden . . . (17)“
Eine „feindselige Haltung“ seitens der Ärzte anscheinend schon.
Dennoch predigen Payne und DeWind die Tugend der „Kooperation“ und der
„gegenseitigen Achtung“ zwischen Patient und Doktor.
An den Abdruck des Aufsatzes von Payne-DeWind schloß sich eine
ernsthafte Diskussion des Themas in der gleichen Fachzeitschrift, zu der
Dr. Jack M. Farris, ebenfalls Chirurg in Los Angeles, folgenden
Kommentar beisteuerte: „Als vor fünf Jahren dasselbe Problem erörtert
wurde, gab ich zu bedenken, ob das gesteckte Ziel nicht auch dadurch zu
erreichen sei, daß man die oberen und unteren Zahnreihen der Leute
verdrahtet wie bei einem Kieferbruch. Ich muß diesen Vorschlag jedoch
zurückziehen, weil ich inzwischen draufgekommen bin, daß man sechs bis
zwölf Monate keine Nahrung zu sich nehmen dürfte, um 100 Pfund
Übergewicht zu verlieren, die dem Energiegehalt von etwa 400.000
Kalorien entsprechen. Folglich hätte man dem von Dr. Payne erwähnten
Mann, der 380 Pfund abnahm, für ungefähr vier Jahre den Mund mit Draht
verschließen müssen, um dasselbe Resultat zu erzielen (18).“
Im Spaß gesagt, aber ernst gemeint: Leuten mit Draht den Mund zu
verschließen, damit sie abnehmen! Aber schließlich haben Ärzte auch
stachelbewehrte Keuschheitsgürtel an den Genitalien kleiner Jungen
angebracht, um sie am Onanieren zu hindern; und sie schneiden den
Leuten immer noch die Stirnlappen weg, damit sie aufhören, beunruhigende
Gedanken zu äußern.
Wenn man die moralischen Aspekte dieser Verfahren beurteilt –
angefangen von der Frage, was man als „Problem“ definiert und nach
welchen Kriterien man bestimmt, welche „Lösung“ moralisch akzeptabel ist
und welche nicht –, wird im allgemeinen von der Wertskala des einzelnen,
speziell in Hinblick auf Begriffe wie Gesundheit, persönliche Freiheit
und ärztlichen Zwang abhängen. Ich persönlich lehne alle die erwähnten
Eingriffe aus innerster Überzeugung ab. Aber meiner Ansicht nach ist das
entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Moral oder Unmoral
derartiger Eingriffe nicht, ob ich sie gut oder schlecht finde, sondern
ob sie an voll informierten, einwilligenden Klienten vorgenommen werden
oder nicht (Kinder sind ihrer Definition nach nicht einwilligende
Klienten; da sie juristisch kein Vertragsrecht haben, sind sie
„unfreiwillige Patienten“). Ich glaube somit – und ich glaube, daß wer
persönliche Autonomie schätzt, konsequenterweise nicht anderer Meinung
sein kann –, daß es dem einzelnen überlassen sein sollte, zu
entscheiden, ob er sich als „Patient“ bezeichnen möchte, weil er
masturbiert, Gedanken hat, die ihn erschrecken, oder weil er zuviel ißt,
und daß er darüber entscheiden sollte, ob er sich in die Hände eines
Arztes begeben und seinen Körper von diesem verstümmeln lassen will, um
von seinen „Verunreinigungen gesäubert“ zu werden. Die Religionsfreiheit
sollte sich mithin nicht nur auf die theologische Religion beschränken,
sondern auch für die medizinische, chirurgische und psychiatrische
Religion gelten. Da ich „unfreiwillige Behandlung“ auf eine Stufe mit
unfreiwilliger religiöser Bekehrung stelle, brauche ich über meine
Einwände dagegen kaum noch etwas zu sagen – ungeachtet des medizinischen
Nutzens, den ihre Verfechter ihr zuschreiben.
Dr. Farris' oben zitierte Bemerkungen verdienen noch einen
Kommentar. Sein Hinweis auf die ungeheure Kalorienmenge, welche 100
Pfund Körperfett darstellen, wirft ein Schlaglicht zumindest auf die
Folgen eingefleischter Gewohnheiten, wenn schon nicht auf den „Lohn der
Sünde“: Um sich Hunderte Pfunde Übergewicht anzumästen, muß man
jahrelang übermäßig gegessen haben; wir sollten die Fettleibigkeit daher
nicht mit einer Krankheit wie Diabetes vergleichen, sondern mit einer
mühsam erworbenen Fertigkeit wie dem meisterhaften Geigenspiel.
Natürlich wäre es unmöglich, einen Violinvirtuosen von seinem
„zwanghaften“ Geigenspiel zu „heilen“, indem man ihm diesbezügliche
Vorhaltungen macht, besonders solange er „in Wirklichkeit“ gar nicht
damit aufhören möchte. Aber nehmen wir einmal an, daß er aufgrund
heftigen sozialen Drucks zu der Überzeugung kommt, er sollte das Spiel
aufgeben. Er könnte dann einen willigen Kandidaten für die chirurgische
Behandlung zwanghaften Fiedelns abgehen, die aus der Amputation von
einigen oder allen Fingern einer Hand oder beider Hände bestehen könnte.
Eine umfangreiche chirurgische Literatur würde dann entstehen, in der
verschiedene Chirurgen für die Abnahme von weniger oder mehr Fingern
bzw. von einem größeren oder kleineren Teil irgendeines Fingers
eintreten würden. Für die Behandlung persönlicher Gewohnheiten mittels
„wiederherstellender“ Operationen tut sich hier sichtlich ein weites
Feld auf, mit dessen Bestellung kaum noch begonnen wurde.
Natürlich haben diese „Heilmethoden“ alle ihren Preis, selbst wenn
die Krankenversicherung dafür aufkommt. „Es erstaunt mich“, bemerkt Dr.
Farris – hinter dessen Äußerung über das Verschließen des Mundes durch
Draht sich ein Herz aus Gold verbergen muß –, „daß die
Jejunoileal-Verbindung immer noch in zahlreichen Orten praktiziert wird,
obwohl Sie für die Behandlung von Fettsucht nicht geeignet ist . . . da
sie Gesundheit und Wohlbefinden beeinträchtigt (19).“ Mich erstaunt es
nicht. Aber ich glaube auch, daß an den medizinischen Fakultäten die
Anatomie der Büchse der Pandora vielleicht nicht weniger eingehend
gelehrt werden sollte als die Anatomie anderer Gefäße, mit deren Inhalt
der gut ausgebildete Arzt ihrer Erwartung nach vertraut sein sollte.
Die chirurgische Behandlung der Fettleibigkeit durch Darmoperationen
wird seit nunmehr zwanzig Jahren betrieben. Die gegenwärtige
Einschätzung dieser Operationen in Fachkreisen geht aus dem folgenden
Kommentar Dr. Harry H. Le Veens in seinem Artikel über die
Jejunoileal-Verbindung hervor, der 1972 im /American Journal of Surgery/
erschien: „Die chirurgische Behandlung krankhafter Fettsucht ist deshalb
attraktiv, weil die medizinische Therapie fast immer versagt. Wenn diese
Patienten zwanghafte Esser, sogenannte Freßaholiker sind, essen sie, um
ihre Angst zu betäuben. Es liegt auf der Hand, daß Diäten, die die
Nahrungsaufnahme einschränken, Angst erzeugen. Deshalb ist der
chirurgische Eingriff vom psychologischen Standpunkt aus die
akzeptablere Therapie (20).“
Die Vorstellung, ein beleibter Mensch sei nichts weiter als ein
verfetteter Körper, der von dem unwiderstehlichen Impuls angetrieben
wird, sich mit Essen vollzustopfen, wird hier weder ausgesprochen noch
in Frage gestellt; sie wird als selbstverständlich vorausgesetzt.
Vielleicht ist sie auch für die „amerikanische Öffentlichkeit“
selbstverständlich, wenigstens soweit sich die Einstellung dieser
Öffentlichkeit aus der Art und Weise folgern läßt, wie das
/Time-Magazin/ den Sachverhalt darstellt. Im April 1972 druckte /Time/
einen langen Artikel über die chirurgische Behandlung von Fettsucht, der
beim Leser leicht den Eindruck hervorrufen konnte, das einzige, was man
gegen die Operation einwenden könne, sei, daß sie manchmal von
skrupellosen Chirurgen „mißbraucht“ werde. Manche, so erfahren wir,
stellen nicht einmal die richtigen Anastomosen, d. h. chirurgische
Verbindungen der durchtrennten Enden des Verdauungstraktes, her, mit
tödlichen Folgen natürlich. /Time/ beschreibt, wie diese Operation
funktioniert: „(Die) Verkürzung des Verdauungstraktes verringert die
Kalorienaufnahme und bewirkt, daß extrem Übergewichtige abnehmen, soviel
sie auch essen. Zu diesem Zweck durchtrennt der Operateur den Dünndarm
am Ende des Leerdarms und verbindet ihn kurz vor dem Dickdarm mit dem
Krummdarm. Dadurch verringert sich die Länge des aktiven Dünndarms von
ca. 8 m auf 75 cm und der Speisebrei passiert den Verdauungstrakt in
drastisch verkürzter Zeit. Auf diese Weise kann weniger verdaute Nahrung
durch die Darmwände absorbiert werden (21).“
Dies klingt sehr hübsch und wissenschaftlich. Kalorien spielen keine
Rolle mehr. Willenskraft spielt keine Rolle mehr. Und zweifellos bezahlt
die Krankenversicherung das alles. Es ist auch viel zivilisierter als
die ekelerregende Art, wie die Römer das Überessen „behandelten“: indem
sie sich mit einer Feder am Gaumen kitzelten, um Erbrechen
hervorzurufen. Wir sind über solche schmutzigen Gewohnheiten hinaus.
Das Reizen des Gaumens, um Erbrechen auszulösen, erinnert überdies
zu sehr an das Reizen der Genitalien, um zum Orgasmus zu gelangen. Das
sind Dinge, die ein Mensch für sich selbst tut und die daher verurteilt
– und, wenn möglich, verboten werden müssen. Wir dürfen schließlich nie
allein gelassen werden und über uns selbst bestimmen (so seltsame Wege
dabei auch beschritten werden mögen). Die heteronome Ethik gebietet, daß
andere über uns bestimmen: Ein Sexualpartner über unseren Orgasmus, ein
Chirurg über unsere Fettleibigkeit. Deshalb gibt es die Darmanastomose
für zu starke Esser – eine Art von endgültiger Abtreibung des
Darminhalts; eine Beschneidung des Dünndarms ; eine Lobotomie des
Verdauungstrakts. All dies ist legal und therapeutisch. Die Ärzte, die
diese Operationen durchführen, sind berühmte und geachtete Chirurgen,
die ihre Forschungsergebnisse in den angesehensten Fachzeitschriften
veröffentlichen. Gleichzeitig riskieren gewöhnliche Leute, die
Amphetamine verkaufen, lebenslange Gefängnisstrafen. So sieht die
Realität im Zeitalter des Wahnsinns aus, in dem die herrschende Religion
die Medizinische Wissenschaft ist.
Anmerkungen:
1 H. R. Hays, /The Dangerous Sex/, bes. Kap. 4
2 Willmer A. Asher, Bariatrics: Struggling for recognition, /Medical
Opinion/, 1:20–21, Dezember 1972, S. 28
3 Ebda, S. 20–21
4 Harald A. Harper, Vorwort zu Nancy L. Wilson (Hrsg.), /Obesity/, S. VII
5 Joseph M. Free et al., Obesity: A Gross National Product, in: Wilson
(Hrsg.). a. a. O., S. 239–245
6 /Physician's Desk Reference/, 27. Ausg., S. 202
7 Asher, a. a. O., S. 21
8 Natalie Allon, Group dieting rituals, /Society/, 10:36–42,
Januar–Februar 1937, S. 37
9 Ebda
10 S. Kap. 2
11 Allon, a. a. O., S. 37
12 Ebda
13 Charles Mackay, /Extraordinary Popular Delusions and the Madness of
Crowds/ (1841, 1852)
14 Fish and chips the enemy in USAF's 'Battle of the Bulge', /Syracuse
Post-Standard/, 6. Oktober 1971
15 Off-limits, /Parade/, 6. Januar 1972
16 S. Thomas Szasz, /The Manufacture of Madness/ (deutsch: /Die
Fabrikation des Wahnsinns/, a. a. O.), Kap. 11
17 J. Howard Paine/Loren T. DeWind, Surgical treatment of obesity,
/American Journal of Surgery/, 118:141–147, August 1969. S. 146
18 Jack M. Farris, a. a. O., S. 147
19 Ebda
20 Harry H. LeVeen, Comments, in A. Bertrand Brill et al., Changes in
body composition after jenunoileal bypass in morbidly obese patients,
/American Jounal of Surgery/, 125:49–56, Januar 1972, S. 65
21 Dead end, /Time/, 24. April 1972, S. 65
Aus:
Szasz, Thomas S.: /Das Ritual der Drogen – Das 'Drogenproblem' in neuer
Sicht: Sündenbock unserer Gesellschaft/. Fischer Taschenbuch Verlag:
Frankfurt am Main 1980; Engl.: /Ceremonial Chemistry/. Anchor
Press/Doubleday, Garden City/New York 1974
Nachdruck und Online-Ausgabe:
Szasz, Thomas S.: /Ceremonial Chemistry: The Ritual Persecution of
Drugs, Addicts, and Pushers/. Syracuse University Press: Suracuse 2003:
http://books.google.de/books/about/Ceremonial_Chemistry.html?id=C9KRwndkEEkC