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Totenstille (OT)

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Mar 19, 2004, 5:13:47 AM3/19/04
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«Der Bund»: Bern-Seite, Ausgabe vom 19.03.2004, S. 23

Dagmars Tod von der Mordtat trennen

Heute vor zehn Jahren wurde in Bremgarten die 16-jährige Dagmar ermordet

Sie versuchen, den gewaltsamen Tod ihrer Tochter losgelöst von der Tat und
vom Täter zu betrachten und in ihrem Leben «einzuordnen» -- doch oft haben
sie das Gefühl, «es sei erst gestern geschehen»: Gespräch mit Ellen und
Edward Hewel, deren 16-jährige Tochter Dagmar am 19. März 1994 beim
Birchiwald in Bremgarten zufälliges Opfer eines Verbrechens wurde.

Walter Däpp


Plötzlich, am 19. März 1994, wurde für die Familie Hewel in Kirchlindach
alles anders. An jenem frühlingshaft warmen Samstagnachmittag vor zehn
Jahren wurde die 16-jährige Dagmar, das jüngste Kind der Familie, von einem
verwirrten Täter ermordet -- zufällig, einfach so. Dagmar war mit ihrem Hund
Tim auf einem Feldweg zwischen Kirchlindach und Bremgarten unterwegs, als
der Mann aus dem Hinterhalt des Birchiwalds mit einem Karabiner auf sie
schoss. Dagmar war sofort tot. Und dort, wo ihr junges Leben so brutal und
sinnlos beendet wurde, wachsen nun Buschröschen und ein Kirschbäumchen.
Dagmars Eltern haben es gepflanzt. Und der Bauer, dem das Land gehört, hat
den Ort liebevoll eingezäunt -- respektiert ihn als Gedenkstätte für Dagmar.

Dagmars Tod erschütterte -- und wühlte viele auf. An der Trauerfeier
charakterisierte die Pfarrerin Dagmar als «kraftvolles Mädchen», das «die
Welt nach ihrer Echtheit» habe ergründen und Journalistin habe werden
wollen. Sie zitierte aus dem Lebenslauf, den Dagmar kurz vorher, vor ihrer
Konfirmation, selber geschrieben hatte -- zum Beispiel den Passus, dass sie
die Stille des Waldes liebe, «die Totenstille».


Einer von Dagmars Schulkameraden fragte sich, wo denn nun Dagmars Kraft
hingegangen sei: «Die kann doch nicht einfach plötzlich weg sein?» Und eine
Kameradin erzählte, nach der Nachricht von Dagmars Tod sei es im Schulzimmer
«zwanzig Minuten lang still gewesen -- einfach still». Monate später gingen
mehrere Hundert Menschen mit Fackeln, Kerzen und Laternen an den Tatort, um
«Dagmars letzten Spazierweg mit Licht zu erhellen». Freundinnen wünschten
sich, Dagmar möge nun «an einem schönen Ort» sein. Und ihre Eltern Ellen und
Edward Hewel meinten noch Monate später, Worte gäben nicht viel her, um ihre
Gefühle auszudrücken.

Und der Täter? Er gab sich, zwei Jahre später vor dem Berner
Geschworenengericht, gefühlskalt, uneinsichtig, dumpf und irritierend
selbstsicher. Die Tat sei für ihn «nötig gewesen», sagte er, um seinen bei
einem Banküberfall von einem Polizisten getöteten Bruder zu rächen. Am
Tatort habe er «noch etwas gegessen» und dann auf ein mögliches Opfer
gewartet. Einen zuerst vorbeispazierenden Mann habe er nicht erschiessen
mögen, weil er «so majestätisch dahergekommen» sei. Ein Ehepaar sei ihm «zu
alt gewesen». Und dann, ja -- dann sei halt eben «das Mädchen mit dem Hund»
gekommen. Er hätte «es auch lieber zum Kaffee eingeladen», sagte er zynisch,
«statt es zu erschiessen» -- doch es habe «so sein müssen»: «Also ging ich
drauflos, päng, und habe es geschafft. Es war ein Sonntagsschuss.» In seinem
Schlusswort vor Gericht sah er sich als «humanen Mörder», der nun mit sich
«im Reinen, glücklich und zufrieden» sei.

Allein schon dieses Schlusswort, meinte Gerichtspräsident Jürg Sollberger
später in seiner Urteilsbegründung, sei «an Ungeheuerlichkeit nicht zu
überbieten». Er sprach von einer Tat, die «uns alle hätte treffen können,
der wir auch örtlich nicht hätten entrinnen können». Auch für das Gericht
sei es sehr schwer gewesen, «menschliche Gefühle zu verdrängen, den Fall
formal zu versachlichen». Und auch die Verurteilung des Täters könne «das,
was zerstört worden ist, nicht wieder herstellen». Dagmars Mörder wurde zu
zehn Jahren Zuchthaus verurteilt -- und verwahrt. Inzwischen ist er im
Strafvollzug gestorben.

Der Tod ihrer Tochter ist Dagmars Mutter Ellen Hewel auch jetzt, zehn Jahre
später, sehr nah. «Wenn ein Kind stirbt», sagt sie, «stirbt ein Stück von
dir.» Doch sie vermag den Verlust ihrer jüngsten Tochter nun besser als
früher «von der Tat zu trennen». Der Tod einerseits, die Mordtat
andererseits: Das seien für sie nun zwei voneinander getrennte
Angelegenheiten. Und dies ermögliche es ihr, besser als vorher damit
zurechtzukommen. Deshalb sei der Todestag für sie nicht mehr so zentral: Es
seien eher Stimmungen, Beobachtungen, Erinnerungen oder gewisse Ereignisse,
die sie zwischenhinein wieder auf das Schreckereignis vor zehn Jahren
zurückwerfen würden -- und stets auch wieder an den Täter erinnerten. An
einen Mann, der für sie aber ausserhalb jeder Reichweite geblieben sei.
Schon kurz nach der Tat hatten Ellen und Edward Hewel gesagt, sie hielten
den Täter bewusst von sich fern, denn: «Dieser Mann hat nichts zu tun mit
unserer Tochter, vorher nichts und nachher nichts. Sich mit ihm auseinander
zu setzen bringt uns Dagmar nicht wieder zurück.»


Für Dagmars Vater Edward Hewel hat sich der Todestag, «der Neunzehnte»,
anders als bei seiner Frau unauslöschbar eingraviert, wie er sagt: «Immer am
Neunzehnten, und zwar am Neunzehnten jedes Monats, gehen meine Gedanken
wieder zurück an den Tag, der alles veränderte -- und an Dagmar. Ihr Tod
begleitet mich nun durchs Leben. Und jeder Neunzehnte ist für mich auch
wieder ein Moment des Innehaltens. Wie ein Kreuz, das über allem steht.» Von
den Fragen nach dem Geschehen der Tat, nach dem Wie, Warum und Weshalb, habe
er sich aber einigermassen befreien können. Die Leere, die durch Dagmars Tod
«mitten in ihrer Jugend» entstanden sei, sei zwar nicht wieder zu füllen --
oder höchstens mit guten Gedanken.

Ellen Hewel bemüht sich, dieses vor zehn Jahren so jäh aufgerissene Loch zu
füllen, indem sie sich immer wieder grundsätzlichen mit dem Tod auseinander
setzt. In diesem Sinne sei es, so frivol dies klingen möge, doch immer auch
eine Chance, wenn man mit dem Tod konfrontiert werde, denn: «Jedes Leben
fängt an, jedes Leben hört auf. Wenn man wirklich erfahren hat, dass das
Leben schon heute zu Ende sein kann, nimmt man es auch anders wahr.» Die
entstandene Leere hätte auch anders entstehen können -- wenn Dagmar erkrankt
oder verunfallt wäre. Diese Vorstellung mache es ihr leichter, Dagmars Tod
von der Tat und vom Täter zu trennen und sich ganz allgemein mit dem Sterben
zu befassen -- auch mit der Frage, wie weit «der Tod eines Menschen auf
seinem Lebensweg vorbestimmt ist». Auf diese Frage habe sie, vom Kopf her,
allerdings noch keine Antwort gefunden. Sie habe bloss «die gefühlsmässige
Annahme», dass es so sein könnte. Der Tod sei für sie jahrzehntelang
«eigentlich fremd» gewesen, sagt sie, nun sei er ihr vertraut. Doch dies
heisse nicht, dass sie Dagmars Tod nun «schicksalsmässig bejahe» -- nein:
«Das tue ich noch immer nicht. Dagmar lebt weiter mit uns, in unseren
Gefühlen, in unseren Gedanken.»

Edward Hewel nickt: «Nun, zehn Jahre später, bin ich befreit von der
eigentlichen Mordtat -- davon, wie es passiert ist. Doch sonst ist es, als
wäre es erst gestern geschehen. Ich versuche, das Ganze zu einem Punkt zu
bringen. Aber ich habe noch nicht herausgefunden, wie mir dies gelingen
könnte.»


Ob die Zeit nicht Wunden heilt? Ellen Hewel verneint -- und zitiert Rainer
Maria Rilke: «Die Zeit tröstet ja nicht, wie man oberflächlich sagt, sie
räumt höchstens ein, sie ordnet. Nicht sich trösten wollen über einen
Verlust müsste unser Instinkt sein, vielmehr müsste es unsere tiefe
schmerzhafte Neugierde werden, ihn ganz zu erforschen, die Besonderheit, die
Einzigartigkeit gerade dieses Verlustes, seine Wirkung innerhalb unseres
Lebens zu erfahren, ja wir müssten die edle Habgier aufbringen, gerade um
,ihn', um seine Bedeutung und Schwere, unsere innere Welt zu bereichern.»

Wenn sie dies lese, sagt Ellen Hewel, spüre sie, dass Rilke «den gleichen
Weg» gegangen sei wie sie. Rilke habe selber zwei Kinder verloren, und was
er so einfühlsam beschreibe, sei «aus den gleichen Gefühlen heraus» und «auf
dem gleichen Boden» entstanden. Solche Dichterworte hätten für sie «eine
tiefe Substanz» und ermöglichten ihr eine echte Verarbeitung -- während
Begriffe wie «loslassen» dafür eigentlich nicht taugten.

Im Laufe des Gesprächs wird aber doch spürbar, dass auch der Täter noch
nicht ausgelöscht ist in Ellen und Edward Hewels Köpfen. Sie frage sich doch
immer wieder, sagt sie, wie ein Mensch «so etwas» tun kann: «Niemand wird
doch als Mörder geboren. Was macht ihn dazu? Was für eine Rolle spielen die
Anlagen, die er hat? Wie werden diese durch Erziehung oder Umwelt geformt --
gefördert oder unterdrückt? Was führt dazu, dass jemand aus dem moralischen
Rahmen fällt und zum Täter wird?» Ellen Hewels Erkenntnisse sind
ernüchternd: Die kaputte Umwelt sei einer positiven Entwicklung der Menschen
kaum förderlich, das TV-Programm («mit Krimis auf allen Kanälen») ebenfalls
nicht, und viele Eltern seien keine guten Vorbilder mehr. Sie spricht von
«zu viel Egoismus, zu viel Selbstverwirklichung» auf Kosten der Kinder. Ein
Zurückstecken der eigenen Bedürfnisse sei doch gerade in den ersten
Lebensjahren der Kinder erforderlich.


Die Gesellschaft sei gefordert: «Sie muss dafür sorgen, dass möglichst alle
zu vollwertigen Menschen heranwachsen können -- nicht bloss dafür, Täter bis
an ihr Lebensende sicher zu verwahren.»

Die heutige Leistungsgesellschaft produziere Menschen, die zu Tätern werden
könnten: «Zum Beispiel dort, wo die Kinder und Jugendlichen ausgegrenzt und
aussortiert werden, die nicht mithalten können. Die Menschheit besteht aber
nicht nur aus einer Elite, einer Masse, sondern aus einzelnen Individuen mit
unterschiedlichen Anlagen, Begabungen, Möglichkeiten. In einer einseitig auf
Leistung und Erfolg getrimmten Gesellschaft muss man sich deshalb besonders
jener annehmen, die nicht zur Elite gehören. Jener, die nicht top-schön,
top-intelligent, top-begabt oder top-fit sind. Wo bleiben diese
Ausgegrenzten sonst mit ihren Gefühlen?»

Mit der vom Schweizer Volk unlängst angenommenen Verwahrungsinitiative, die
verwahrte Straftäter nun auf Lebzeiten hinter Gitter bringen soll, haben
sich Hewels nicht anfreunden können. Sie haben die Initiative abgelehnt,
weil sie den -- nach dem Tod ihrer Tochter von den Behörden forcierten --
Gesetzesentwurf als tauglicheren Weg betrachteten, das Volk vor Gewalttätern
zu schützen. Auch eine -- «in gewissen Fällen erforderliche» -- lebenslange
Verwahrung gefährlicher Straftäter sei im Gesetzesentwurf ja vorgesehen.
Nach dem Verbrechen an ihrer Tochter und dem Mord in Zollikerberg seien
Lehren gezogen worden.

Über eine erschwerte Verfügbarkeit von Waffen (der Mörder ihrer Tochter
hatte den Karabiner ohne Probleme in einem Berner Waffengeschäft gekauft)
mögen sich Hewels keine Gedanken mehr machen. In einem Land, in dem jeder
wehrpflichtige Bürger sein Sturmgewehr zu Hause aufbewahre, seien alle
entsprechenden Anstrengungen illusorisch. Und: Wer jemanden umbringen wolle,
könne dies auch ohne Schusswaffe tun. «Deshalb», sagt Ellen Hewel, «muss man
eben dort einsetzen, wo Gewaltbereitschaft im Keim erstickt werden kann:
ganz unten, im Elternhaus, in der Schule -- mit dem Hochhalten von
Grundwerten des Zusammenlebens.» Leider stelle sie im Alltag jedoch das
Gegenteil fest: Dass der gegenseitige Respekt fehle, dass die
Gewaltbereitschaft gerade unter jungen Leuten zunehme. Und dass man vermehrt
riskiere, angepöbelt oder beleidigt zu werden.


«Ich glaube», sagt Ellen Hewel, «dass vermehrt wieder Grenzen da sein
müssen, dass klare Tabus zu gelten haben, dass Begriffen wie Aufmerksamkeit,
Wahrnehmung, Mitgefühl, Rücksicht oder Respekt wieder mehr Bedeutung
beigemessen werden muss.» Und dass man das stille, positive Handeln jener
Leute vermehrt wahrnehmen müsste, die im schrillen Mainstream-Lärm
unterzugehen drohten.

«Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar, man sieht nur mit dem Herzen
gut»: Dieser Satz aus St. Exupérys «Kleinem Prinzen» sagt für Ellen und
Edward Hewel auch in diesem Zusammenhang vieles aus. Und er hat für sie
schon damals, nach Dagmars Tod, vieles zum Ausdruck gebracht. Es ist der
Satz, der über Dagmars Todesanzeige stand.


Nun, zehn Jahre später, wird er in eine Steinplatte eingraviert, die dann
Dagmars Grab zieren soll. Und Dagmar wird Freude daran haben, wenn sie ihn
von irgendwoher sehen kann -- sie, Dagmar, dieses «kraftvolle Mädchen, das
die Welt nach ihrer Echtheit hätte ergründen wollen».

http://www.ebund.ch/


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