Thomas Heger schrieb am Freitag, 1. April 2022 um 06:56:17 UTC+2:
...
> Diagnose ist im übrigen noch etwas anderes als die Anwendung eines
> bilderzeugenden Verfahrens.
>
> Die Diagnose ist erst die Auswertung des Bildes (idR durch einen Arzt)
> mit dem Ziel, die Ursachen für eine bestimmte Krankheit oder sonstige
> Befindlichkeitsstörung zu finden.
Das ist so nicht ganz korrekt.
Das Stellen einer Diagnose ist mitnichten einfach nur das Auswerten
irgendwelcher Bilder, begleitet vom stillen Memorieren eines Symptomkatalogs,
mit darauf folgender Auswahl einer möglichst gut dazu passenden Krankheitsentität.
Falsch!
Wer glaubt, dass in der (wissenschaftlich arbeitenden) Medizin so vorgegangen
wird, hat keine Ahnung und übersieht, dass das Stellen einer Diagnose
ein strukturierter Prozess ist, zu dem
(1) die Anamnese (Krankheitsvorgeschichte) ca. 50% beiträgt
(2) Untersuchungen (bildgebende Verfahren, Labor u.a.) ca 30% und
(3) das Instrument der sog. "Differentialdiagnose" ca 20%.
Am besten versteht man das bei der radiologischen Vorgehensweise, die bei der
Auswertung von RÖ-Bildern streng einem (in britischen Krankenhäusern
angewandten) Algorithmus folgt: den sog. 4Ds.
Wenn man in England in der Radiologie auf dem "heißen Stuhl" sitzt, werden
dem Arzt innerhalb von 2 Stunden ca. 50 Röntgenbilder in schneller Reihenfolge
zum Befunden vorgelegt, danach bist Du fertig und machst erst mal Pause.
Also wie funktioniert das Befunden nach den 4Ds?
Sie bedeuten:
(1) DETECT
(2) DESCRIBE
(3) DIFFERENTIATE
(4) DIAGNOSIS
(1) DETECT
Für den Betrachter ist das Bild zunächst ein Gemisch aus geordneten und
ungeordneten Strukturen. Die erste Aufgabe heißt: Auffinden von Abweichungen.
Gibt es im Chaos Inseln der Odnung?
Gibt es in Ordnungsstrukturen abweichende, ungeordnete Formationen?
Hier geht's noch nicht um "pattern recognition", sondern nur ums Wahrnehmen.
(Streng dialektisch, wenn man so will.)
(2) DESCRIBE
Ein enorm wichtiger Prozess, auf den gerade auch in Prüfungen Wert gelegt wird:
das Verbalisieren.
Erst dadurch wird es dem Neuronalen Netz möglich, Entitäten zu bilden, mit denen
es cortical "jonglieren", also Beziehungen zwischen abstrakten Begriffen wie
Krankheiten herstellen kann.
Das ist wie das "Mathematisieren" einer Textaufgabe, wo man die angegebenen
Bedingungen versucht, in eine Gleichung zu fassen.
Ohne Verbalisierung keine Diagnose!
(3) DIFFERENTIATE
Hier kommt nun die eigentliche Aufgabe auf das Neuronale Netz zu:
"pattern recognition".
3.1 Divide
Unterscheide, welche Auffälligkeiten wichtig bzw. bedeutsam sind.
Sortiere als unwichtig Erkanntes aus und begründe dies!
Memoriere noch einmal bewusst die Auffälligkeiten!
Formuliere einen klaren Befund!
3.2 Differential diagnosis
Setze das Gefundene mit Dir Bekanntem in Beziehung und formuliere bewusst,
wenn etwas neu oder unbekannt ist.
Hier kommen die "Ausschlussdiagnosen" ins Spiel.
Mit allen sonst noch zur Verfügung stehenden Befunden (Anamnese, Labor etc.)
erstelle einen Katalog in Frage kommender Diagnosen.
(4) DIAGNOSIS
Ordne den "Diagnosekatalog" nach Wahrscheinlichkeiten unter Berücksichtigung der
Prävalenz. "Seltenes ist selten, Häufiges ist häufig".
Wo möglich, versuche einen positiven Vorhersagewert (ppV) mittels Bayesschem
Theorem zu errechnen.
Dann lege Dich fest! Mit allen Konsequenzen! Keine "absichernde Defensiv-Medizin".
Dass gerade der Baessche Ansatz kein Phantasiegespinst oder Wunschdenken ist,
zeigt das Screening auf Mamma- oder Prostatacarcinom inzwischen eindrücklich.
Hier hat sich in der Aus- und Fortbildung der Ärzte einiges getan und die Zeiten,
wo ein Dreisatz oder eine subjektive Schätzung für alles genügte, sind endgültig vorbei.
(Das Web mit seiner fast instantan zur Verfügung stehenden Information macht
hier enormen Druck).
Wenn heute eine 50-jährige Frau mit einem positiven Mammographie-Befund in
eine Arztpraxis kommt und beunruhigt fragt:
"Wie hoch ist denn jetzt mein Risiko, dass ich tatsächlich Brustkrebs habe?",
wird ihr die überwiegende Mehrheit der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte
heute korrekt antworten:
"Ohne weiterführende Untersuchungen liegt Ihr Risiko bei ca. 9%."
Ähnliches trifft auf das Prostata-Screening zu.
Gerade der Bayessche Ansatz hat in den vergangenen 20 Jahren Eingang in
die diagnostische Medizin gefunden und Personen wie Gerd Gigerenzer kommt
hier ein großes Verdienst zu.
Grüße U.
>
> TH