Google Groups no longer supports new Usenet posts or subscriptions. Historical content remains viewable.
Dismiss

Wissenschaft und ideologische Exponierung

19 views
Skip to first unread message

Rudolf Sponsel

unread,
Oct 11, 2017, 9:51:57 AM10/11/17
to
Die Grundfrage, die sich hier stellt, lautet: ist die Wissenschaft von
ideologisch Exponierten minderer Qualität? Und falls, wie könnte das
gezeigt werden? Ich mag z.B. Jaensch nicht und ich lehne den
Natitionalsozialismus radikal ab. Trotzdem glaube ich nicht, dass
ideologische Verblendung Wissenschaftlichkeit so stark mindert, dass
eine allgemeine und vollständige wissenschaftliche Entwertung
gerechtfertigt wäre. Man muss den Einzelfall und das jeweilige
Aussagegebiet beachten.

Wie wird das hier gesehen?

rs

Sina Da Ponte

unread,
Oct 11, 2017, 11:11:39 AM10/11/17
to
Den größten Unterschied markiert sicher die Zugehörigkeit zum jeweiligen
Wissenschaftssektor. Unterteilt man ganz grob in Natur-, Human- und
Geisteswissenschaften, so scheint mir damit eine grobe Richtung
ansteigender ideologischer Anfälligkeit gegeben und damit auch ein
Kriterium für entsprechend mindere Qualität.

Das heißt nun aber nicht, daß z.B. die NW oder die Humanwiss. (wie etwa
die Medizin und verwandte Bereiche) gar nicht ideologieanfällig wären.
Das lehrt hinreichend zum Beispiel der Fall der Rassentheorien im 19.
und v.a. frühen 20. Jhd.: Dabei wurden auch zahllose empirische Data
i.S. der entsprechenden Ideologie "interpretiert". Was dabei rauskam,
war /bullshit/.

Mir will es so vorkommen, als sei auf jeden Fall die Entlarvung umso
leichter möglich, als die prinzipielle Anfälligkeit geringer ist. In der
Physik oder Chemie ist sie sicher sehr gering -- entsprechend hoch ist
die Entlarvbarkeit. Guckt man sich am anderen Ende des Spektrums um --
vielleicht in Volkswirtschaftslehre (als Grenzwiss. zwischen Empirik und
GW) und Philosophie (als unempirischer Wissenschaft) so ist dort die
Anfälligkeit hoch und die Entlarvbarkeit viel schwieriger.

Das Kriterium für Entlarvbarkeit kann dann nur die Schnittmenge der
einigermaßen geteilten innerwissenschaftlichen Überzeugungen sein, also
das, was die große Mehrheit der Fachwiss. am methodischen Kanon nicht in
Frage gestellt wissen möchte.

Dafür ein Bsp.: Auf die Frage, warum z.B. die sog. "Evolutionäre
Erkenntnistheorie" *innerhalb* der Philosophie (also unter
Fachphilosophen und in entsprechenden Journalen und überhaupt relevanten
Zitationen) so gut wie keine Verbreitung findet, außerhalb ihrer jedoch
in gewissen Kreisen durchaus eine bestimmte Resonanz genießt, kann die
Antwort erteilt werden, daß Erkenntnistheorie eine durchaus
*anspruchsvolle* philosophische Teildisziplin ist, die man nicht einfach
so "nebenbei" betreiben kann, sondern dazu bestimmte Kenntnisse und
kompetenzen haben muß.
Deshalb fällt es nicht so arg auf -- also z.B. in nicht-philosophischen
Kreisen (aber vielleicht solchen, die da bestimmte Ambitionen hegen) --,
wenn unter dem Label der EE Dinge als "erkenntnistheoretisch relevant"
verkauft werden, die unter Fachphilosophen (bestenfalls) eher als
Grillen von Dilettanten gelten oder (schlechtestenfalls) eben z.B. als
Ideologieproduktion angesehen werden. Das veranschauliche z.B. eine
entsprechende Einlassung von Franz von Kutschera:

"Wir können unseren kognitiven Apparat nicht von einem externen
Standpunkt aus betrachten und so tun, als verwendeten wir ihn
nicht auch in der Erkenntnistheorie. [...] Die Berechtigung
dieses Vorwurfs sei durch ein Zitat belegt. Riedl sagt ..., die
Geschichte der philosophischen Erkenntnistheorie zeige, daß sich
Vernunft nicht durch sich selbst erhellen lasse. Hier weise die
Biologie, speziell die E[volutionäre] E[rkenntnistheorie],
den Ausweg - /offensichtlich ist sie also nicht vernünftig/. Der
Biologe, so Riedl, 'besitzt jenen Standpunkt, der es ermöglicht,
die Vernunft von außen her zu begründen. Dies ist die evolutio-
näre Erkenntnistheorie'. Und weiter: 'Wir beziehen damit zur
Erforschung des Erkenntnisprozesses einen Standpunkt außerhalb
unseres eigenen Erkenntnisvorgangs; einen biologisch objektiv
beschreibbaren'."

[Franz von Kutschera: /Die falsche Objektivität/; Berlin,
New York 1993; S. 117]

---> Was einem philosophischen Laien vollkommen banal vorkommen mag, ist
dem gewieften philosophischen Sprach- und Erkenntnistheoretiker als
/bullshit/ sofort durchschaubar! Man könte es auch an der
"Passungsthese" druchsichtig werden lassen: Kein Philosoph mit allen
Tassen im Schrank käme auf die Idee, von symbolischen Formen
Präformiertes wie Theorien an der Realität [sic] auf Passung geprüft
auszuweisen! Denn wie ginge denn das -- Äpfel und Birnen passen nun mal
nicht durch's selbe Loch im Kategorienmuster, sowenig wie man ohne
Rekurs auf symbolisch Vorgestanztes Formeln oder Aussagen mit
Geltungsanspruch auf Wahrheit und Richtigkeit am So-Sein der Dinge
prüfen könnte! Und /ergo/ greift man entweder nicht auf Realität zu im
Proof (sondern bspw. auf die Wirklichkeit/Welt i.S. Kants, Husserls oder
Wittgensteins, die eben je immer schon symbolisch präfiguriert ist
etc.pp.); oder man prüft eben gar nix, sondern tut bloß so ...
Der Rattenschwanz der elementaren Verfehlungen bei der
unphilosophischen, sich philosophisch vielmehr nur künstlich
aufspreizenden EE ist so gigantisch, daß der Ideologieverdacht innerhalb
der Zunft beinahe schon als Konsens gelten darf (warum interessieren
sich denn kaum "richtige Philosophen" dafür?). Man sieht allerdings
zugleich, daß das "draußen" wenig Wirkung zeitigt: Dort kann die
Ideologie munter fortwuchern und sich ausbreiten ... -- Und woran
liegts? Natürlich daran, daß es epistemologische Standards gibt
(übrigens auch in wahrheitstheoretischen Fragen, die aber z.B. Herr
Vollmer [der sich selbst -- warum auch immer -- als Philosoph versteht]
nicht zu kennen scheint und deshalb in diesem Gebiet mit einem
unsagbaren Dilettantismus zu glänzen weiß); es liegt also v.a. daran,
daß es gewisse fachspezifische Standards gibt, die aber "draußen" wenig
bekannt sind und deswegen bei der Beurteilung in Nicht-Fachkreisen auch
zu wenig Berücksichtigung finden.

Und schon ist eine hübsche Ideologie gebacken, die als solche aber so
einfach gar nicht für jederfrau zu identifizieren ist, weil dazu eben
die speziellen Fach-Kompetenzen (hier philosophiosche und insbesondere
erkenntnis- und wissenschaftstheoretische fehlen. Und daß die EE nicht
einfach nur eine verfehlte Pseudo-"Erkenntnistheorie" ist, sondern
tatsächlich Ideologie, erhellt natürlich durch den Umstand, daß sich
ihre Anhänger (auf der Produktionsseite) gegen eine jegliche
fachspezifische Kritik immun machen, obwohl diese nun schon seit über
dreißig Jahren kontinuierlich geübt und mit substantiellen Argumenten
unterfüttert wird.

Da dabei insbesondere die NW [sic] namens 'Biologie' berührt ist (indem
sie sich völlig ungerechtfertigterweise zur erkenntnistheoretischen
/conditio sine qua non/ aufschwingen möchte): Man stelle sich vor, es
liefe umgekehrt: Also Philosophen gingen her und würden in den
Kern-Kompetenzfeldern der biologischen Wissenschaften so einen
haarsträubenden methodischen Unfug veranstalten, wie es diverse Biologen
in Sachen EE auf philosophischen Feldern tatsächlich tun ...
... das Geschrei wäre unüberhörbar! Und es rasselte Philosophenschelte
ohne Ende.
Warum ist das im realen (also umgekehrten) Fall nicht so? -- Antwort:
weil längst ein ideologisches Feld bereitet ist, bei dem Philosophen(und
allgemein GW-)schelte zwar /en vogue/ ist, aber kaum solche der NW (im
Zeitalter forcierten Neoliberalismus wäre NW-Schwelte undenkbar, derweil
GW-Schellte ja zwingend notwendig ist, da es das allgemeine
Bildungsniveau auf Fachidiotentum [in allen Professionsfragen] und
ansonsten Totalverblödung abzusenken gilt). Und exakt mit diesen
Mechanismen wird seit eh und je gearbeitet, also seit Ideologie in der
Menschheitsgeschichte statthat ... -- Es läuft immer über eine
De-Legitimierung des jeweiligen Kontrahenten oder Konkurrenten (um
Deutungshoheit, Fördergelder, Fleischtöpfe usw.) bei gleichzeitiger
Ausnutzung von aktuellen Prestige-Hochs in der allgemeinen Wahrnehmung.
Will sagen: das hat zumeist weniger mit tatsächlich sachlichen
Auseinandersetzungen zu schaffen als vielmehr mit
Meinungsstromnutzungen. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist neben
anderem schlicht ... die Wissenschaftlichkeit.

Viele Grüße

Sina

--
"Some philosophers of physics are philosophers of physics because pure
philosophy gives them vertigo."

[Laura Ruetsche in 'The Oxford Handbook of Philosophical Methodology']

Manfred Feodor Koerkel

unread,
Oct 18, 2017, 2:25:16 PM10/18/17
to
Sina Da Ponte expressed:
>
> ---> Was einem philosophischen Laien vollkommen banal vorkommen mag, ist
> dem gewieften philosophischen Sprach- und Erkenntnistheoretiker als
> /bullshit/ sofort durchschaubar! Man könte es auch an der
> "Passungsthese" druchsichtig werden lassen
.....

Was für den "gewieften philosophischen Sprach- und
Erkenntnistheoretiker" kein Bullshit ist, lässt sich hier
nachvollziehen: http://grausig.info/node/17

--
"Ich bin vielleicht 'n Bastard, aber ich bin kein verdammter
Bastard!"
http://feodor.de
http://grausig.info

Manfred Feodor Koerkel

unread,
Oct 19, 2017, 5:42:45 AM10/19/17
to
Sina Da Ponte expressed:
> Am 11.10.2017 um 15:51 schrieb Rudolf Sponsel:
>
>> Die Grundfrage, die sich hier stellt, lautet: ist die Wissenschaft
>> von ideologisch Exponierten minderer Qualität? Und falls, wie könnte
>> das gezeigt werden? Ich mag z.B. Jaensch nicht und ich lehne den
>> Natitionalsozialismus radikal ab. Trotzdem glaube ich nicht, dass
>> ideologische Verblendung Wissenschaftlichkeit so stark mindert, dass
>> eine allgemeine und vollständige wissenschaftliche Entwertung
>> gerechtfertigt wäre. Man muss den Einzelfall und das jeweilige
>> Aussagegebiet beachten.

Bei der Erwähnung des Natitionalsozialismus wurde der Begriff
Ideologie in seiner üblichen Bedeutung gebraucht.

>> Wie wird das hier gesehen?
>
> Den größten Unterschied markiert sicher die Zugehörigkeit zum
> jeweiligen Wissenschaftssektor. Unterteilt man ganz grob in
> Natur-, Human- und Geisteswissenschaften, so scheint mir damit
> eine grobe Richtung ansteigender ideologischer Anfälligkeit
> gegeben und damit auch ein Kriterium für entsprechend mindere
> Qualität.
>
> Das heißt nun aber nicht, daß z.B. die NW oder die Humanwiss. (wie
> etwa die Medizin und verwandte Bereiche) gar nicht
> ideologieanfällig wären. Das lehrt hinreichend zum Beispiel der
> Fall der Rassentheorien im 19. und v.a. frühen 20. Jhd.: Dabei
> wurden auch zahllose empirische Data i.S. der entsprechenden
> Ideologie "interpretiert". Was dabei rauskam, war /bullshit/.
[...]
> Der Rattenschwanz der elementaren Verfehlungen bei der
> unphilosophischen, sich philosophisch vielmehr nur künstlich
> aufspreizenden EE ist so gigantisch, daß der Ideologieverdacht
> innerhalb der Zunft beinahe schon als Konsens gelten darf (warum
> interessieren sich denn kaum "richtige Philosophen" dafür?).

Hier wurde der Begriff Ideologie (wie schon öfters) aber deutlich
überdehnt. Konsequent zu Ende gedacht, könnte es in der Philosohie
dann eigentlich nur "Ideologie" geben. Diese Form des
Ideologie-Geredes ist sinnfrei.

Texte von Sina Da Ponte waren bislang keine gute Quelle der
Information über die EE. Ich rate jedem dazu, sich selbst zu
informieren:

Literaturangaben in http://feodor.de/node/22

--
"So wie Plato einst gesagt hat: Scheißegal wie man dort hingelangt,
solange man dort hingelangt!"
http://feodor.de
http://grausig.info

W23

unread,
Apr 29, 2022, 10:05:48 PM4/29/22
to
Das Problem mit der Wissenschaftlichkeit ist, daß es Leute gibt, die aus der scheinbaren Objektivität der empirischen Methoden sozusagen die "höheren Weihen" eines allgemeingültigen Wissens und einer Vernunft "ansich" ableiten wollen. Wissenschaft als Religionsersatz, weil die Lücke der fehlenden Autoritäten seit der Aufklärung im Bildungsbürgertum irgendwie gefüllt werden muß. Würde das wissenschaftliche Unternehmen vielmehr als nützliche Technik betrachtet werden und weniger als Inbegriff von Wahrheit und Erkenntnis, dann gäbe es auch keine ideologische Verwirrung. Dann kann man sich auf die praktische Realität von "Körpern" in der Naturwissenschaft einigen, die in Zeit und Raum meßbar sind, ohne daß Zeit und Raum als objektive Realitäten fungieren. Und wo es um die Bedeutung von Worten geht, wie in den Geisteswissenschaften, fällt auch der Zwang zur Objektivität weg, weil die Jllusion aufgegeben wurde, Sinnlichkeit und Denken mit Brechstange zusammenzuschweißen. Ohne das relationslose, vom Subjekt unabhängige Wissen "ansich" fällt auch eine Gegenüberstellung von Ideologie und Wissenschaft weg, weil in keinem Fall ein Anspruch auf sicheres allgemeingültige Wissen erhoben werden kann. Dann kommt die Philosophie wieder zu ihrem angestammten Recht, über den Dingen zu stehen, allerdings nicht in einem dogmatischen Sinn der Bestimmung über ein absolutes Wissen, sondern, da es immer und überall um Interessen und Zwecke geht, in einem ethischen Sinn, als der praktische Teil der Philosophie. Allgemeine Geltung legitimiert sich dann durch Zustimmung und Anerkennung, also das demokratische Modell. Der Nutzen der Wissenschaft wird als Wert für die Gesellschaft vor einem moralischen Forum entschieden. Das ist dann eine ganz andere Diskussion. Dann hört sich auch Gewürge außerhalb des eigenen Erkenntnisprozesses einen "biologisch objektiv beschreibbaren" herauszuzaubern. Einfach nur aufhören, "den Geltungsanspruch auf Wahrheit und Richtigkeit am So-Sein der Dinge zu prüfen". Der hirnlose Realismus in sämtlichen Varianten ist die Seuche, die schlimmer ist, als der verblendete Idealismus in der spekulativen Metaphysik es war. Lyotard vernimmt hinter dem "allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma der Umfassung der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen" (Markus Gabriel, der Terrorist). Die objektive Realität ist ein Garant der Macht, weil sie im Glauben der breiten Bevölkerung in vieler Hinsicht für Legitimation sorgt, sozusagen als Basis der Urteile, wo überhaupt nichts "neutral" sicher, sondern eher fragwürdig ist.
0 new messages