Sina Da Ponte
unread,Apr 22, 2013, 10:02:26 AM4/22/13You do not have permission to delete messages in this group
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Für alle, denen es nicht nur um eine Trivialisierung wiss. Probleme
durch pseudowiss. Fernsehsendungen und Wikipedia-Zitierungen geht, hier
mal der Artikel /Denken/ aus HWdPh.
Daß er so lang ist, liegt einerseits am Gegenstand des Artikels,
andererseits auch an der Anlage des Werkes, aus dem er stammt. Ich gebe
zu, manchen Abschnitt für entbehrlich zu halten -- aber weil das
letztlich eine subjektive Zensurierung gewesen wäre, hab' ich dann doch
alles eingefügt***. Ich bitte also, um allen möglichen Rezipienten
gerecht werden zu können, um Nachsicht für die so entstandene Länge
dieses postings. Desweiteren bitte ich ebenso um Nachsicht dafür, daß in
diesem Artikel wenig zur Position *modernerer* analytischer Philosophen
zu finden ist (die "klassischen" sind da) -- das ist natürlich auch dem
Erscheinungsjahr dieses Artikels geschuldet, das HWdPh ist ja
bekanntlich ein Werk gewesen, daß über Jahrzehnte (ca. alle drei Jahre
ein Band) hinweg erschien; und 'Denken' ist in Band 2 zu stehen gekommen.
Ansonsten natürlich viel Spaß ...
***aus diesem Grund habe ich auch alle Anmerkungen mit aufgenommen;
somit steht allen Interessierten zum Thema nun auch eine recht
umfängliche philosophische Literaturliste zur Verfügung.
Denken
I. – A. «Nur die Philosophie ist das freie, unbeschränkte, reine D.
... Die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte des Gedankens»
[1]. «Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst
widerspreche. ... Sich einen Gegenstand denken und einen Gegenstand
erkennen, ist also nicht einerlei» [2]. «Die Wissenschaft denkt nicht.»
«Das D. ist ein Erhören, das erblickt» [3].
Diese Zitate aus HEGEL, KANT und HEIDEGGER zeigen die Notwendigkeit
zu klären, was jeweils unter D. gedacht wird, wenn man die geschichtlich
sich wandelnde, aber immer auch von ihrer Tradition bestimmte Sprache
der Philosophie und damit ihr D. und ihre Gedanken verstehen will. Oft
knüpfen sich umfassende Theorien an die jeweilige Bedeutung von D.; oft
werden aber nur auch schon umgangssprachlich gegebene Bedeutungen von D.
festgehalten, begrifflich gefaßt und in der philosophischen Sprache
verwendet. Die Erklärung G. F. MEIERS, «das Wort, denken, brauchte man
nicht, denn es will nichts weiter sagen, als bewußtseyn» [4] ist ein
Extrem. D. ist sicher ein Grundwort der philosophischen Sprache.
Aber es ist kein von der Philosophie geprägter Terminus wie etwa
Ideologie, sondern ein Grundwort auch der Umgangssprache, das schon in
ihr in vielfachem Sinn gebraucht wird. Wie die deutschen Wörterbücher
verzeichnen, bedeutet D. nicht nur: «Vorstellungen mit Bewußtsein
haben», sondern auch «sich erinnern», «nachdenken», «Begriffe bilden»,
«urteilen», «gesinnt sein», «Absicht haben», «vorhaben», «willens sein»
usw. [5]. Diese Vieldeutigkeit kann philosophische Relevanz haben, etwa
die These stützen, auch der Wille habe wie das Gefühl und die Erinnerung
des Menschen, «seine Wurzel im D.» [6].
Andererseits sind aber auch die philosophischen Begriffe des D. in
die Umgangssprache eingegangen: Die genannten Bestimmungen des D. als
«Bewußtsein» oder als «Vorstellungen mit Bewußtsein haben» stammen
offensichtlich aus der Philosophie Descartes'. Wie die deutsche
Schulphilosophie seiner Zeit steht auch KANT in dieser cartesianischen
Tradition, wenn er erklärt: «Der Mensch indem er sich seiner bewußt (ihm
selbst Object) ist, denkt» [7].
Da Kants Sprache gerade im Begriffsfeld von D. die bisherige
Tradition aufgenommen und zum Teil umgeprägt, aber auch nachhaltig und
bis zur Gegenwart hin das philosophische D. und Sprechen bestimmt hat,
soll sein einschlägiger Sprachgebrauch, nicht schon seine Theorie übers
D., einleitend vorgestellt werden, um die anstehende
begriffsgeschichtliche Aufgabe zu präzisieren. Wenn D. für ihn «die
Vorstellung seiner selbst mit Bewußtsein» [8], also Selbstbewußtsein,
besagt, dann sind auch die Arten unserer Erkenntnis, die Kant in seiner
Logik [9] nach dem Grad ihres «objektiven Gehaltes» unterscheidet, dem
D. zu subsumieren, sofern sie Selbstbewußtsein einschließen, also
wenigstens: «mit Bewußtsein etwas kennen, d.h. erkennen (cognoscere)»,
«etwas verstehen (intelligere), d.h. durch den Verstand vermöge der
Begriffe erkennen oder concipiren», «etwas durch die Vernunft erkennen
oder einsehen (perspicere)» und «etwas begreifen (comprehendere), d.h.
in dem Grade ... erkennen, als zu unserer Absicht hinreichend ist». Da
Kant die niedrigsten Grade der Erkenntnis, d.h. «vorstellen
(repraesentare)», «wahrnehmen (percipere)», «etwas kennen (noscere)»,
hier auch den Tieren zuschreibt, dürften sie wohl nicht dem D.
zuzuordnen sein, zumal er das spontane Erfassen des Denkbaren
(«cogitabile») vom sinnlichen, rezeptiven Aufnehmen des von den Dingen
zu Gebenden («dabile») oder vom «Spürbaren» unterscheidet [10].
Traditionsgemäß bestimmt Kant die Leistung des D. auch dadurch, daß es
im Unterschied zur sinnlichen Anschauung aufs Allgemeine geht: «Etwas
sich durch Begriffe d.i. im allgemeinen vorstellen, heißt denken» [11].
Doch brauchen die genannten Arten des Erkennens wie Wahrnehmen
(s.d.) oder Verstehen (s.d.), obwohl sie zum Begriffsfeld von D.
gehören, im folgenden nicht thematisch behandelt zu werden, wiewohl sich
mitunter Überschneidungen nicht vermeiden lassen. Das gilt vor allem für
die zentral zum Begriffsfeld von D. gehörenden Ausdrücke urteilen (Art.
Urteil) und schließen (s.d.) bzw. folgern (Art. Folgerung), denn,
wie auch Kant erklärt, «geschieht alles D.» durch «Begriffe, Urteile und
Schlüsse» [12].
Die Unterscheidung dieser drei Tätigkeiten des Intellekts, nämlich
Begriffsbildung, Urteilen, Schließen, geht über die Scholastik auf
Aristoteles zurück. Kant konnte alle drei als D. bezeichnen, weil nach
einer Bestimmung der Schulphilosophie D. (cogitatio) «oft für jede
Tätigkeit des Intellekts gebraucht wird» [13]. «Eigentlich» – so heißt
es bei MICRAELIUS – bezeichnet D. «das Erforschen der Wahrheit aus
vielem durch Hin- und Hergehen» (inquisitio veritatis per discursum ex
multis). Diese «eigentliche Bedeutung» von D. als «discurrere» oder
«ratiocinari» – beides gebrauchen die Schulphilosophie und die ältere
Scholastik synonym – wird auch in ZEDLERS Universallexikon (1734)
vermerkt: «D. ... bedeutet eigentlich nach dem Griechischen durch Zu-
und Abnehmen eine gewisse Summe finden, wie im Rechnen geschieht; es
heißt aber auch aus etlichen gewissen Sätzen einen Schluß machen» [14].
KANT hat – vermutlich als erster – diskursives und schließendes D.
(discursus und ratiocinatio) terminologisch voneinander abgehoben:
ratiocinatio bezeichnet den Schluß [15], also die dritte Tätigkeit des
Intellekts; «die diskursive Erkenntnis» «durch Begriffe, mithin auch
durch lauter Prädikate», also die traditionell zweite Tätigkeit des
Intellekts, «heißt D.» [16].
Kants Schlüsselstellung im philosophischen Sprachgebrauch von D.
kann endlich durch folgende ungewöhnliche Bemerkung unterstrichen
werden: «Das D. ist ein Sprechen und dieses ein höhren» [17]. Während
der erste Teil dieses Satzes auf die einschlägige traditionsreiche Lehre
Platons verweist, kann zu seinem zweiten Teil, in dem dieses (innere)
Sprechen nicht nur als durchs Hören auf die Sprache ermöglicht, sondern
selber als Hören bezeichnet wird, nur bemerkt werden, dass er nicht von
Heidegger, sondern von Kant stammt.
Wie Kants Sprachgebrauch von D. die lateinische Terminologie
voraussetzt, so verweist der ältere Gebrauch des deutschen Wortes D.
oder gedenken oft auf die entsprechenden lateinischen oder griechischen
Wörter. Dem Satz MEISTER ECKHARTS: «Got gedenket niht dan sin wesen»,
entspricht seine lateinische Formulierung: «Deus ... non cogitat nisi
suum esse» [18]. Und wenn er im Rahmen der aristotelischen Einteilung
der Kräfte oder Teile der Seele schreibt: «Ein ander kraft ist in der
sêle, dâ mite si gedenket» [19], so verweist hier D. auf griechisch
noein. Nach GRAFF entspricht althochdeutsch dankjan, denkjan primär dem
lateinischen cogitare, aber es dient auch zur Übersetzung von meditari,
considerare, deliberare usw. [20]. WULFILAS Bibelübersetzung gebraucht
gotisch Þagkjan für griechisch ßoyleúestai, logizestai [21].
Was in solcher Weise schon die Sprachgeschichte nahelegt, dem Sinn
der griechischen und lateinischen Entsprechungen zu D. nachzugehen, soll
im folgenden im Abzielen auf eine philosophische Begriffsgeschichte
geschehen. Zwar könnte diese durch die Frage bestimmt sein, ob sich in
der langen Geschichte der Unterscheidung des D. von sinnlicher
Wahrnehmung nicht eine fortschreitende Differenzierung in der Bestimmung
der Gegenstände des D., seiner Spontaneität und Reflexivität sowie
seines Verhältnisses zum Sprechen und zur Sprache zeigen läßt – ebenso
aber auch eine differenziertere Fassung des materialistischen
Argumentes, daß D. «alle Stufen und Formen der menschlichen höheren
Gehirntätigkeit bezeichnet» [22] –, aber die erste Aufgabe bleibt die
Zusammenstellung des Materials. Der folgende Überblick bleibt
lückenhaft. Besonders das außereuropäische D. über D., aber auch die
einschlägigen Bestimmungen der jüdisch-arabischen Philosophie, können
nicht berücksichtigt werden.
Anmerkungen.
[1] HEGEL, Einl. Gesch. Philos., hg. HOFFMEISTER (31959) 82f.
[2] KANT, KrV B XXVI, Anm. und B 146.
[3] M. HEIDEGGER: Was heißt Denken? (1954) 4; Der Satz vom Grund (1957) 86.
[4] G. F. MEIER: Vernunftlehre (21762) § 154.
[5] Vgl. z.B. CHR. ADELUNG: Versuch eines vollst. grammatischkrit. Wb.
der hochdtsch. Mundart ... (1774); J. und W. GRIMM: Dtsch. Wb. 2 (1860)
s. v. D..
[6] HEGEL, a.a.O. [1] 82.
[7] KANT, Opus postumum. Akad.-A. 22, 48.
[8] a.a.O. 22, 89.
[9] Logik VIII. Akad.-A. 9, 64f.
[10] Opus postumum. Akad.-A. 22, 22f. 28. 32. 90 usw.
[11] Preisschrift über die Fortschritte der Met. Beilagen Nr. 1.
Akad.-A. 20, 325.
[12] Logik V. Akad.-A. 9, 33.
[13] MICRAELIUS: Lex. Philos. (21662, Nachdruck 1966) s. v. cogitatio.
[14] ZEDLER: Universallex. 7 (1734) s. v. D..
[15] Vgl. KANT, Logik § 86. Akad.-A. 9, 133f. und Nova dilucidatio,
Sectio I, Prop. III, Schol. Akad.-A. 1, 391.
[16] Zitatzusammenstellung aus: Preisschrift über die Fortschritte der
Met., Beilagen Nr. 1. Akad.-A. 20, 325 und Proleg. § 46. Akad.-A. 4, 333.
[17] Opus postumum. Akad.-A. 21, 103.
[18] MEISTER ECKHART, Dtsch. Werke, hg. J. QUINT 1, 130, 6–8; dort Anm.
3 der entsprechende lat. Text aus Rechtfertigungsschrift, hg. G. THÉRY,
Dtsch. Werke 1, II, art. 48.
[19] 151, 8.
[20] E. G. GRAFF: Ahd. Sprachschatz oder Wb. der ahd. Sprache 5 (1840)
150ff.: s. v. dankjan, denkjan.
[21] WULFILA-Bibel, hg. W. STREITBERG (41965) Register.
[22] R. KLAPPENBACH und W. STEINITZ: Wb. der dtsch. Gegenwartssprache 1
(1964) s. v. D..
B. – 1. Nach dem Zeugnis des ARISTOTELES haben «die Alten das D.
(to pronein, auch to noein) und das Wahrnehmen (to aistanestai)
gleichgesetzt» [1]. K. v. Fritz zeigt entsprechend in seinen
Untersuchungen über die Worte noys und noein bei HOMER und den
Vorsokratikern die enge Beziehung auf, die für die alte griechische
Sprache zwischen D., Sehen und Hören besteht [2]. Dies gilt für die
Sprache HOMERS [3] wie für XENOPHANES [4], auch noch für HERAKLIT [5]
und EMPEDOKLES [6]. Nach v. Fritz läßt sich die Nähe von D. und
Wahrnehmen trotz Abhebung des D. von der rein sinnlichen Wahrnehmung
dadurch bezeichnen, daß noein zwar nie den (diskursiven) Prozeß des D.
selber meint, wohl aber «als eine Art geistiger Wahrnehmung» aufgefaßt
wird [7].
Den Wendepunkt in der Geschichte der vorsokratischen Philosophie
und den Beginn einer philosophischen Thematisierung des D. kann man bei
PARMENIDES sehen. Dies hat PLATON erkannt, wenn er zwar alle alten
Philosophen und Dichter der Bestimmung von Erkenntnis (epistnmh) als
Wahrnehmung (aisthsis) [8] zustimmen sieht, doch Parmenides allein davon
ausnimmt [9]. Vielleicht könnte man noch auf HERAKLITS Ausspruch
verweisen: xynón esti pasi to proneein (gemeinsam ist allen das D.)
[10]. Doch scheint es Heraklit hier, wenn man den Zusammenhang der
Fragmente B 112 und B 114 hinzunimmt, weniger auf eine Thematisierung
des D. als auf eine Bestimmung von Weisheit anzukommen, die in der
Einsicht in das Gemeinsame des alles durchwaltenden göttlichen Gesetzes
besteht, wobei diese Einsicht in der Weise einer unmittelbaren
Anschauung erfolgt [11]. PARMENIDES lehrt mit aller Schärfe den
Unterschied zwischen der Wahrheit (alnteia) und den Meinungen der
Sterblichen (ßroton dóxai), die keine wahre Gewißheit haben [12]. Als
Weg des Suchens ist allein zu denken (nohsai): opos estin te kai os oyk
esti mh einai («daß Ist ist und daß Nichtsein nicht ist» bzw. «daß
[etwas] ist und daß nicht zu sein unmöglich ist») [13], «denn dasselbe
ist D. und Sein» (to gar ayto noein estin te kai einai) [14]. Die
Verbindung des D. mit dem Sein macht die Möglichkeit von wahrem D. und
d.h. die Möglichkeit, Seiendes auszusagen, aus. So kann über alle
Schwierigkeiten der Interpretation hinweg der umstrittene Abschnitt
verstanden werden: tayton d'esti noein te kai oyneken esti nóhma oy gar
aney toy eóntos, en oi pepatismenon estin, eyrnseis to noein (dasselbe
ist D. und die Ursache des D., denn nicht ohne das Seiende, worin es
sich entfaltet, wirst du das D. finden) [15]. Wie das Seiende nach
Fragment 3 als einzig Denk-Mögliches vor der Instanz des D. bleibt, so
verbürgt hier die Identität des Seienden die Wahrheit des D. [16].
Weicht der Mensch von dieser Identität von D. und Sein ab, so befindet
er sich auf dem Weg der Meinung (dóxa), wo der Irrtum herrscht [17]. In
der Unterscheidung des rechten Weges versteht Parmenides das D. nicht
nur als das unmittelbare intuitive Erfassen des Seins, sondern er war –
nach der Formulierung von v. Fritz – «der erste, der bewußt logisches
Schließen in die Tätigkeit des nóos einbezog» [18].
Anmerkungen.
[1] ARISTOTELES, De anima 427 a 21f.
[2] K. v. FRITZ: Die Rolle des Nus. Nus und Noein in den homerischen
Gedichten; Nus und Noein und ihre Ableitungen in der vorsokratischen
Philos. (1943/45/46), jetzt in: Um die Begriffswelt der Vorsokratiker,
hg. H.-G. GADAMER (1968) 246–363; vgl. die weiterführenden und zum Teil
v. Fritz kritisierenden Abh.: G. PLAMBÖCK: Erfassen – Gegenwärtigen –
Innesein. Aspekte homerischer Psychol. (Diss. Kiel 1959); W. LUTHER:
Wahrheit, Licht und Erkenntnis in der griech. Philos. bis Demokrit. Ein
Beitrag zur Erforsch. des Zusammenhanges von Sprache und philos. d.
Arch. Begriffsgesch. 10 (1966) 1–240.
[3] v. FRITZ, a.a.O. 265ff. 275f.
[4] a.a.O. 288ff.
[5] 299f.
[6] 322f. 332ff.
[7] 265ff.
[8] PLATON, Theait. 151 e ff.
[9] Theait. 152 e 2–5; vgl. v. FRITZ, a.a.O. [2] 304ff. sowie Theol. Wb.
zum NT, hg. G. KITTEL 4 (1942) 947f.
[10] HERAKLIT bei DIELS/KRANZ B 113.
[11] Vgl. v. FRITZ, a.a.O. 297ff.
[12] PARMENIDES bei DIELS/KRANZ B 1, 28–30.
[13] B 2, 2–3, dtsch. nach W. KRANZ in: DIELS/KRANZ, (61951); vgl. U.
HÖLSCHER: Parmenides. Vom Wesen des Seienden (1969) 79f.
[14] B 3.
[15] B 8, 34–36; zur Übersetzung vgl. v. FRITZ, a.a.O. [2] 307ff.
[16] Vgl. HÖLSCHER, a.a.O. [13] 98f.
[17] B 50ff.
[18] v. FRITZ, a.a.O. [2] 315; vgl. LUTHER, a.a.O. [2] 90–119.
2. In seiner Spätphilosophie führt PLATON das Wesen der Sophistik
auf die Aporien der Philosophie des Parmenides zurück [1]. Dadurch daß
Parmenides das D. so strikt an das Sein gebunden hat, wird es
widersprüchlich, vom «Scheinen» (painestai und dokein) und vom
«unwahren» Reden und Meinen (peydh legein h doxazein) [2] zu sprechen,
denn oyte ptegxastai dynaton ortos oyt' eipein oyte dianohthnai to mh on
ayto kat' aytó (es [ist] gar nicht recht möglich, das Nichtseiende für
sich selbst auszusprechen oder davon zu reden oder es zu durchdenken)
[3]. Eine totale Trennung zwischen Sein und Nichtsein als dem Schein
würde alles gleich wahr und gleich falsch erscheinen lassen [4]. Ebenso
verwirft aber Platon genauso entschieden die Identifizierung von
Bewegung und Sein bei den Herakliteern, wonach Wahrnehmung (aisthsis)
und Erkenntnis (epistnmh) dasselbe wären [5], denn wenn alles in
Bewegung ist und nichts beharrt, läßt sich auch nichts benennen und als
etwas aussagen [6]. Vielmehr sieht sich Platon in der Mitte zwischen
beiden [7].
Im Phaidon antwortet er auf die Frage, wann die Seele die Wahrheit
erfasse (póte ... h pyxh ths alhteias aptetai) [8], daß dies nicht durch
den Leib und die sinnliche Wahrnehmung (aisthsis) geschehe, sondern daß
«ihr im Überlegen, wenn überhaupt irgendwo, etwas vom Seienden offenbar
wird» (en to logizestai eiper poy alloti katadhlon ayth gignetai ti ton
onton) [9]. Das Wesen (oysia) einer Sache erkennt man, indem man über
sie nachdenkt (ayto ekaston dianohthnai) [10]. Dies aber vermag am
reinsten, wer «mit dem D. selbst» (ayth th dianoia), ohne irgendeine
sinnliche Wahrnehmung «beim vernünftigen Überlegen» (meta toy logismoy)
hinzuzuziehen, sich einem jeden Ding selbst in seiner Reinheit zuwendet
(ayto kat' ayto eilikrines ekaston), sozusagen ganz ohne den Leib, weil
«der Leib die Seele verwirrt und sie die Wahrheit und vernünftige
Einsicht nicht erlangen läßt, solange er mit ihr Gemeinschaft hat» (os
tarattontos kai oyk eontos thn pyxhn ktnsastai alnteian te kai prónhsin
otan koinonh) [11]. Daher wendet nach Platon die Philosophie die Seele
auf sich selbst zurück, es entsteht so etwas wie ein Selbstbewußtsein,
dadurch daß sie das Seiende nur durch sich selbst denkt, obwohl dieses
Selbstbewußtsein noch nicht modern gedacht ist, sondern an den Ideen
sein ontologisches Maß hat: aythn de eis aythn syllegestai kai
atroizestai parakeleyomenh, pisteúein de mhdeni allo all' h aythn ayth,
oti an nonsh ayth kat' aythn ayto kat' ayto ton onton (sie [die
Philosophie] ermahnt sie [die Seele], sich auf sich selbst
zurückzuziehen und sich zu sammeln und nichts anderem Glauben zu
schenken als nur sich selbst, wenn sie selbst an sich etwas von den
Dingen an ihnen selbst denkt) [12]. Wie die Wahrnehmung es mit der
sinnlichen Vielfalt zu tun hat, so das D. mit den Ideen: kai ta men [ta
polla] dh orastai pamen, noeistai d'oy, tas d'ay ideas noeistai men,
orastai d'oy (und von dem ersteren [den vielen Dingen] sagen wir, daß es
gesehen, nicht aber gedacht wird; von den Ideen aber wiederum, daß sie
gedacht, nicht aber gesehen werden) [13]. In den späten Dialogen kann
Platon das D. (dianoia) als «das innere Gespräch der Seele mit sich
selbst» (entos ths pyxhs pros aythn dialogos) bezeichnen [14]. D.
(dianoeistai) ist dasselbe wie dialegestai, sich unterreden, die Vorform
der Dialektik [15].
Platon gebraucht zwar die Verben, die sich im Deutschen mit denken
übersetzen lassen: noein, pronein, logizestai, weitgehend synonym und
ebenso die entsprechenden Substantive: noys, prónhsis, logismós. Dies
wird deutlich in der Darstellung der verschiedenen Seelenteile und
Lebensweisen in der Politeia und im Philebos: So bezeichnet Platon den
vernünftigen Seelenteil to men o logizetai logistikón ... ths pyxhs (das
Überlegungsvermögen der Seele, wodurch sie überlegt) [16], an anderer
Stelle jedoch en o to pronein eggignetai (worin das D. stattfindet)
[17]. Die entsprechende Lebensweise nennt er to pronein kai to noein kai
logizestai ta deonta (das Bedenken, Einsehen und Überlegen des Nötigen)
[18] oder auch zusammenfassend ton toy noein kai pronein ßion (die
Lebensweise des vernünftigen D.) [19]. Während aber noein und pronein
bei Platon fast völlig auswechselbar sind, gewinnt logizestai eine
eigene Bedeutung, die später in der lateinischen Tradition als
ratiocinari und computare wirksam wird. Platon bestimmt als
Voraussetzung und Vorübung für die Dialektik die Beschäftigung mit den
mathematischen Fächern, weil sie die Seele auf das Gemeinsame und das
Seiende lenken, und er nennt diese Beschäftigung logizestai kai aritmein
(Rechnen und Zählen) [20]. Konsequent gibt Platon daher auch als Mittel
gegen die Täuschung durch Nachahmung an: das Messen (to metrein), das
Wägen (to istanai) und das rechnerische D. (to aritmein, synonym
gebraucht mit to logizestai) [21].
Ausdrücklich und thematisch bestimmt Platon im Liniengleichnis der
Politeia das Verhältnis von dianoia (diskursives D., Nachdenken,
Reflexion) und noys oder nóhsis (Einsicht) genauer [22]. Beide Vermögen
beziehen sich auf den Bereich des Einsehbaren (to nohtoy genos). Während
aber das diskursive D. (dianoia) von Voraussetzungen ausgeht, die es als
bekannt und ohne Beweis annimmt, und so zu Ergebnissen in Geometrie,
Mathematik und ähnlichen Wissenschaften gelangt, berührt (aptetai) die
Einsicht (noys) in den Voraussetzungen auf deren Ursprung zurückgehend
den voraussetzungslosen Anfang des Alls, ist also das D. des Guten
selbst [23]. Wie G. Krüger diesen Abschnitt interpretiert, «hat Platon
unter dianoia das diskursive D. verstanden, das sich in Gedankengängen
(z.B. Beweisketten oder Schlüssen) hin- und herbewegt, während der noys
die Einsicht ist, die als geistige Anschauung ihren Gegenstand als
Ganzes anrührt und bei ihm ruhig verweilt» [24]. Dieses Zurückgehen in
den Voraussetzungen bis zum voraussetzungslosen Anfang nennt Platon
Dialektik [25], und sie wird vollzogen, indem die Seele «die Methode mit
Hilfe der Ideen selbst und durch sie hindurch verfolgt» (aytois eidesi
di' ayton thn metodon poioymenh) [26].
Das Problem der Spätdialoge Platons ist, daß die Ideen von dem
ewigen unwandelbaren eleatischen Sein unterschieden werden müssen, weil
sonst Erkenntnis so wenig möglich ist wie bei bloßer Wahrnehmung der
sinnlichen Vielfalt. Doch lehnt Platon im Dialog Parmenides die mögliche
Auskunft ab, ob «nicht etwa jede dieser Ideen nur ein Gedanke ist» (mh
ton eidon ekaston h toúton nóhma), welcher nur in den Seelen vorkommt
[27]. Denn für Platon ist der Gedanke eben nicht nur Gedanke, sondern
Gedanke von etwas Bestimmtem, «was eben jener Gedanke als an allen
Dingen befindlich denkt, als eine bestimmte Idee» (o epi pasin ekeino to
nóhma epon noei, mian tina oysan idean) [28].
Zusammenfassend mag man sagen, daß Platon die Tätigkeit des D. ganz
in den Ideen begründet sieht, an denen auch diese sichtbare Wirklichkeit
teilhat, weshalb sie vernünftig gedacht werden kann. Der einzelne Mensch
kann das Allgemeine, die Idee, denken, weil durch die Anamnesis ein
Vorwissen in ihm geweckt wird, das ihn die sichtbaren Dinge am Maß der
Ideen sehen läßt.
Anmerkungen.
[1] PLATON, Soph. 236 c ff.
[2] Soph. 236 e.
[3] Soph. 238 c 8f.
[4] Vgl. Soph. 249 a/b.
[5] Theait. 179 c ff.
[6] Theait. 182 c–e.
[7] Theait. 180 e 6.
[8] Phaid. 65 b 9.
[9] Phaid. 65 c 2f.
[10] Phaid. 65 e 2–4.
[11] Phaid. 65 e 6–66 a 6; vgl. J. HIRSCHBERGER: Die Phronesis in der
Philos. Platons vor dem Staat (1932).
[12] PLATON, Phaid. 83 a 7–b 2.
[13] Resp. 507 b 9f.
[14] Soph. 263 e 3–5; vgl. Theait. 189 e 4–190 a 6.
[15] Theait. 189 e 8f.
[16] Resp. 439 d 5f.
[17] Resp. 572 a 6.
[18] Phileb. 21 a 14f.; vgl. Phileb. 11 b 7f.
[19] Phileb. 33 b 3f.; vgl. 21 d 6f., 13 e 4 sowie Resp. 505 b.
[20] Resp. 522 e 2; vgl. den ganzen Abschnitt 522 c–532 b.
[21] Resp. 602 d 6–9.
[22] Resp. 509 d ff.
[23] Resp. 532 b 1.
[24] G. KRÜGER: Anm. zu Platon. Der Staat (1950) 544.
[25] PLATON, Resp. 532 b 4; vgl. 511 b 4.
[26] Resp. 510 b 8f.
[27] Parm. 132 b 3–5.
[28] Parm. 132 c 3f.
3. ARISTOTELES führt die platonische Einteilung des D. weiter. Doch
terminologisch klar ist allenfalls, daß Einsicht und Vernunft (in
Übersetzungen oft auch: intuitiver Verstand), also das Erfassen der
Prinzipien, mit noys oder noein bezeichnet werden (ohne daß noein immer
dies bedeuten müßte): o noys ton arxon (die Einsicht erfaßt die
Prinzipien) [1]. Die anderen Begriffe, die den Vollzug des Denkens
umschreiben: dianoia, logismós, epistnmh meta lógoy, prónhsis, sopia
sowie die entsprechenden Verben, gebraucht Aristoteles nicht spezifisch,
sondern sie umschreiben zumeist alle die schlußfolgernd beweisende Form
des wissenschaftlichen D. bzw. das zielgerichtete Streben der sittlichen
Einsicht [2]. Das diskursive D. hat also seinen Ort in der bestimmten
Wissenschaft, der epistnmh dianohtikn [3] oder mathsis dianohtikn [4]
(«diskursive Wissenschaft» bzw. «diskursives Lernen»), deren Verfahren
in der Zweiten Analytik beschrieben wird, bzw. in den dianoetischen oder
Verstandestugenden [5]. Diese grundsätzliche Trennung zwischen
diskursivem D. und Vernunft mag verdeutlicht werden durch zwei
Bemerkungen von Aristoteles an verschiedener Stelle: Oy gar esti to
peydos kai to alhtes en tois pragmasin ..., all' en dianoia, peri de ta
apla kai ta ti estin oyd' en dianoia (Denn das Falsche und das Wahre
sind nicht in den Gegenständen ..., sondern in der Überlegung, aber bei
den einfachen Dingen und den «Was» gibt es das Wahre und das Falsche
nicht einmal im D.) [6]. H men oyn ton adiaireton nóhsis en toútois peri
a oyk esti to peydos (Das D. der ungeteilten Begriffe gehört zu dem
Gebiet, wo es keinen Irrtum gibt) [7]. Diese Einteilung des D.
unterscheidet sich nicht von der Platons, verschärft sie jedoch
entsprechend dem deutlicheren Wissenschaftsbegriff des Aristoteles.
Dagegen tritt die Bedeutung von logizestai bzw. logismós als
Rechnen [8] entsprechend der geringen Rolle, die die Mathematik bei ihm
spielt, zurück. Aristoteles vergleicht sogar den Wortgebrauch in der
sophistischen Disputierkunst abfällig mit dem Umgang mit Rechensteinen
(kataper epi ton pnpon tois logizomenois) [9]. Eine gewichtigere
Bedeutung erhält logizestai allerdings als Vollzugsweise der sittlichen
Einsicht (prónhsis) in der Abwägung des Richtigen: denn «Wollen und
Abwägen ist dasselbe» (to gar ßoyleúestai kai logizestai taytón), und es
ist Sache des abwägenden Seelenteils (to logistikón) [10].
In De anima untersucht Aristoteles, was das D. ist und wie es
zustande kommt. Und zwar betrachtet er es als ein bestimmtes
Seelenvermögen (dúnamis pyxhs), das Denkvermögen (dianohtikón) neben dem
Ernährungs- und Wahrnehmungsvermögen [11]. Das Denkvermögen, das er auch
«Geist und theoretisches Vermögen» (o noys kai h teorhtikh dúnamis) [12]
oder «Denkseele» (h pyxh nohtikn) [13] nennt, ist eine besondere
Seelengattung, abtrennbar und im Gegensatz zu den anderen Seelenvermögen
leidensunfähig (apates) [14]. Oste mhd' aytoy einai púsin mhdemian all'
h taúthn oti dynatós. o ara kaloúmenos ths pyxhs noys (lego de noyn o
dianoeitai kai ypolamßanei h pyxn) oyten estin energeia ton onton prin
noein (So besitzt es keine andere Natur als diese, daß es Vermögen ist.
Der sogenannte Geist der Seele (ich nenne Geist das, womit die Seele
nachdenkt und vermutet) ist der Wirklichkeit nach, bevor er denkt,
nichts von den Dingen) [15]. Man kann sagen, ohne zu sehr zu
modernisieren, daß Aristoteles D. schon als bloße Tätigkeit des
Bewußtseins begreift und daß er bereits die Spontaneität des D.
beschreibt. D. ist im Gegensatz zur Wahrnehmung von seinem Gegenstand
unabhängig: Dio nohsai men ep' ayto, opótan ßoúlhtai, aistanestai d'oyk
ep' ayto anagkaion gar yparxein to aisthtón (Deshalb hat man das D. in
seiner Gewalt, wenn man will, nicht aber das Wahrnehmen, denn das
Wahrnehmbare muß da sein) [16]. Aristoteles hat die Trennung zwischen
Wahrnehmen und D. konsequent durchgeführt und kritisiert die früheren
Philosophen, die beides gleichsetzen [17]. Während «die Wahrnehmung der
eigentümlichen Gegenstände immer wahr [ist], kann das Nachdenken auch
falsch sein» (h men gar aisthsis ton idion aei alhths, ... dianoeistai
d'endexetai kai peydos) [18]. Denn die Wahrnehmung hat es mit den
äußeren Gegenständen zu tun [19], das D. mit seiner eigenen Tätigkeit.
Deshalb ist D. nun auch zu unterscheiden von Wissen, zumal vieles
zugleich gewußt, aber nicht zugleich über vieles nachgedacht werden kann
[20].
Wie nun das D. zustande kommt und inwieweit es doch von den
Gegenständen affiziert wird bzw. reine Tätigkeit des Denkens selber ist,
untersucht Aristoteles im 4. und 5. Kapitel des 3. Buches von De anima
[21]. Diese Überlegungen führen ihn zu der wirkungsträchtigen
Unterscheidung von noys pathtikós und noys poihtikós [22]. Der noys
pathtikós [23] wäre danach das rezeptive Denkvermögen, das «der
Möglichkeit nach irgendwie die denkbaren Dinge ist» (dynamei pos esti ta
nohta) [24]. Vom noys poihtikós, welchen Ausdruck Aristoteles selbst
nicht wörtlich verwendet [25], gilt dagegen nicht, daß er bald denkt und
bald nicht denkt (oyx ote men noei ote d'oy noei) [26], sondern er ist
reine Spontaneität des D., dauernde Tätigkeit [27].
Nach Aristoteles ist die Funktion des D. das Begreifen des
Allgemeinen und unterscheidet sich dadurch von der sinnlichen
Wahrnehmung. Wahrscheinlich geht diese Vorstellung auf ALKMAION zurück,
für den der Mensch sich dadurch von den Tieren unterscheidet, daß er
allein begreift (xynihsi), während die übrigen Lebewesen zwar
wahrnehmen, aber nicht begreifen [28]. Nach dessen Lehre, die von PLATON
referiert wird [29], bis zu HIPPOKRATES wirkt [30] und die ARISTOTELES
wieder aufnimmt [31], entsteht das D., wenn im unablässigen Strom der
Sinneseindrücke und Erinnerungen ein Ruhezustand eintritt: to gar
hremhsai kai sthnai thn dianoian epistastai kai pronein legómeta (denn
vermöge des Ruhens und Stehens sagen wir, daß die Denktätigkeit etwas
weiß und begreift) [32]. Das Allgemeine (katóloy) kristallisiert sich
aus vielen durch die Erfahrung gewonnenen Gedanken (ek pollon ths
empeirias ennohmaton) [33], und dies Allgemeine ist Gegenstand des
Erkennens und D.: h gar en ti kai taytón, kai h katóloy ti yparxei,
taúth panta gnorizomen (denn wir erkennen alles nur insoweit, als es ein
Eines und Identisches und etwas Allgemeines gibt) [34]; ei men oyn mhden
esti para ta kat' ekasta, oyten an eih nohton alla panta aisthta kai
epistnmh oydenós (wenn es nun nichts neben den Einzeldingen gäbe, wäre
nichts gedacht, sondern alles nur sinnlich wahrgenommen, und es gäbe von
nichts eine Wissenschaft) [35]. Darum gilt es, als das Allgemeine der
sinnlich wahrnehmbaren Dinge (aisthtai oysiai) deren Prinzipien (arxai)
zu suchen [36].
Diese Fragestellung führt Aristoteles in Metaphysik L auf den
ersten Ursprung des bewegten Seins, den unbewegten Beweger [37]. Er
beschreibt diesen Ursprung als das Ziel allen Strebens als D.: arxh gar
h nóhsis (denn der Ursprung ist das D.) [38]. Da aber dieser Ursprung
nicht durch etwas Fremdes, außer ihm Seiendes, bestimmt sein darf, hat
dieses D. sich selbst zum Gegenstand: ayton ara noei, eiper esti to
kratiston, kai estin h nóhsis nonseos nóhsis (sich selbst also denkt es,
wenn es das Oberste ist, und es ist das Denken Denken des Denkens) [39].
Daß der Geist sich selbst denkt und darum in dauernder Tätigkeit ist,
macht ihn zu etwas Göttlichem; der Gipfel des D. ist also für
Aristoteles seine selbstgenügsame Schau in der Theorie: nohtos gar
gignetai tigganon kai noon, oste tayton noys kai nohtón ... kai h teoria
to hdiston kai ariston (Er wird nämlich ein Gedachter, wenn er etwas
berührt und denkt, so daß Geist und Gedachtes dasselbe sind ... und die
Theorie ist das Erfreuendste und Beste) [40].
Anmerkungen.
[1] ARISTOTELES, Anal. post. 100 b 12; vgl. 88 b 36. 85 a 1; Eth. Nic.
(= EN) 1141 a 7f., 1142 a 25f.
[2] z.B. Anal. post. 100 b 5ff., vgl. 89 b 7–9; EN 1139 a 12f. u. 29ff.
[3] Met. 1025 b 6.
[4] Anal. post. 71 a 1.
[5] EN 1103 a 2ff.; vgl. 1139 a 3ff.
[6] Met. 1027 b 25–28.
[7] De an. 430 a 26f.
[8] z.B. Anal. post. 88 b 12.
[9] Soph. El. 165 a 9f.
[10] EN 1139 a 12f.; vgl. 1140 a 29f. 1142 b 1f. 1117 a 21.
[11] De an. 413 b 11ff.; vgl. Buch 2, c. 2 u. 3.
[12] De an. 413 b 24–27.
[13] De an. 429 a 28.
[14] De an. 429 a 15; vgl. 417 b 2ff.
[15] De an. 429 a 21–24.
[16] De an. 417 b 23–25.
[17] De an. 427 a 21f. 427 b 6f.; vgl. Buch 1, c. 2ff.
[18] De an. 427 b 12f.
[19] De an. 417 b 27.
[20] Top. 114 b 34–36.
[21] De an. 429 b 22ff.
[22] De an. Buch 3, c. 5.
[23] De an. 430 a 24f.
[24] De an. 429 b 30; vgl. 429 b 6. 429 a 21ff.
[25] Vgl. De an. 430 a 15.
[26] De an. 430 a 22.
[27] De an. 430 a 17f.
[28] DIELS/KRANZ Bd. 1, zu ALKMAION B 1 a.
[29] PLATON, Phaid. 96 b 5ff.
[30] HIPPOKRATES, De morbo sacro 14, VI 388 L.; vgl. die Belege bei
DIELS/KRANZ Bd. 1, zu ALKMAION A 11.
[31] ARISTOTELES, Anal. post 100 a 3ff.; Phys. 247 b 1ff.; Met. 980 a 27ff.
[32] Phys. 247 b 11f.
[33] Met. 981 a 5f.; vgl. Anal. post. 100 a 6f.
[34] Met. 999 a 28f.
[35] Met. 999 b 1–3.
[36] z.B. Met. XII, 1.
[37] Met. XII, 7, 1072 a 25ff.
[38] Met. 1072 a 30.
[39] Met. 1074 b 33–35.
[40] Met. 1072 b 20–24; vgl. zum Problem insgesamt K. OEHLER: Die Lehre
vom noetischen und dianoetischen D. bei Platon und Aristoteles (1962).
4. Die Stoa betont die von der sinnlichen Wahrnehmung ausgehende
Seite des D. Die Grundbegriffe der stoischen Erkenntnislehre faßt
DIOKLES MAGNES wie folgt zusammen, wobei er auch den Ort des D. und
seinen wesentlichen Bezug zum Sprechen herausstellt: Areskei tois
Stoikois ton peri pantasias kai aistnseos protattein lógon ... katóti o
peri sygkatateseos kai o peri katalnpeos kai nonseos lógos ... oyk aney
pantasias synistatai, prohgeitai gar h pantasia, eit' h dianoia
eklalhtikh yparxonta, o pasxei ypo ths pantasias, toyto ekperei lógo
(Die Stoiker halten es für angemessen, die Lehre von der Vorstellung und
Wahrnehmung voranzustellen, ... weil die Lehre von der Zustimmung sowie
von der Ergreifung und dem Denken nicht ohne Vorstellung besteht. Denn
der Vorstellung kommt der Vorrang zu, dann folgt das Denkvermögen, das
als ein Vermögen der Aussprache dasjenige, was es von der Vorstellung
empfängt, durch das Wort kundgibt) [1].
PHILONS Auffassung vom D. ist geprägt von der Stoa, nur daß er die
göttliche Herkunft der Vernunft betont. Die Denkkraft (dianoia), für ihn
identisch mit der Vernunft (noys), ist teiótaton [bzw. to oyranion] ton
en hmin (der göttliche [bzw. himmlische] Teil in uns) [2]. Sie ist
göttlicher Art, weil Gottes Ebenbild: teoeidhs o antropinos noys pros
arxetypon idean, ton anotato lógon, typoteis (Die menschliche Vernunft
ist gottförmig, geprägt in Übereinstimmung mit der archetypischen Idee,
dem Wort, das über allem ist) [3], und daher ist ihr Ziel, sich in der
Ekstase wieder mit Gott zu vereinen [4].
Für PLOTIN ist D. innerhalb der Seinshierarchie: Eines, Geist,
Seele, Materie (Sinnlichkeit) allein Begriff des Geistes und der Seele
(noys und dianoia). Das Eine ist «Quelle des Lebens, des Geistes,
Prinzip des Seins, Grund des Guten und Wurzel der Seele» [5], ist selber
aber nicht-denkend [6]. Im Geist zerteilt sich das Eine in die Zweiheit
von Denken und Gedachtem: esti men oyn kai aytos [o noys] nohtón, alla
kai noon, dio dúo hdh (Er [der Geist] ist gewiß auch selbst das
Gedachte, jedoch auch das Denkende, und somit bereits Zweiheit) [7]. Der
noys denkt das Seiende und ist es zugleich: to gar on ... oyde oy nooyn
noys dh kai on taytón. oy gar ton pragmaton o noys, osper h aisthsis ton
aisthton, proónton, all' aytos [o] noys ta pragmata (Denn das Seiende
ist ... auch kein Nicht-Denkendes; also ist Geist und Seiendes dasselbe.
Denn der Geist richtet sich nicht auf seine Gegenstände, wie die
Sinneswahrnehmung auf das Sinnliche, als auf etwas vorher Vorhandenes,
sondern der Geist ist selbst seine Gegenstände) [8]. In der Seele als
Bild des Geistes (eikon noy) [9] tritt die Einheit von Denken und Sein
auseinander; die Seele hat die Außendinge (ta exo) zu erforschen, im
Gegensatz zum Geist, der nur das, was in ihm ist (ta en ayto)
betrachtet. Von der diskursiven Denkweise (dianoia) der Seele gilt
daher: oti pyxhn dei en logismois einai tayta de panta [mnnmh, pantasia,
kanon toy agatoy] logizomenhs dynameos erga (daß die Seele sich in
Überlegungen ergehen können muß, und alle diese Tätigkeiten [Erinnerung,
Vorstellung, Maßstab des Guten] sind Funktionen eines
Überlegungsvermögens) [10]. «Logismós ist die in Zeit und in das
Nacheinander des Zu-Denkenden gebundene Überlegung, sie folgert das Eine
aus dem Anderen, da sie wesenhaft Durch-D.: dianoia ist» [11].
Als Zusammenfassung der griechischen antiken Bestimmungen zum
Begriff des D. mag die Aufzählung der fünf Seelenvermögen bei JOHANNES
DAMASCENUS gelten: ths pyxhs eisi dynameis pente noys, dianoia, dóxa,
pantasia, aisthsis. noys esti noera aisthsis ths pyxhs, kat' hn dúnatai
aytoptikos oran ta pragmata, kai dixa zhtnseon. dianoia esti dúnamis ths
pyxhs, kat' hn meta syllogismoy dúnatai ginoskein ta pragmata dio kai
legetai dianoia, para to odón tina dianoigein (Es gibt fünf Vermögen der
Seele: Geist, D., Meinung, Vorstellung, Wahrnehmung. Geist ist das
intellektuelle Wahrnehmen der Seele, gemäß dem man unmittelbar und ohne
Untersuchungen die Dinge betrachten kann. D. ist das Vermögen der Seele,
gemäß dem man mittels Schlußfolgerung die Dinge erkennen kann; daher
wird es auch D. [dianoia] genannt, weil es dem Öffnen [dianoigein] eines
Weges gleicht) [12].
Anmerkungen.
[1] DIOGENES LAERTIUS VII, 49; vgl. A. BONHÖFFER: Epiktet und die Stoa
(1890, Nachdruck 1968); BEHM, Art. NOEO KTL., in: Theol. Wb. zum NT, hg.
G. KITTEL 4 (1942) 961.
[2] PHILON, Quod Deterius Potiori insidiari solet 29 bzw. De Gigantibus
60; vgl. H. SCHMIDT: Die Anthropol. Philons von Alexandrien (Diss.
Leipzig 1933) 50. 139ff.; vgl. Theol. Wb. zum NT a.a.O. [1] 4, 962. 954.
[3] PHILON, De Specialibus Legibus III, 207.
[4] Vgl. Theol. Wb. zum NT a.a.O. [1] 4, 954.
[5] PLOTIN, z.B. Enn. VI, 9, 9, 1f.; vgl. P. HADOT: Etre, vie, pensée
chez Plotin et avant Plotin. Sources de Plotin. Entretiens sur
l'antiquité classique (Paris 1960).
[6] Enn. VI, 7, 37, 1–31.
[7] Enn. V, 4, 2; vgl. III, 8, 9; V, 1, 4.
[8] Enn. V, 4, 2; vgl. V, 5, 1ff.
[9] Enn. V, 1, 3, 7–9; vgl. W. BEIERWALTES: Plotin über Ewigkeit und
Zeit (1967) 50ff.
[10] Enn. V. 3, 3; vgl. V, 1, 3.
[11] BEIERWALTES, a.a.O. [9] 57.
[12] JOHANNES DAMASCENUS, Frg. MPG 95, 232 b.
C. Mit cogitare bzw. cogitatio besitzt die lateinische Sprache
einen Ausdruck, der weithin im gleichen Sinn wie das deutsche Wort D.
gebraucht wird, obwohl keine etymologische Verwandtschaft besteht. Er
bezeichnet nämlich einmal, und zwar vornehmlich in der philosophischen
Sprache, allgemein die intellektuelle Tätigkeit des Menschen, dann in
engerer Bedeutung «betrachten» und «überlegen», ferner aber auch «im
Sinne haben» (in animo habere) als «beabsichtigen», etwas zu tun
«gedenken», schließlich auch «ausdenken» und in Gedanken vorstellen
(fingieren). Eine Parallele zum Deutschen – und ein Unterschied zu
griechisch noein und pronein – liegt endlich in der Wortbildung
cogitator, Denker [1].
Vor DESCARTES ist cogitare zwar nicht wie griechisch noein und
pronein ein zentraler Begriff der philosophischen Sprache, an den die
Theorien des Erkennens oder der Tätigkeiten des Geistes anknüpften.
Deren Grundbegriffe sind vielmehr ratio und intellectus, Verstand und
Vernunft (s.d.), die Erleuchtung (s.d.) oder Illumination der
Vernunft, die Abstraktion (s.d.) des Verstandes oder auch das Erkennen
(s.d.) und sein Resultat, die Wissenschaft (s.d.). Aber schon als
allgemeine Bezeichnung der verschiedenen intellektuellen oder
theoretischen Tätigkeiten des Geistes gehört cogitare zum Grundbestand
der lateinischen philosophischen Sprache, die im übrigen – Zeichen ihrer
theoretischen Potenz – eine Fülle von Bezeichnungen für verschiedene
Arten intellektueller Tätigkeiten besitzt, z.B. intellegere, cognoscere,
noscere, scire, considerare, contemplari, concipere, apprehendere,
comprehendere, pensare (das in den romanischen Sprachen die
Bezeichnungen für D. gegeben hat) usw. Da das deutsche Wort D. auch als
Übersetzung von ratiocinari und meditari auftritt, ratiocinari
seinerseits logizestai übersetzt, sollen der Skizze des Sprachgebrauchs
von cogitare in der antiken und mittelalterlichen Philosophie einige
Bemerkungen über den Gebrauch von ratiocinari und meditari sowie der
entsprechenden Substantive vorausgeschickt werden.
Anmerkung.
[1] Vgl. Thesaurus linguae lat. s. v. cogitatio, cogito, cogitator.
1. Ratiocinari wird von CICERO einmal in der wohl schon älteren
Bedeutung von «rechnen» und «überlegen» gebraucht, gewinnt aber in
seiner Ausbildung einer philosophisch-rhetorischen Sprache auch die
Bedeutung von «argumentieren», «schließen», «folgern» [1]. Für das
Substantiv ratiocinatio zeichnet sich schon bei Cicero eine
terminologische Fixierung ab. Einmal wird die ratiocinatio als Ursache
menschlicher Handlungen von naturhaften «Impulsen», wie Affekten,
abgehoben und als «diligens et considerata faciendi aliquid aut non
faciendi excogitatio» (sorgfältiges und überlegtes Ausdenken, etwas zu
tun oder nicht zu tun) bestimmt [2]. Zum anderen wird die ratiocinatio,
abgehoben von Induktion, Terminus für den syllogistischen Schluß, wie er
in der Rhetorik adaptiert wird: «ratiocinatio est oratio ex ipsa re
probabile aliquid eliciens quod expositum et per se cognitum sua se vi
et ratione confirmet» (syllogistisches Schließen ist eine
Argumentationsform, die etwas Probables aus der Sache selbst hervorholt,
das, dargelegt und durch sich erkannt, sich durch seine Macht und
Einsichtigkeit beweist) [3]. ISIDOR VON SEVILLA wiederholt diese
Bestimmung, indem er zugleich in genauer Interpretation das von Cicero
Gemeinte erläutert, es gäbe zwei Modi der ratiocinatio, das Enthymem
(s.d.) und Epicheirem (s.d.) [4]. Nach QUINTILIAN wird «der Name
ratiocinatio weder uneigentlich noch ungebräuchlich» dann verwendet,
«wenn aus einem anderes geschlossen wird» (si ex alio aliud colligitur)
[5], und MARTIANUS CAPELLA bestimmt ausdrücklich ratiocinatio als
Terminus für die Bezeichnung des aristotelischen Syllogismus: «Hoc
totum, quod constat ex duobus sumptis et illatione, ratiocinatio a
nobis, a Graecis syllogismós appellatur. Est ergo ratiocinatio ex duobus
pluribusve concessis ad id, quod non conceditur, necessaria perventio»
(Dieses Ganze, das aus zwei angenommenen Prämissen und der Folgerung
besteht, wird von uns ratiocinatio, von den Griechen Syllogismus
genannt. Ratiocinatio ist also das notwendige Hinkommen von zwei oder
mehreren zugestandenen Sätzen zu dem, was anfangs nicht zugestanden
wurde) [6].
Dieser Sprachgebrauch verschwindet aus der lateinischen
philosophischen Sprache nicht mehr [7], obwohl der Gebrauch des Verbums
ratiocinari in der allgemeinen Bedeutung von «schließen» und
«diskursivem D.» häufiger und wichtiger wurde. Eine klare, freilich noch
bei ihm exzeptionelle Bestimmung von ratiocinari und ratiocinatio im
Sinne des diskursiven D. gibt AUGUSTINUS: «ratiocinatio autem [est]
rationis inquisitio, id est, aspectus illius, per ea quae aspicienda
sunt, motio» (diskursives D. aber ist das Forschen des Verstandes, d.h.
die Bewegung seines Hinblickens durch das hin, was zu erforschen ist) [8].
In diesem für den Sprachgebrauch des Mittelalters maßgeblich
gewordenen Sinn heißt es z.B. bei THOMAS VON AQUIN: «ratiocinari autem
est procedere de uno intellecto ad aliud, ad veritatem intelligibilem
cognoscendam» (diskursives D. aber ist das Vorgehen von einem
Eingesehenen zu einem anderen, um intelligible Wahrheit zu erkennen)
[9]; oder «ratiocinari autem proprie est devenire ex uno in cognitionem
alterius» (diskursives D. aber heißt eigentlich, aus einem zur
Erkenntnis eines anderen gelangen) [10]. Die Übersetzung von ratiocinari
an diesen Stellen mit «diskursives D.» oder «denkend Hin- und Hergehen»
ist deshalb berechtigt, weil Thomas «discurrere» gleichfalls als «von
einem zur Erkenntnis eines anderen gelangen» (discurrere proprie est ex
uno in cognitionem alterius devenire) bestimmt [11].
Diesem synonymen Gebrauch von discurrere und ratiocinari (und der
entsprechenden Substantive) stehen bei Thomas zwar zumindest Ansätze zu
einer Differenzierung entgegen. Während nämlich ratiocinatio auch
synonym mit syllogismus gebraucht wird [12], ratiocinari also
«schließen» bedeutet, unterscheidet sich diskursives D. von der
intellektuellen Intuition (s.d.) Gottes und der reinen Geister schon
dadurch, daß dem intuitiven Erkennen auch jener «Diskurs» nicht zu
kommt, in einem Akt das Erkenntnismedium, also Begriffe oder species
intelligibiles, in einem weiteren Akt die durch sie begriffene Sache zu
erkennen [13].
Aber das ist nicht die bei Thomas übliche Terminologie. In Aufnahme
und Ergänzung der aristotelischen Unterscheidung der Tätigkeiten des
Intellekts [14] werden angeführt: die «intelligentia indivisibilium»
(adiaireton nóhsis, Einsicht in Unteilbares), auch «simplex
intelligentia» oder «formatio quidditatum» genannt [15], das Verbinden
und Trennen des Eingesehenen in der Aussage («compositio et divisio»,
súntesis kai diairesis) und endlich das Schließen oder Folgern als
«discurrere» oder «ratiocinari» [16]. Von dieser Unterscheidung her wird
dem intuitiven Erkennen Gottes und der reinen Geister sowohl
«consideratio ratiocinativa vel discursiva» als auch «intellectio per
modum intellectus componentis et dividentis» abgesprochen [17].
Entsprechend dieser Terminologie, die den Diskurs als Schließen faßt,
wird dann auch erklärt, die ersten Prinzipien, die sicher «componendo»,
also in «verbindender» Aussage erkannt werden, würden «absque discursu»,
nicht-diskursiv erkannt [18].
Diese Terminologie, die in der modernen oft von Kants
Sprachgebrauch bestimmten Thomasinterpretation von Bedeutung und
kontrovers ist [19], hat sich bis in die vorkantische Schulphilosophie
hinein erhalten. «Ratiocinatio quaerit et discurrit» (Schließen sucht
und geht vom einem zum anderen über) heißt es etwa bei NIKOLAUS VON KUES
[20]. Auch die Einteilung der Tätigkeiten des Intellekts bleibt in der
aristotelischen Schulphilosophie erhalten. So nennt EUSTACHIUS a S.
PAULO «simplex apprehensio», als zweite Tätigkeit «iudicium» (Urteil),
das früher die schließende «Beurteilung» bezeichnete, und «enunciatio»
sowie als dritte Tätigkeit «discursus sive argumentatio», was auch als
«ratiocinando colligere» beschrieben wird [21]. J. JUNGIUS nennt
entsprechend «Notio sive Conceptus», «Enunciatio» und «Dianoea sive
Discursus» [22], und ausdrücklich wird an anderer Stelle die Synonymität
von «Discursus sive Argumentatio sive Ratiocinatio» betont, die «heute
von vielen auch Dianoea genannt» würde [23]. KANT hat dann diskursives
D. und schließendes D. (ratiocinatio) terminologisch unterschieden (s.
o. A).
Anmerkungen.
[1] Vgl. FORCELLINI, Lexicon totius latinitatis; LEWISSHORT: A Latin
dictionary s. v. ratiocinatio.
[2] CICERO, De invent. II, 4, 18.
[3] a.a.O. I, 34, 57.
[4] ISIDOR, Etym. II, 9.
[5] QUINTILIAN, Institutio VIII, 4, 16.
[6] MARTIANUS CAPELLA, De nuptiis IV, 126.
[7] Vgl. GEORGIUS TRAPEZUNTIUS, De re dialectica, zit. nach PRANTL, IV,
1969; CHAUVIN: Lexicon Philos. (1713) s. v. ratiocinatio und discursus.
[8] AUGUSTIN, De quantitate an. XXVII, 53.
[9] THOMAS, S. theol. I, 79, 8.
[10] a.a.O. I, 83, 4.
[11] De ver. 8, 15.
[12] In Post. Anal. I, XLIII (390).
[13] De ver. 2, 3, 3.
[14] ARISTOTELES, De an. III, 6, 430 a 26ff.
[15] Vgl. THOMAS VON AQUIN, z.B. De ver. 15, 1, 4; 14, 1.
[16] In de an. 3, 11 (746–763); 1 Sent. 19, 5, 1, 7; De Trin. 5, 3; In
de interpret. Prooem. (1); In Post. Anal. Prooem. (4).
[17] S. contra gent. I, 57. 58.
[18] In de div. nom. IV, 7 (376); De ver. 8, 15.
[19] Vgl. K. RAHNER: Geist in Welt (21957) 39ff.
[20] CUSANUS, Apologia doct. ign. Philos. Theol. Schriften, hg. GABRIEL
I, 548.
[21] EUSTACHIUS a S. PAULO, S. Philos. I. Pars, Dialectica, Praef.
[22] J. JUNGIUS, Logica Hamburgensis, hg. R. W. MEYER (1957) 1, 4f.
[23] a.a.O. 115, 8ff.
2. Meditari wird ursprünglich weithin synonym mit cogitare
gebraucht. Das erklärt die Übersetzung mit D.. Die Einbürgerung des
Fremdwortes Meditation (s.d.) zeigt aber an, daß meditari und meditatio
in der philosophischen und theologisch-mystischen Tradition eine
besondere Bedeutung gewonnen haben, nach der sie intensives Nachdenken
und tiefes Betrachten meinen, das nicht etwas ins Werk zu Setzendes
ausdenkt, sondern den Meditierenden gewissermaßen in die zu betrachtende
Sache versetzt und ihn durch die Betrachtung bereichert oder bestärkt.
Unter Hinweis darauf, daß im Anschluß vor allem an SENECA [1]
Philosophie als «meditatio mortis» bestimmt [2] und Meditation von
AUGUSTINUS als «das D. des Liebenden» (amantis cogitatio) verstanden
wurde [3], kann hier nur die Abhebung der meditatio von der cogitatio
dargelegt werden, die sich in den für die Bedeutung von Meditation
weithin maßgeblich gewordenen Ausführungen der Viktoriner findet.
Während HUGO VON ST. VIKTOR, nach dem «es vor allem zwei Dinge
sind, durch die man zur Wissenschaft gebildet wird, nämlich Lesung
(lectio) und Meditation» [4], die cogitatio als «vorübergehendes
Berühren des Geistes durch den Begriff der Sache» bestimmt, «indem die
Sache sich durch ihr Bild dem Geist darbietet» (praesentatur), faßt er
die Meditation als «ständiges und scharfsinniges wiederholtes Erwägen
des D., das etwas Eingewickeltes zu entfalten sich bemüht oder forschend
in Verborgenes eindringen will» (meditatio est assidua et sagax
retractatio cogitationis, aliquid vel involutum explicare nitens, vel
scrutans penetrare occultum) [5].
RICHARD VON ST. VIKTOR bestimmt ähnlich: D., das aus der
Einbildungskraft seine Anstöße nimmt, «ist der nicht durch eine Absicht
geleitete Hinblick des Geistes, der zur Abschweifung neigt» (cogitatio
autem est improvidus animi respectus ad evagationem pronus) [6]. Die
Meditation ist hingegen «der durch Absicht bestimmte Blick des Geistes,
der sich in der Erforschung der Wahrheit nachhaltig engagiert»
(meditatio est providus animi obtutus in veritatis inquisitione
vehementer occupatus) [7]. Die höchste Form des Hinblickes des Geistes
ist bei Hugo und Richard die Kontemplation (s.d.).
Wie die Aufnahme dieser Bestimmungen z.B. bei THOMAS VON AQUIN [8]
und im 17. Jh. bei MICRAELIUS [9] zeigt, hatten sie eine lange
Wirkungsgeschichte. Auch DESCARTES' Meditationen, die sich dadurch von
der Sammlung seiner Cogitationes privatae unterscheiden, fordern vom
Leser in diesem Sinn «ernsthaftes Meditieren und aufmerksames
Betrachten» [10]. Noch KANT scheint von dieser Tradition bestimmt zu
sein, wenn er erklärt, «das Meditieren», als «ein methodisches D.» müsse
«alles Lesen und Lernen begleiten» [11].
Anmerkungen.
[1] SENECA, Ep. 54 und 70.
[2] Vgl. z.B. CASSIODOR, Inst. II, 3, 5.
[3] AUGUSTIN, In Psalm. 118, 19.
[4] HUGO VON ST. VIKTOR, Didasc. I, 1. MPL 176, 741.
[5] In Ecclesiasten Homiliae I. MPL 175, 116.
[6] RICHARD VON ST. VIKTOR, Benjamin Maior I, 4. MPL 196, 67.
[7] ebda.; vgl. J. EBNER: Die Erkenntnislehre Richards von St. Viktor,
in: Beitr. zur Gesch. der Philos. des MA, hg. BAEUMKER 19 (1917) H. 4.
[8] THOMAS, S. theol. II/II, 180, 3, 1.
[9] MICRAELIUS: Lex. Philos. (21662) s. v. cogitatio.
[10] DESCARTES, Med. II Resp. Werke, hg. ADAM/TANNERY 7, 156.
[11] KANT, Logik § 120. Akad.-A. 9, 150.
3. Wie sehr CICEROS Ausbildung einer lateinischen philosophischen
Sprache «klassische», fortan maßgebliche Bedeutung zukommt, ist auch
seinem Gebrauch von cogitare und cogitatio zu entnehmen. Verstand
(ratio) und D. (cogitatio) zeichnen den Menschen vor allen anderen
Sinneswesen aus [1]. Die «Seelentätigkeiten» (motus animorum) sind
cogitationes und appetitus (Strebungen). Während diese «zum Handeln
antreiben», gilt als allgemeine Bestimmung der intellektuellen
Tätigkeit: «cogitatio in vero exquirendo maxime versatur» (D. befaßt
sich vor allem mit dem zu erforschenden Wahren) [2]. Daher bedeutet
«Leben» für den gebildeten und kultivierten Menschen D. [3], und der
menschliche Geist nährt sich von «Lernen und D.» [4].
Wichtiger als Ciceros Bemerkungen über das Problem des
Verhältnisses von D. und sinnlicher Wahrnehmung, das er anläßlich der
Frage berührt, ob der Begriff Gottes (species dei) durch D. oder durch
die Sinne erfaßt werde [5], sind seine Ausführungen über das, was D. zu
leisten vermag. Seine Leistung ist das Erfinden, und Cicero bestimmt
auch die rhetorische Invention als «Ausdenken (excogitatio) wahrer oder
wahrscheinlicher Dinge, die eine Sache probabel machen» [6]. D. kann
aber auch bloßes D. im Sinne von Fingieren sein, wie z.B. die Hoffnung
als Göttin gedacht wird [7]; dagegen ist das Gesetz «nicht von Menschen
ausgedacht», sondern «etwas Ewiges» [8]. Besonders bemerkenswert ist
Ciceros Lehre von einem Maximum des Denkbaren. Denn es gibt nicht nur
nichts Besseres, Vorzüglicheres und Schöneres als die Welt, sondern es
kann auch irgend etwas Besseres «nicht einmal gedacht werden» (sed ne
cogitari quicquam melius potest) [9]. Nachdem AUGUSTINUS und BOETHIUS
das, was Cicero von der Welt behauptet hatte, auf Gott, das höchste Gut,
bezogen hatten, «als welches Besseres weder sein noch gedacht (cogitari)
werden könne» [10], wird bekanntlich die Beschreibung Gottes als «id quo
maius cogitari nequit» (das, als was Größeres nicht gedacht werden kann)
Ausgangspunkt von ANSELMS «ontologischem» Gottesbeweis (s.d.).
Wie CICERO als Klassiker der lateinischen Sprache, so hat
AUGUSTINUS als jahrhundertelang anerkannte Autorität den Sprachgebrauch
von cogitare in Theologie und Philosophie des Mittelalters bestimmt. Mit
Cicero unterscheidet er D. und Streben oder Wünschen (cupere), betont
aber, daß «wir zwar alles denken, was wir erstreben, aber nicht alles
erstreben, was wir denken» [11]. Sofern aber das D. willentlich ist und
den Willen einschließt [12], gilt: «Alle Werke, seien sie gut oder böse,
gehen vom D. aus (a cogitatione procedunt): Im D. ist ein jeder
unschuldig, im D. schuldig» [13].
Im Rahmen seiner Erkenntnislehre, nach der auch die sinnliche
Wahrnehmung Sache der nicht unmittelbar vom Körperlichen affizierbaren
Seele ist, betont Augustinus die Aktivität des D., wobei er die alte
Bedeutung von cogitare als «fingieren» aufnimmt: «figuram sibi fingit
cogitatio, quae graece sive phantasia sive phantasma dicitur» (Das D.
bildet sich eine Gestalt, die griechisch Phantasie oder Phantasma heißt)
[14]. Selbstvergessen verkennt die Seele freilich zunächst ihre eigene
Aktivität, glaubt gar, «nur Körperliches könne gedacht werden» [15], und
zwar durch Bilder, die von den Körpern in die Seele eintreten [16]. Aber
vieles wird doch unkörperlich und intelligibel gedacht wie vor allem die
Wahrheit: von welchem Körper aber soll welches Abbild der Wahrheit in
den Sinn und in die Seele kommen? [17]. Die damit gegebene Forderung der
Rückkehr in sich selbst formuliert Augustinus auch mit den Worten:
«sevocare mentem a sensibus et cogitationem a consuetudine abducere»
(den Geist von den Sinnen abrufen und das D. von der Gewohnheit
wegführen) [18].
Wie diese Formulierung für DESCARTES Programm seiner Meditationen
wurde, so entspricht sein «cogito ergo sum» AUGUSTINS: «se ... cogitare,
quis dubitet? Quandoquidem etiam si ... dubitat, cogitat» [19]. Hier
bedeutet cogitare das geistige aktuelle Betrachten von Gegenwärtigem. In
diesem Sinn, den ISIDOR VON SEVILLA mit der Formulierung «cogitatio
praesentia complectitur» (D. erfaßt Gegenwärtiges) fixierte [20],
unterscheidet AUGUSTINUS auch «nosse» (kennen, wissen) von «cogitare»
[21]; denn zwar weiß der Geist sich immer, wie man das weiß, was man im
Gedächtnis hat, ohne es aktuell zu betrachten, aber der Geist bedarf zur
ausdrücklichen Erkenntnis des D., das ihn selbst «gewissermaßen in
seinen Anblick stellt» (in conspectu suo ponere) [22]. Andererseits
kennt Augustinus jedoch auch ein D., das nicht Gegenwärtiges anblickt,
sondern etwas nur vorstellt, ohne seiner Wahrheit und Wirklichkeit
zuzustimmen. Diese Bedeutung hat D. in seiner Bestimmung des Glaubens
als «cum assensione cogitare» (mit Zustimmung denken) [23].
Richtet sich im D. aber der Anblick des Geistes auf ihm
Gegenwärtiges, das durch solches D. von anderem unterschieden wird [24],
dann wird das D. von dem, was wir wissen, geformt, und dieses «geformte
D.» (formata cogitatio) [25] oder dieser Gedanke ist das «verbum mentis»
(s.d.), das «Wort des Geistes» , dessen «Zeichen» das gesprochene
äußere Wort ist [26]. So ist D. in diesem Sinn zugleich «Sprechen» wie
auch «Schauen» [27]. Diese Ausführungen Augustins zeigen auch, daß von
der Grundform cogitare her D. als Akt vom Gedanken als immanentem
Resultat des Aktes (nóhma, verbum mentis, bei Descartes: idea) und vom
Gedachten als der intendierten Sache (nohtón) nicht eindeutig
unterschieden werden kann, da cogitatio und cogitatum mehrdeutig bleiben.
Augustinus hat endlich die von VARRO stammende, auch von PAULUS
FESTUS angeführte [28] Etymologie von cogito übernommen, nach der es die
Intensivform von cogo (zusammenbringen, sammeln) sei [29]. Während das
D. nach den Konfessionen sammelt und bemerkt, was sich im Gedächtnis
befindet, deutet AUGUSTINUS in De Trinitate den Namen cogitare als
«Zusammenbringen» von Gedächtnis, innerer Schau und Wollen [30]. Da in
der erstgenannten Deutung D. als «colligere» (sammeln) gefaßt wird,
«colligere» aber auch «schließen» bedeutet, wurde später die eigentliche
Bedeutung von «cogitare» im diskursiven D. gesehen, das Augustinus auch
als «volubiles cogitationes ab aliis in alia euntes et redeuntes» (in
Bewegung befindliche Gedanken, die vom einen zum anderen hin und
hergehen) [31] charakterisiert.
Die Auffassung, cogitare bezeichne eigentlich diskursives D.,
charakterisiert den Sprachgebrauch der mittelalterlichen Scholastik, der
wohl an THOMAS VON AQUIN exemplifiziert werden kann. Nach ihm kann
cogitare «in dreifacher Weise» gebraucht werden [32]: Die
«eigentlichere» Bedeutung besagt «forschende Betrachtung des Intellekts»
(consideratio intellectus, quae est cum quadam inquisitione); denn
«cogitare» besage «coagitare» (zusammentreiben) und das heiße «von einem
zum anderen gehen und eines mit dem anderen vergleichen» [33]. Weil D.
(cogitatio) «eigentlich im Erforschen der Wahrheit besteht» [34], gibt
es «ohne Zweifel in Gott eigentlich kein D.» (sine dubio cogitatio in
Deo proprie non est) [35]. Daher wird die von ARISTOTELES als nóhsis
nonseos beschriebene Selbsterkenntnis des göttlichen Erkennens im
Mittelalter nicht als D., sondern als «intelligentiae intelligentia»
(Wilhelm von Moerbeke) gefaßt.
Daneben kann cogitare aber auch «allgemein jedes beliebige aktuelle
Betrachten des Intellekts» bezeichnen (qualiscumque actualis
consideratio intellectus) [36]. In diesem Sinn kann man z.B. «denken,
man sei nicht oder sei einmal gewesen». «Niemand aber kann mit
Zustimmung (cum assensu) denken, er sei nicht: indem man etwas denkt,
perzipiert man nämlich, daß man ist» (in hoc enim quod cogitat aliquid,
percipit se esse) [37].
Drittens wird «cogitare» endlich auch vom Akt der Urteilskraft
(s.d.) gesagt, die als «vis cogitativa» oder «ratio particularis» u.a.
das sinnlich Erfaßtem seiner Nützlichkeit oder Schädlichkeit beurteilt,
was beim Menschen nicht instinktiv, sondern durch ein Folgern, also ein
D. geschieht [38]. Vielleicht besteht auch eine Verbindung zwischen
dieser Lehre von der Urteilskraft und der freilich in anderem
Zusammenhang stehenden These, daß D. «auch sinnliche Perzeptionen ...
und Vorstellungen ... in sich befassen kann» (sub cogitatione
comprehendi possunt et perceptiones sensuum ... et imaginationes) [39].
Diese Bedeutungen von cogitare finden sich mit nur geringfügigen
neuen Akzenten noch in der vorcartesianischen Schulphilosophie,
zusammengefaßt etwa von R. GOCLENIUS [40]. Nach ihm ist D. «allgemein
die Betätigung der höchsten Seelenkraft, im besonderen [aber] die
Tätigkeit des Verstandes» als «Diskurs» und «Weg von den Sätzen zu den
Konklusionen». Nach platonischer Lehre bedeute D. «inneres Gespräch»
(sermo interior), das die Seele bei sich über das führe, was sie
betrachtet (considerat). Während alle diese Bedeutungen wie auch
Ausführungen über die «cogitativa facultas» als «ratio particularis»
oder über den Unterschied von D. und oft Übung (exercitatio)
einschließender Meditation sich im Rahmen traditioneller Bestimmungen
halten, weist die Unterscheidung von «cogitatio recta», die auf Dinge
außerhalb der Seele geht, und «cogitatio reflexa», die das D. der Seele
über sich selber bezeichnet, auf Descartes' Lehre vor. Ist nämlich die
Erkenntnis der Dinge außerhalb der Seele nachträglich und durch die
Selbsterkenntnis der Seele diskursiv vermittelt, dann ist D. grundlegend
«cogitatio reflexa».
In solcher Weise erhalten sich die Bedeutungen von «cogitare» auch
im Kontext durchaus verschiedener Theorien über Vernunft und Verstand
und ihrer Erkenntnis relativ konstant, was zeigt, daß «cogitare» eben
nicht ihr zentraler Inhalt ist. Doch ist auch schon bei NIKOLAUS VON
KUES von einem D. des D. (cogitationum cogitatio, cogito de cogitatione)
[41] die Rede. Auch mit dieser Formulierung weist er auf die
neuzeitliche Philosophie besonders des Deutschen Idealismus vor, und
GOETHE hätte auch ihm die Zahme Xenie widmen können: «Ich hab es klug
gemacht, ich habe nie übers Denken gedacht» [42].
Anmerkungen.
[1] CICERO, De leg. I, 7, 22.
[2] De off. I, 132.
[3] Tusc. V, 111.
[4] De off. I, 105.
[5] Vgl. De nat. deorum I, 105; De fin. I, 21; De div. II, 137.
[6] De invent. I, 9.
[7] De nat. deorum III, 47.
[8] De leg. II, 8.
[9] De nat. deorum II, 18.
[10] Vgl. AUGUSTIN, De doct. christ. I, 7; De lib. arb. II, 6, 14; Conf.
VII, IV; BOETHIUS, De consol. philos. III, 10, 7.
[11] AUGUSTIN, Contra duas ep. Pel. II, 8, 18.
[12] Vgl. De Trin, XI, 3, 6.
[13] Enn. in Psalm. 118, serm. 24.
[14] Soliloq. II. 20, 34; vgl. dazu und insgesamt zum Sprachgebrauch
Augustins G. VERBEKE: Pensée et discernement chez saint Augustin.
Quelques réflexions sur le sens du terme cogitare. Recherches
Augustiniennes 2 (Paris 1962) 59–80.
[15] Ep. 118, 26. 28; vgl. Conf. V, 14; VII, 1.
[16] Ep. 118, 28.
[17] a.a.O. 27.
[18] Ep. 137, 5.
[19] De Trin. X, 10, 14; vgl. die Zusammenstellung der einschlägigen
Texte bei E. GILSON: Descartes, Discours de la méthode, texte et
commentaire (31947) 295f.
[20] ISIDOR, Diff. II, 87.
[21] AUGUSTIN, De Trin. X, 4, 7; XIV, 6, 9.
[22] ebda. XIV, 6, 8.
[23] De praedest. sanct. 2, 5; vgl. zu «cogitare absentia» De Trin. X,
10, 16.
[24] De Trin. X, 12, 19; XIV, 6, 9.
[25] a.a.O. XV, 10, 19.
[26] XV, 11, 20.
[27] XV, 10, 18.
[28] Vgl. die Belege in Thesaurus ling. lat. s. v. cogito und cogitatio.
[29] AUGUSTIN, Conf. X, 11.
[30] De Trin. XI, 3, 6.
[31] a.a.O. XV, 16, 26.
[32] THOMAS, S. theol. II/II, 2, 1.
[33] De ver. 14, 1 ob. 2.
[34] S. theol. I, 34, 1, 2.
[35] I. Sent. 27, 2, 1, 3.
[36] S. theol. II/II, 2, 1.
[37] De ver. 10, 12, 7.
[38] S. theol. II/II, 2, 1; I, 78, 4.
[39] S. theol. II/II, 180, 3, 1.
[40] R. GOCLENIUS: Lex. philos. (1613) s. v. cogitatio.
[41] NIKOLAUS VON KUES: Propos. de virtute ipsius non aliud VIII; De
ludo globi, in: Philos. Theol. Schriften, hg. GABRIEL III, 252; vgl.
ähnlich AUGUSTIN, De Trin. XV, 9, 16.
[42] GOETHE, Zahme Xenien VI.
D. – 1. DESCARTES sah es als seine Aufgabe an, die neue
Naturwissenschaft im Unterschied zur Experimentalphysik Galileis als
eine mechanistisch «alle Phänomene» erklärende umfassende theoretische
Physik metaphysisch zu begründen und dabei zugleich die alten
metaphysischen Fragen nach Gott und Geist methodisch neu und endlich
wissenschaftlich zu beantworten. Nach E. Gilson war es seine vielleicht
«tiefste ... Einsicht, begriffen zu haben, daß einer Physik der reinen
Ausdehnung eine Metaphysik des reinen D. (de la pure pensée) entsprechen
müßte» [1].
Wie zentral die zumeist mit D. übersetzten Begriffe «cogitare» und
«cogitatio» für Descartes sind, ist schon dem «Ersten Prinzip» seiner
Philosophie zu entnehmen: «Ego cogito, ergo sum» [2]. Zu ihm führt das
methodische Experiment des universalen Zweifels und die anschließende
Negation aller Vorurteile; denn mögen auch alle Inhalte des Bewußtseins
falsch sein, so ist doch die in jedem Zweifel und Verneinen mitgegebene
Tatsache des Bewußtseins nicht zu bezweifeln und zu verneinen, und da
das Bewußtsein die Unmöglichkeit erkennt, zu denken, ohne zu sein (pour
penser il faut être) [3], findet es in dem genannten Prinzip als einer
«notwendigen Wahrheit» [4] das unerschütterliche Fundament seiner
Philosophie.
Daß Descartes in seiner so begründeten Philosophie «alle
Tätigkeiten des Willens, des Intellekts, der Einbildungskraft und der
Sinne» «cogitationes» nennt [5], ist zwar nicht schlechthin neu.
Wichtiger aber als der vereinzelt sehr weite scholastische
Sprachgebrauch von cogitare ist dafür die Erklärung FR. BACONS: «Nam et
qui meminit, aut etiam reminiscitur, cogitat; et qui imaginatur,
similiter cogitat; et qui ratiocinatur, utique cogitat» (Denn auch wer
einer Sache eingedenk ist oder sich erinnert, denkt; und wer sich etwas
vorstellt, denkt gleichfalls; und wer Schlüsse zieht, denkt ebenso) [6].
Aber erst DESCARTES betont, daß diese Akte und ihre Inhalte
«cogitationes» genannt werden, weil wir uns ihrer «unmittelbar bewußt
sind» (immediate conscii) [7]: «Cogitationis nomine, intelligo illa
omnia, quae nobis consciis in nobis fiunt, quatenus eorum in nobis
conscientia est» (Unter dem Namen cogitatio verstehe ich alles das, was,
indem wir uns dessen bewußt sind, in uns geschieht, sofern in uns ein
Bewußtsein davon ist) [8]. Die für uns geläufige Übersetzung von
conscientia mit Bewußtsein (s.d.) hat Chr. Wolff eingebürgert. Daraus
aber, daß Descartes einerseits lehrt, der Geist könne ebensowenig ohne
Bewußtsein (sine cogitatione) wie der Körper ohne Ausdehnung sein [9],
anderseits aber zugleich eine sicher nicht stets gegebene Reflexion über
das Bewußtsein behauptet (conscium esse est quidem cogitare et
reflectere supra suam cogitationem) [10], ergibt sich die Berechtigung,
bei ihm zwischen Bewußtsein und ausdrücklichem, reflektiertem
Selbstbewußtsein zu unterscheiden: Der universale Zweifel führt das
zunächst an die Dinge der Welt verlorene Bewußtsein zum
Selbstbewußtsein, das seines Seins absolut gewiß ist.
Eine Bestätigung der Wiedergabe von cogitatio durch Bewußtsein
liegt auch darin, daß Descartes unter cogitatio nicht «etwas
Allgemeines» verstanden wissen will, das die verschiedenen Modi der
Bewußtseinszustände unter sich begreift, sondern «eine partikuläre
Natur», die als Bewußtsein das Wesensattribut der «res cogitans», des
bewußten Seienden, ist: «cogitatio sive natura cogitans» [11]. Aber
Descartes gebraucht cogitatio in noch anderen genau zu unterscheidenden
Bedeutungen: «cogitatio interdum pro actione, interdum pro facultate,
interdum (sumi solet) pro re in qua est facultas» (Bewußtsein oder D.
pflegt gebraucht zu werden bald für den bewußten Akt, bald für die
Fähigkeit zu ihm, bald für die Substanz, in der diese Fähigkeit ist)
[12]. Wichtiger als die Angabe, ob zwischen der res cogitans, ihrem
Wesensattribut und ihren Fähigkeiten und Akten eine nur gedankliche oder
modale Unterscheidung vorliegt, ist die Tatsache, daß nach Descartes die
res cogitans im Unterschied einmal vom völlig trägen Körper (res
extensa), zum anderen von Gott, der in seiner Unendlichkeit Sein und
Tätigkeit in absoluter Identität ist [13], bewußtes Sein mit der zwar in
verschiedener Weise, aber doch stets auch aktuierten Fähigkeit zu
bewußten Akten ist. J. CLAUBERG dürfte daher Descartes richtig
interpretieren, wenn er die cogitatio als «erstes und hauptsächlichstes
Attribut des Geistes» bestimmt oder als «jene Kraft und inneres Prinzip
des D. (principium internum cogitandi), das niemals müßig ist, immer mit
irgendeiner Tätigkeit befaßt ist» [14].
In solchem D. als bewußter Tätigkeit und als Bewußtsein liegt der
Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier. Auch einer noch so
vollkommenen Maschine, die «vieles besser zu verrichten vermag als wir»,
kann man nicht Bewußtsein eingeben. Zeichen dafür ist die Tatsache, daß
man sich mit ihr nicht sinnvoll unterhalten kann. Sie hat auch keine
eigenen Gedanken, die mitzuteilen und auszutauschen Sinn eines
Gespräches ist (déclarer aux autres nos pensées). Selbst wenn eine
solche Maschine programmiert wäre, Wörter von sich zu geben, so wäre
doch ein vorprogrammiertes Reden gerade kein Gespräch [15].
Die nicht nur im freien Wollen, sondern auch im D., das nach
DESCARTES sich Ideen «bildet» [16] und dabei auch die sog. eingeborenen
Ideen «erwirbt» [17], gegebene Aktivität des Geistes wurde freilich im
Okkasionalismus angesichts der Betonung der All- oder Alleinwirksamkeit
Gottes zum Problem. Wie ein Abschwächen oder gar ein Bestreiten der
menschlichen Eigentätigkeit auch die Aktivität oder Spontaneität des D.
fraglich erscheinen läßt, zeigt etwa die Scheu MALEBRANCHES, von den
geschaffenen Geistern einfachhin zu sagen, sie seien «denkende
Substanzen»; «vielleicht» müßte «die genauere Definition» lauten:
«substances qui aperçoivent ce qui les touche» [18].
Da nach DESCARTES die «bewußten Akte» (actus cogitativi) wie
Einsehen, Wollen, Imaginieren, Fühlen usw. unter den Begriff «cogitatio»
fallen [19], stellt sich ihm endlich die Aufgabe, diese bewußten Akte zu
klassifizieren (Cogitationes in certa genera distribuere) [20]. In der
Dritten Meditation hebt Descartes, bestimmt durch den
Argumentationszusammenhang, das Erfassen (apprehendere) von Ideen, von
Urteilen, von Wollungen oder Affekten ab [21]. Aber wichtiger als diese
Klassifizierung ist die Unterscheidung der eigentlichen
Erkenntnisfunktionen.
Während Descartes in der Sechsten Meditation nur die «reine
Einsicht» (pura intellectio) von der sinnlichanschaulichen Imagination
abhebt [22], unterscheidet er im Entretien avec Burman und schon im
frühen Briefwechsel [23] zwischen «Intellektion, Konzeption und
Imagination» und betont selbst «die große Bedeutung dieser Distinktion»
[24]. Danach ist Imaginieren das Bilden und Formen von Figuren, die nur
uneigentlich «Ideen» heißen könnten, im Gehirn, sofern das nicht äußere
Dinge wie beim Fühlen (sentire) tun, sondern der Geist es «gewissermaßen
bei geschlossenen Fenstern» selbst tut [25]. Geistiges Vernehmen
(intelligere, savoir) wird in Wiederholung einer alten Bestimmung als
«Berühren mit dem Geist» (mente attingere, toucher de la pensée)
bestimmt [26]. Was in solcher Weise denkend berührt wird, sind aber
nicht erstlich die vom Geist gebildeten Ideen, die nach der Terminologie
der Regulae in einer «Intuition» (s.d.) oder in ihrer Verknüpfung in
einer «Deduktion» (s.d.) als fortlaufender Intuition erfaßt werden
[27], sondern erstlich berührt der erkennende Geist die ihm präsente und
seinen Akten vorgegebene Realität wie die seines eigenen Seins und die
in ihm sich widerspiegelnde, in ihm zu sehende Realität und Gegenwart
des unendlichen göttlichen Seins. Was das Bewußtsein in solchem Berühren
erkennt, kann es sich auch vorstellen (repraesentare), in einem Konzept
oder einer Idee (s.d.) sich einformen. Darin besteht das vermutlich von
Descartes erstmals derart vom Einsehen (intelligere) unterschiedene
Konzipieren (concipere, concevoir) [28], das auch die eingeborenen Ideen
bildet und durch die Bildung der Ideen die erkannte Sache «objektiv»,
d.h. als vorgestellte und «gedachte» (cogitata), ins Bewußtsein stellt
[29]. Solches Konzipieren braucht schließlich kein völliges Begreifen
(comprehendere, comprendre) zu sein, wie man ja auch ein Gebirge wohl
berühren, aber nicht umfassen oder begreifen kann: «car comprendre,
c'est embrasser de la pensée» [30]. Gerade auch das D. selber, als
«chose qui pense» genommen, können wir nicht vollständig begreifen, denn
es kann «in der Seele wie im Körper viele Eigenschaften geben, von denen
ich keine Idee habe» [31].
Anmerkungen.
[1] E. GILSON: Etudes sur le rôle de la pensée médiévale dans la
formation du système cartésien (21951) 293.
[2] DESCARTES, Princ. I, 7. Werke, hg. ADAM/TANNERY (= A/T) 8 (1), 7;
Discours IV. A/T 6, 32; Recherche. A/T 6, 33 u.ö.
[3] Discours IV. A/T 6, 33 u.ö.
[4] Med. II. A/T 7, 25.
[5] Med. Resp. II. A/T 7, 160; vgl. Princ. I, 9. A/T 8 (1), 7.
[6] FR. BACON, De augment. scient. II, 13. Werke, hg. SPEDDING ... HEATH
I, 528.
[7] DESCARTES, Med. Resp. II, A/T 7, 160.
[8] Princ. I, 9. A/T 8 (1), 7.
[9] Entretien. A/T 5, 150.
[10] a.a.O. 149.
[11] An Arnauld, 29. Juli 1648. A/T 5, 221.
[12] Med. Resp. III. A/T 7, 174.
[13] Entretien. A/T 5, 166. 154.
[14] J. CLAUBERG: De cognitione Dei et nostri exercitationes IV, 10.
[15] DESCARTES, Discours V. A/T 6, 56–59.
[16] Vgl. z.B. A/T 3, 64. 272; 7, 13. 133. 371 usw.
[17] Med. III. A/T 7, 45.
[18] MALEBRANCHE, Réponse à M. Régis II, 14.
[19] DESCARTES, Med. Resp. III. A/T 7, 176.
[20] Med. III. A/T 7, 37.
[21] Ebda.
[22] Med. VI. A/T 7, 72f.
[23] Entretien. A/T 5, 154; An Mersenne, 27. Mai 1630. A/T 1, 152; vgl.
dazu L. OEING-HANHOFF: Der Mensch in der Philos. Descartes', in: Die
Frage nach dem Menschen. Festschrift für M. Müller, hg. H. ROMBACH
(1966) 375–409.
[24] Entretien. A/T 5, 154.
[25] a.a.O. 162.
[26] A/T 1, 152; 7, 371.
[27] Vgl. Regulae III. A/T 10, 368ff.
[28] Vgl. auch Entretien. A/T 5, 165.
[29] Med. III. A/T 7, 41; Resp. I. A/T 7, 102.
[30] A/T 1, 152; vgl. zur traditionellen Bestimmung von comprehendere
z.B. THOMAS VON AQUIN, S. theol. I, 12, 7; II/II, 28, 3, 3.
[31] An Gibieuf, 19. Januar 1642. A/T 3, 478.
2. «Ecrire contre ceux qui approfondissent trop les sciences:
Descartes», ist nicht unwesentlicher Teil des Programms PASCALS [1]. So
hat er zwar Descartes' metaphysische Darlegungen über das D. nicht
vertieft, wohl aber hat er Descartes' «Unterscheidung der materiellen
und geistigen Natur» [2] zugestimmt: «je ne puis concevoir l'homme sans
pensée» [3], – «la matière est dans une incapacité naturelle, invincible
de penser» [4]. Pascal ergänzt Descartes' Ausführungen über «denkende»
Maschinen durch den Hinweis, daß die Wirkungen der Rechenmaschine sich
zwar mehr dem D. nähern als alles, was Tiere tun, daß die Maschine aber
nichts tut, was sagen lassen könnte, sie habe Willen wie die Tiere [5].
Pascal verzichtet auf ein Vertiefen auch der Metaphysik, weil sie – und
damit Descartes als Metaphysiker – «unnütz und unsicher» bleibt [6].
Ihre Beweise überzeugen höchstens «eine Stunde» lang [7]. Und was wir
für wahr halten, ist doch weniger durch den Verstand (l'entendement)
vermittelt als vielmehr, mag das auch «gegen die Natur» sein, durch den
Willen [8]. «Notre propre intérêt est encore un merveilleux instrument
pour nous crever les yeux agréablement» [9].
Gleichwohl gilt: «L'homme est visiblement fait pour penser; c'est
toute sa dignité» [10]. Die Ordnung des D. erforderte, mit dem D. über
sich, seinen Schöpfer und sein Ziel anzufangen. Aber daran denkt die
Welt nicht, sondern an Tanzen, Spielen, Sich- Schlagen usw., ohne an das
zu denken, was Menschsein heißt [11].
Derart ist das D. des Menschen, der ein «denkendes Schilfrohr» (un
roseau pensant) ist [12], «dumm» [13], «Zufall gibt die Gedanken, und
Zufall nimmt sie» [14]. Aber auch unser Zustand, daß wir «unfähig sind,
sicher zu wissen und absolut unwissend zu sein» [15], hebt die Forderung
nicht auf: «Travaillons donc à bien penser: voilà le principe de la
morale» [16].
Aber auch das D. ist durch die Sünde verdorben: «nous sentons une
image de la vérité, et ne possédons que le mensonge» [17], und es zeigt
die «nature corrumpue» an, daß der Mensch nicht durch Vernunft handelt,
die sein Sein ausmacht [18]. So bedarf es auch zum rechten D. der
göttlichen Gnade, die das Innerste des Menschen, sein «Herz», ergreift,
das sowohl dem diskursiven D. (raisonnement, discours) [19], dessen
Methode Pascal in der Orientierung am synthetischen geometrischen
Verfahren beschrieben hat, wie auch den einzelnen Willensentscheidungen
zugrunde liegt. Das so neugeschaffene Herz ist Ort vor allem des
Glaubens, zu dem Pascal führen will: «Voilà ce que c'est que la foi:
Dieu sensible au coeur, non à la raison» [20].
Anmerkungen.
[1] PASCAL, Pensées (= Pens.) 76 (Numerierung nach BRUNSCHVICG).
[2] De l'esprit géométrique II. Werke, hg. J. CHEVALIER (1954) 600.
[3] Pens. 339; vgl. 469.
[4] De l'esprit géom. a.a.O. [2] 599.
[5] Pens. 340.
[6] a.a.O. 78.
[7] 543.
[8] De l'esprit géom. a.a.O. [2] 592.
[9] Pens. 82.
[10] a.a.O. 146.
[11] ebda.
[12] 347. 348.
[13] 365.
[14] 370.
[15] 72.
[16] 347.
[17] 434.
[18] 439.
[19] 282. 274; De l'esprit géom. a.a.O. [2] 592f.
[20] Pens. 278.
3. Während die menschliche Freiheit bei Pascal gegenüber der
göttlichen Gnade zu verschwinden droht [1], wird sie als Willensfreiheit
in SPINOZAS Pantheismus ausdrücklich negiert [2]. Dieser Absage an die
sich gerade in der Neuzeit verstärkt ihrer Freiheit bewußt werdende
Subjektivität entspricht es im Bereich des D., daß «Spinoza keinen
Begriff vom Ich hat» [3], daß auch «das göttliche D. aus jedem Bezug auf
ein erkennendes Subjekt losgelöst ist» [4]. Das ergibt sich aus Spinozas
Lehre vom D.
Die Ethik gibt keine Definition von cogitare oder cogitatio.
Spinoza bestimmt die cogitatio grundlegend durch ihren ausschließenden
Gegensatz zur Ausdehnung. Wie diese schließt sie nicht den Begriff einer
anderen Sache ein [5]. Was cogitatio meint, erhellt auch aus der Angabe
ihrer besonderen Weisen wie Einsicht (intellectus), Liebe, Begehren oder
Affekte der Seele [6]. Die von solchen Modi «abgelöste» «absoluta
cogitatio» [7] ist eines der Attribute Gottes: «Gott ist res cogitans» [8].
Die der res cogitans eigene «Tätigkeit» ist das Bilden einer Idee
oder eines Konzeptes [9]. Resultat dieser Tätigkeit ist (ähnlich wie im
Scotismus) wie die Idee so das Erkennen: «idea sive cognitio» [10].
Dieser Modus der cogitatio liegt den übrigen Modi wie Liebe und Begehren
fundierend zugrunde [11], folgt aber selber der Tätigkeit des D. Daher
gehört der aktuelle göttliche Intellekt, der nichts neben der Idee, d.h.
diese selbst ist [12], zur natura naturata als Folge der usprünglichen
natura naturans [13]. Des weiteren zeigt sich der menschliche Geist «als
Teil des Intellektes Gottes». Wenn es daher heißt, der menschliche Geist
erfasse dieses oder jenes, heißt das «nichts anderes, als daß Gott ...
diese oder jene Idee hat» [14]. So ist der menschliche Geist
gewissermaßen der göttliche Intellekt selbst, «der seine Göttlichkeit
... vergessen hat» [15].
Das Wissen aber ist nach der berühmten Formel: «Simulac enim quis
aliquid scit, eo ipso scit se id scire, et simul scit se scire quod
scit» (zugleich damit, daß jemand etwas weiß, weiß er nämlich eben
dadurch, daß er das weiß, und zugleich weiß er, daß er weiß, was er
weiß) [16], Wissen des Wissens oder «idea ideae» [17]. So gibt es bei
Spinoza durchaus eine Reflexivität des Wissens und in diesem Sinne
Selbstbewußtsein. Aber ist Selbstbewußtsein nicht, statt bloß solches
Wissen des Wissens zu sein, das Wissen des wissenden Ich um sich?
So hat, wie W. Cramer geltend macht, Spinoza in seiner Theorie des
D. das «denkende Ich unterschlagen» [18], dessen Selbstbewußtsein, das
den Denkenden, das D. und das Gedachte in sich begreift, Bedingung des
Wissens des Wissens ist. Spinoza aber hat die mit D. angemessen zu
übersetzende cogitatio als vom Ich unabhängige «reine Repräsentation des
Intelligiblen» verstanden, weshalb Gott «in seiner absoluten Natur» zwar
«D. an sich» sein mag, aber ursprünglich «keineswegs ein D. für sich»
ist [19].
Anmerkungen.
[1] Vgl. PASCAL, Ecrits sur la grâce, Troisième Ecrit. Werke, hg. J.
CHEVALIER (1954) 1003.
[2] SPINOZA, Eth. II, Prop. 48.
[3] W. CRAMER: Spinozas Philos. des Absoluten (1966) 95.
[4] V. DELBOS: Le spinozisme (Paris 41964) 45.
[5] SPINOZA, Epist. IV. Werke, hg. BRUDER 2, 150f.
[6] Eth. I, Prop. 31, Dem.; II, Ax. III.
[7] Eth. I, Prop. 21, Dem.; Prop. 31, Dem.
[8] Eth. II, Prop. 1.
[9] Eth. II, Def. III.
[10] Eth. II, Prop. 20.
[11] Eth. II, Ax. III.
[12] Eth. II, Prop. 49, Dem. Cor.
[13] Eth. I, Prop. 31.
[14] Eth. II, Prop. 11, Cor.
[15] CRAMER, a.a.O. [3] 97.
[16] SPINOZA, Eth. II, Prop. 21, Schol.
[17] ebda.
[18] CRAMER, a.a.O. [3] 102.
[19] DELBOS, a.a.O. [4] 45. 75.
4. LEIBNIZ, der im Gegensatz zu Spinoza das Universum als Vielheit
von aktiven Monaden begreift, unterscheidet sich von Descartes
grundlegend durch seine Methodenlehre, in der die Synthese den höheren
Rang gegenüber der Analyse (s.d.) einnimmt. Daher macht er gegen
Descartes' «Ego cogito» geltend, es sei nicht schlechthin das erste
Prinzip aller Wissenschaften. In der notwendigen Unterscheidung zwischen
Vernunft- und Tatsachenwahrheiten muß «das Prinzip der Kontradiktion
oder des Identischen» als «erste Vernunftwahrheit» angesehen werden.
«Erste Tatsachenwahrheiten» aber gibt es viele, da sie nicht nur im «Ego
cogito» bestehen; denn «im Begriff cogitans liegt der Bezug auf ein
Objekt, das gedacht wird» [1], und so gehört zu den ersten
Tatsachenwahrheiten auch alles, was von mir gedacht wird: mein Gedachtes
als solches: «non tantum autem mei cogitantis, sed et mearum
cogitationum conscius sum» [2].
Leibniz kennt von cogitare bzw. penser einen «mehr allgemeinen» und
einen mehr spezifischen Sinn und bemerkt, auch im eigenen Gebrauch
darauf nicht immer geachtet zu haben [3]. Im weiteren Sinn kann D. auch
die unbewußten Perzeptionen einschließen. In diesem Sinn heißt es:
«cogitans est repraesentans» [4]. Im engeren Sinn ist D. die bewußte
Apperzeption (s.d.), die nur den geistigen Wesen zukommt [5] und
«conscience ou la connaissance reflexive de cet état intérieur» besagt
[6]. Eine entsprechende Bestimmung von cogitans lautet: «Cogitans est,
quod est conscium suarum actionum seu habet actum reflexivum» [7].
Auch mit dieser Unterscheidung, vor allem aber mit der damit
verbundenen These, auch Tiere besäßen eine wahrnehmende Seele [8],
distanziert sich Leibniz von Descartes. Seiner Überzeugung nach ist
nicht erst vernünftiges Bewußtsein, sondern auch schon das Perzipieren
der Tiere «mechanisch nicht zu erklären» [9]. Gegen Descartes'
Bestimmung der cogitatio auch als Wesensattribut des Geistes bestimmt
Leibniz endlich das D. eindeutig als Akt, nicht als Wesen der Seele
[10]. Wie schon bei Aristoteles und Augustinus wird D. daher vom
habituellen Wissen unterschieden [11].
Wird D. im engeren Sinn zur Bezeichnung der «reflexiven Akte»
gebraucht, «qui nous font penser à ce qui s'appelle Moy, et à considerer
que cecy ou cela est en Nous: et c'est ainsi, qu'en pensant à nous, nous
pensons à l'Etre ... et à Dieu» [12], dann bleibt es freilich noch eine
allgemeine, viele geistige Erkenntnisakte umfassende Bezeichnung.
Leibniz gebraucht cogitatio auch schlechthin synonym mit cognitio (z.B.
cognitio intuitiva – cogitatio intuitiva; cognitio symbolica – cogitatio
symbolica) [13]. Daher dürfte die alte Bestimmung, daß D. jedes aktuelle
geistige Betrachten bezeichnet, für Leibnizens Sprachgebrauch zutreffen.
Daß D. für ihn nicht primär oder gar ausschließlich das diskursive D.
bezeichnet, das er als «transitus cogitantis» faßt [14] und synonym mit
«ratiocinari» gebraucht, zeigt schon die Rede von der «cogitatio
intuitiva», weshalb Leibniz auch – im Unterschied etwa zu Thomas von
Aquin – von einer «cogitatio divina» sprechen kann [15].
Endlich muß auf Leibnizens Bedeutung für Theorie und Normierung des
diskursiven D. hingewiesen werden, die in seiner Lebensarbeit an der
«Ars combinatoria» (s.d.) und der zu ihr gehörenden «Characteristica
universalis» (s.d.) liegt. Diese «Ars Magna cogitandi» [16], deren
Gegenstand «das Denkbare im allgemeinen» ist [17], soll ein
vollständiges «Alphabet der menschlichen Gedanken» [18] geben, das in
der «Characteristica universalis» durch ein System von Zeichen
repräsentiert wird, um so alle logischen Operationen rechnerisch
durchführen zu können und kombinatorisch neue Wahrheiten zu finden.
Unter der Devise: «calculemus» [19] wird das diskursive D. im
ursprünglichen Wortsinn von «ratiocinari» ein Rechnen.
Während Leibnizens Bemühungen um eine Verbindung von metaphysischer
Analyse der Gedanken mit Logik, Mathematik und «Sprachanalyse» (analysis
linguarum) [20] wenig bekannt wurden – immerhin gibt J. H. LAMBERT in
seinem Neuen Organon (1764) neben der «Dianoiologie» eine «Semiotik oder
Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge» [21] –, nimmt die
deutsche Schulphilosophie seinen Sprachgebrauch von cogitare, besonders
die Abhebung des D. vom unbewußten Perzipieren, auf. Nicht «dunckele und
undeutliche Empfindungen», wie man sie im Schlafe haben mag, sind
«Gedancken»; denn zu ihnen ist «insgemein ... das Bewußtseyn erfordert»
[22]. Auch in seinen lateinischen Schriften definiert CHR. WOLFF so:
«Cogitatio igitur est actus animae, quo sibi rerumque aliarum extra se
conscia est» (D. ist also der Akt der Seele, wodurch sie sich ihrer und
der anderen Dinge außer ihr bewußt ist) [23]. Ähnliche Bestimmungen
finden sich schon bei CHR. THOMASIUS, dann z.B. bei G. B. BILFINGER oder
CHR. A. CRUSIUS [24].
Anmerkungen.
[1] LEIBNIZ, Opuscules et fragments, hg. L. COUTURAT (= OpC.) (Nachdruck
1961) 361.
[2] Animadversiones in part. gen. Princ. Cart. I, 7. Philos. Schriften,
hg. GERHARDT (= Gerh.) 4, 357.
[3] Nouveaux Essais, hg. A. ROBINET und H. SCHEPERS. Akad.-A. VI, 6 (=
NE) 210.
[4] OpC. 331.
[5] Principes de la Nature et de la Grâce. Gerh. 6, 600.
[6] ebda.; vgl. Monadol. 14. Gerh. 6, 608.
[7] OpC. 438.
[8] Gerh. 6, 600. 609.
[9] Gerh. 6, 609.
[10] NE 161.
[11] NE 86f.
[12] Monadol. 30. Gerh. 6, 612.
[13] Meditationes de Cognitione. Gerh. 4, 422ff.
[14] OpC. 495.
[15] OpC. 528.
[16] OpC. 429.
[17] OpC. 512.
[18] OpC. 430, 435.
[19] Scientia Generalis Characteristica. Gerh. 7, 200.
[20] OpC. 351.
[21] J. H. LAMBERT: Neues Organon ... (1764) Teil 2, Semiotik § 12.
[22] CHR. WOLFF: Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des
menschlichen Verstandes (1713, zit. 21719) Cap. I, § 2.
[23] Psychol. empirica ... (1732) § 23.
[24] CHR. THOMASIUS: Einl. zu der Vernunfft-Lehre (1691, Nachdruck 1968)
101f.; G. B. BILFINGER: Dilucidationes philosophicae de Deo, anima
humana ... (1725) § 240; CHR. A. CRUSIUS: Entwurf der nothwendigen
Vernunft- Wahrheiten ... (1745, Nachdruck 1963) § 426.
5. Während Descartes zugleich mit der Aufnahme des durch die neue
Naturwissenschaft gestellten Problems des methodisch wissenschaftlichen
D. die Tradition der Metaphysik fortführt, übernimmt die englische
Philosophie das empiristische Programm BACONS, indem sie wie dieser aus
einer «innigen Verbindung der Erfahrung mit der Vernunft, welche bisher
noch nicht stattgefunden hat ... nun Alles» erwartet [1].
Gemäß seinem entscheidenden Begriff des D. als ratiocinatio ist
Philosophie für HOBBES «durch recta ratiocinatio erworbene Erkenntnis
(acquisita cognitio) der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren
erkannten Ursachen» [2]. Recta ratiocinatio, als methodisches und das
heißt mittels mathematischer Methode abgesichertes D., erzeugt
Erkenntnis, die zum Ziel Macht hat: «Scientia propter potentiam» [3].
Die Logik, mit der De corpore, der erste Teil des Systems Elementa
philosophiae, beginnt, heißt demgemäß auch «Computatio»: D. ist Rechnen
(Per ratiocinationem autem intelligo computationem) als addierendes und
substrahierendes Operieren des Geistes (Recidit itaque ratiocinatio
omnis ad duas operationes animi, additionem et substractionem) [4] mit
Begriffen bzw. Namen [5]. Hobbes verdeutlicht dies noch durch folgende
Begriffe: «Rem autem quamcumque addimus vel adimimus, id est, in
rationes referimus, eam dicimur considerare, Graece logizestai, sicut
ipsum computare sive ratiocinari syllogizestai nominant» (Was aber für
eine Sache wir auch immer hinzufügen oder wegnehmen, d.h. in Beziehungen
setzen, so heißt das, wir überlegen sie, griechisch logizestai, so wie
sie das Rechnen oder Schließen selbst syllogizestai nennen) [6].
Zu der im Cartesianismus viel diskutierten Frage, ob das D. Wesen
bzw. Attribut oder Tätigkeit der Seele sei [7], nimmt LOCKE eindeutig
Stellung: «Thinking is the Action, not the Essence of the Soul» [8], und
er versteht D. allgemein als verbindende Beschäftigung des Geistes mit
ideas (Begriffe, Vorstellungen). Idea (auch: phantasm, notion, species,
character) ist «the object of the understanding when a man thinks» [9].
Locke muß erklären, wie Begriffe – nicht Worte – im Geist entstehen,
wenn dieser zunächst als «empty cabinet» angesehen wird [10]. Die
Bildung von simple ideas wird durch experience erklärt. Erfahrung ist
zusammengesetzt aus sensation (observation «about external sensible
objects») und reflection (observation «about the internal operations of
our minds»): «These two are the fountains of knowledge, from whence all
the ideas we have ... do spring» [11]. Reflection – der wolffianisch
beeinflußte Übersetzer und Kommentator POLEY übersetzt 1757 mit
«Überdenken» [12] – ist Oberbegriff für alle Verstandesoperationen wie
«perception, thinking, doubting, believing, reasoning, knowing, willing»
usw. [13] und kommt damit dem cogitatio-Begriff Descartes' nahe. Ist
perception noch weitgehend passiv, also für Locke noch nicht im
eigentlichen Sinne aktives D., denn «thinking in the propriety of the
English tongue, signifies that sort of operation in the mind about its
ideas, wherein the mind is active» [14], so ist sie doch «the first
operation of all our intellectual faculties, and the inlet of all
knowledge» [15]. Die weiteren Stufen der retention (Behaltungskraft) –
aufgeteilt in contemplation (keeping the ideas) und memory (the
storehouse of our ideas) [16] –, des discerning (auch: distinguishing,
judgment) [17], der composition [18] sind nicht mehr rein passiv. Die
schöpferische Tätigkeit des Geistes wird dann deutlich an der Fähigkeit
zur Bildung von «complex ideas» [19]. Der Verstand kann «abstract
general ideas» bilden, die nach der nominalistischen Auffassung «belong
not to the real existence of things; but are the inventions and
creatures of the understanding, made by it for its own use» [20].
BERKELEY schließt ausdrücklich an Lockes Auffassung an, daß D. es
nur mit ideas zu tun habe [21], wenn er auch dessen Theorie von den
abstract (complex) ideas als scholastischen Restbestand kritisiert [22].
Dabei stellt er schon in den Philosophical Commentaries und später in
den Principles die «immaterial hypothesis» [23] an die Stelle des
cartesianischen Dualismus: «according to my Doctrine all things are
entia rationis i.e. solum habent esse in Intellectu» [24]. Dieses aktive
denkende Prinzip ist gnoseologische und ontologische Bedingung aller
Dinge: «Their esse is percipi, nor is it possible they should have any
existence, out of the minds or thinking things which perceive them»
[25]. Berkeley behält zwar Lockes Trennung von sense und reflection bei
[26], der umfassendere Begriff ist aber für ihn der der Perzeption (bzw.
der Einheit von percipiens und perceptum), wodurch «that what I see,
hear and feel doth exist» [27].
HUMES «geistige Geographie» [28], wie er seine Untersuchung über
den menschlichen Verstand nennt, teilt alle Auffassungen (perceptions)
des Geistes in zwei Klassen ein: Gedanken (thoughts) bzw. Vorstellungen
(ideas) und Eindrücke (impressions) [29]. Scheint nach geläufiger
Meinung das D. eine «unbegrenzte Freiheit» zu besitzen, so erweist es
sich doch bei näherer Prüfung, daß «all this creative power of the mind
amounts to no more than the faculty of compounding, transposing,
augmenting, or diminishing the materials afforded us by the senses and
experience» [30]. Es ist also auf Grund des erkenntnistheoretischen
Vorrangs der impressions [31] unmöglich «to think of any thing, which we
have not antecedently felt, either by our external or internal senses» [32].
Die Gegenstände der menschlichen Vernunft lassen sich für Hume
einteilen einmal in «Relations of Ideas» (Sätze der demonstrativen
Wissenschaften), die zu entdecken sind «by mere operation of thought»,
und anderseits in «Matter of Facts», deren Evidenz in der Beziehung von
Ursache und Wirkung besteht und nicht durch «reasonings a priori»,
sondern allein durch Erfahrung festgestellt werden kann [33].
Die Orientierung an Erfahrung, Sinnen und Eindrücken in der
englischen Philosophie von Hobbes bis Hume verhindert im Sinne der
Devise BERKELEYS «Eternally banishing Metaphysics &c & recalling Men to
Common Sense» [34] einerseits metaphysische Spekulation, reduziert aber
andererseits D. weitgehend auf Ordnen und Verbinden von vorgegebenem
Material, d.h. in der Sprache Kants auf Synthesis a posteriori.
Anmerkungen.
[1] F. BACON, Novum Organum I, 95; dtsch. A. T. BRÜCK (1830, Nachdruck
1962) 74.
[2] TH. HOBBES, Elementa philos. I, 1, 2 = Opera 1, hg. W. MOLESWORTH
(21966) 2; vgl. 58f.
[3] a.a.O. I, 1, 6 = 1, 6.
[4] I, 1, 2 = 1, 3.
[5] I, 2, 5 = 1, 15.
[6] I, 1, 3 = 1, 5.
[7] Vgl. den Bericht über diese Kontroverse bei J. N. HARTSCHMID:
Immortalitas animae humanae (Argentorati 1699) 128–132.
[8] J. LOCKE: An essay conc. human understanding II, 19, 4; vgl. II, 23,
30; IV, 2, 2. 3.
[9] Introduction 8; vgl. IV, 1, 1.
[10] I, 1, 15.
[11] II, 1, 2.
[12] H. E. POLEY: Versuch vom menschlichen Verstände, aus dem englischen
und mit Anm. versehen (1757) II, 1, 4.
[13] LOCKE, a.a.O. [8] II, 1, 4; vgl. II, 6.
[14] II, 9, 1.
[15] II, 9, 15.
[16] II, 10, 1ff.
[17] II, 11, 1ff.
[18] II, 11, 6.
[19] II, 12, 1.
[20] III, 3, 11ff.; vgl. S. J. SCHMIDT: Sprache und D. als
sprach-philos. Problem von Locke bis Wittgenstein (Den Haag 1968).
[21] G. BERKELEY, Philos. Commentaries (= PhC) 50 nach der Ordnung der
Works 1, hg. A. A. LUCE/T. E. JESSOP = Nelson-A. (London 1948).
[22] Vgl. die ganze Einl. zu: The principles of human knowledge. Works 2
(1949) (= Princ).
[23] PhC 19.
[24] PhC 474; vgl. 437. 437 a. 578.
[25] Princ. 3; vgl. PhC 429; Princ. 23.
[26] Vgl. Princ. 1. 25. 36.
[27] Princ. 40.
[28] D. HUME: An enquiry conc. human understanding Sect. I, 8, hg. L. A.
SELBY-BIGGE (London 21902, Nachdruck 1963) (= SB) 13.
[29] a.a.O. II, 12 = SB 18.
[30] II, 13 = SB 19.
[31] ebda.
[32] VII/I, 49 = SB 62.
[33] IV/I, 20–23 = SB 25ff.
[34] BERKELEY, PhC 751.
E. – 1. Im letzten Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft, der
Geschichte der reinen Vernunft, typologisiert KANT die Geschichte der
Philosophie in die der «Sensual»- und «Intellektualphilosophen» [1].
Dieses geschichtliche Interpretament auch zur systematischen
Beschreibungsfigur der Vernunft selbst gemacht zu haben und zugleich im
Begriff der Vernunft, wenn auch nicht als Objekt des Erkennens, wohl
aber als Noumenon, die Themen der Metaphysik präsent gehalten zu haben,
ist die Leistung der Transzendentalphilosophie, wodurch sie zum einen
die rationalistischen und empiristischen Behandlungen des D. ab
Descartes zu einem gewissen Abschluß bringt und zum andern die
Dimensionen des Begriffs D. derart erweitert, daß die idealistische
Philosophie daran anschließen konnte. «Selbst denken, in der Stelle
jedes andern denken, jederzeit mit sich einstimmig zu denken ... Das
Bewußtseyn seines Vermögens und seines Berufs, selbst zu denken, ist
Aufklärung» [2]. Dieser Revolution der Denkungsart als «Selbstdenken»
entspricht die Revolution der Denkart, die kopernikanische Wende der
Philosophie, die in der Einsicht besteht, «daß die Vernunft nur das
einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt» [3].
Transzendentalphilosophie ist wesentlich «Autonomie der reinen Vernunft
sich selbst synthetisch a priori (das Subject zum Object) zu machen
dadurch verhütet wird daß die transc Principien nicht transcendent d.i.
die Erscheinungen nicht Objecte an sich und ausser unsrem D. werden»
[4]. Transzendentalphilosophie «ist das D. was vor allem Erkenen und
lehren cognitio doctrina Setzen vorher geht» [5].
D. ist nicht Reproduktion, sondern Produktion von Wirklichkeit. Die
Möglichkeit des Entwurfs ist bedingt durch die Aufgliederung in zwei
ganz heterogene, aber aufeinander angewiesene Erkenntniskräfte: den
Verstand, der im D. Begriffe als Möglichkeit setzt, und die Anschauung a
priori, die unter den Bedingungen von Raum und Zeit Objekte sinnlich
gegenständlich macht [6]. D. heißt in der Auseinandersetzung mit dem
Widerspruchsprinzip der Schulphilosophie zunächst nur, etwas als möglich
setzen (s. die Kritik am ontologischen Argument [7] und die Kritik am
cartesianischen «cogito» und allgemein am «ich denke» [8]). D. kann man,
was man will, solange es nicht sich widersprechend ist. Erkenntnis wird
erst daraus, wenn ihm etwas in der Anschauung korrespondiert: «Ohne
Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner
gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne
Begriffe sind blind» [9].
Der transzendentalen Logik geht es in Absetzung von der allgemeinen
darum, Begriffe zu finden, «die sich a priori auf Gegenstände beziehen
mögen, nicht als reine oder sinnliche Anschauungen, sondern bloß als
Handlungen des reinen D.» [10]. Die cartesianische Erkenntnisposition
«einer von der Welt isolierten, denkenden Substanz» [11] ist damit für
Kant aufgehoben. D. in spontan gebildeten reinen Begriffen der Synthesis
konstituiert Welt. Diese Begriffe als «Prädicate möglicher Urtheile»
[12] sind dann als Transzendentalbegriffe legitimiert, wenn angenommen
werden kann, daß deren Einteilung «systematisch aus einem
gemeinschaftlichen Princip, nämlich dem Vermögen zu urtheilen, (welches
eben so viel ist, als das Vermögen zu denken,) erzeugt und nicht
rhapsodistisch» ist [13]. Die so gefundenen Kategorien, abgesichert in
der transzendentalen Deduktion, sind «nur Regeln für einen Verstand,
dessen ganzes Vermögen im D. besteht, d.i. in der Handlung, die
Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung
gegeben worden, zur Einheit der Apperception zu bringen, der also für
sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zum Erkenntnis, die
Anschauung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und
ordnet» [14]. D. ist also für Kant Verbinden, Ordnen, Urteilen, Handeln,
die reine Synthesis a priori der transzendentalen Apperzeption. Dieser
Bestimmung – in der Bevorzugung des D. als Urteilen – hat sich die an
Kant unmittelbar anschließende Diskussion zu eigen gemacht, so etwa
deutlich durch die Wörterbücher zu Kant (C. CHR. E. SCHMID, PH. U.
MAHLER, G. S. A. MELLIN) [15] und u.a. durch die Schriften J. H.
ABICHTS, L. H. JAKOBS, J. G. BUHLES, J. WEBERS, J. G. E. KIESEWETTERS,
S. MAIMONS, aber auch F. H. JACOBIS [16].
Für KANT ist damit im Bereich der theoretischen Vernunft geklärt,
daß der Gebrauch der Vernunft nur hypothetisch, d.h. regulativ oder
heuristisch ist, da das Vernunftallgemeine, die Idee, nicht anders als
problematisch angenommen werden kann. Die «systematische Einheit», die
die Vernunft dem Verstand supponiert, ist nur als Problem aufgegebene
«projektierte Einheit» [17], der «kein Schema in der Anschauung»
entsprechen kann, zu der sich aber ein «Analogon eines solchen Schemas»
«bestimmt gedenken» läßt [18]. Kant spricht in diesem Zusammenhang von
dem spekulativen «Interesse der Vernunft», subjektive Grundsätze oder
«Maximen der Vernunft» zu denken [19], die – in der Sprache moderner
Wissenschaftstheorie gesagt – als Hypothesen niemals verifiziert, aber
auch niemals falsifiziert werden können. Die Vernunftideen, in denen die
prinzipielle Unendlichkeit und Unvollendbarkeit des D. deutlich wird,
verhindern die Fixierung und Identifizierung des Verstandes auf einen
und mit einem erreichten Erkenntnisstand (ignava ratio) [20].
Zugleich wird im Vernunftbegriff das «D. des Übersinnlichen»
präsent gehalten [21]: «Es ist nicht ein cognoscibile als Intelligibele
sondern x weil es außer der Form der Erscheinung ist aber doch ein
cogitabile (und zwar als nothwendig denkbar) was nicht gegeben werden
kan aber doch gedacht werden muß weil es in gewissen anderen
Verhältnissen die nicht sinnlich sind vorkommen kan. Das Ding an sich
ist das Denkbare (cogitabile) durch Begriffe» [22]. Diese Einschränkung
der Beschränkung des Verstandes in der Erweiterung der Objekte des D.
wird zunächst in der Auflösung der dritten Antinomie wichtig. Innerhalb
des Entwurfs des transzendentalen Idealismus ist es möglich, einen
transzendentalen Begriff von Freiheit zu denken, der dem intelligiblen
Charakter des Menschen Rechnung trägt und zugleich die durchgängige
Kausalität in der Erscheinung anerkennt: «Dieser intelligibele Grund
ficht gar nicht die empirischen Fragen an, sondern betrifft etwa bloß
das D. im reinen Verstände; und obgleich die Wirkungen dieses D. und
Handelns des reinen Verstandes in den Erscheinungen angetroffen werden,
so müssen diese doch nichts desto minder aus ihrer Ursache in der
Erscheinung nach Naturgesetzen vollkommen erklärt werden können» [23].
Freiheit, in der Kritik der reinen Vernunft «nur als transzendentale
Idee behandelt, wodurch die Vernunft die Reihe der Bedingungen in der
Erscheinung durch das Sinnlichunbedingte schlechthin anzuheben denkt»
[24], erhält im Bereich der praktischen Vernunft, deren Begriffe und
Prinzipien völlig a priori sind, objektive Realität. Indem «die
praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hinein denkt», gewinnt
sie den «Standpunkt», «um sich selbst als praktisch zu denken» [25]. Von
diesem Standpunkt aus, dem das «Faktum» des Sittengesetzes bewußt ist,
ist die Kategorie der Kausalität aus Freiheit – auch praktische Vernunft
kann nicht anders als in Kategorien denken [26] – nicht nur als
Denkmöglichkeit, sondern auch als eine den Willen frei verursachende
Wirklichkeit gesichert.
Wenn Kant im Zusammenhang mit teleologischen Überlegungen
(Organismus, Zweck, Endzweck), z.B. im § 77 der Kritik der Urteilskraft,
die Denkmöglichkeit eines «anderen Verstandes», eines «intellectus
archetypus» erörtert, der als «Synthetisch-Allgemeiner» in spontaner
intellektueller Anschauung intuitiv und nicht-diskursiv ein Ganzes
anschaut, in dem die Teile schon enthalten sind, so ist für HEGEL Kant
hier auf die «Erfahrung von dem D. eines nicht discursiven Verstandes»
geführt worden und spricht damit die «Idee der Vernunft» aus, doch hat
er sich für die «Erscheinung derselben [sc. der Vernunft] als
Erkenntnisvermögen» entschlossen und «die Nothwendigkeit, das
Vernünftige, eine anschauende Spontaneität zu denken, verachtet» [27].
Anmerkungen.
[1] KANT, KrV B 881.
[2] Akad.-A. 15/2, 820. 822, Nr. 1508.
[3] KrV B XIII.
[4] Opus postumum. Akad.-A. 21, 115, 18–21.
[5] a.a.O. 89, 1f.
[6] KrV B 74f.; KU § 76.
[7] KrV B 620–630, bes. 628f.
[8] B 405, B 158 Anm., B 428ff.
[9] B 75.
[10] B 81; vgl. B 304.
[11] F. KAULBACH: Immanuel Kant (1969) 159.
[12] KANT, KrV B 94; vgl. B 93.
[13] B 106.
[14] B 145.
[15] C. CHR. E. SCHMID: Wb. zum leichten Gebrauch der Kantischen
Schriften ... (31795) s. v. D. 160–163; vgl. Anhang: Einige Bemerkungen
über den Empirismus und Purismus in der Philos ... 539–590, bes. 561; G.
S. A. MELLIN: Encyclop. Wb. der krit. Philos. 2/1 (1799) 53f.; PH. U.
MAHLER: Wb. zur Kritik der reinen Vernunft und zu den philos. Schriften
von Herrn Kant (1788) 49.
[16] J. H. ABICHT: Philos. der Erkenntnisse (1791) § 47, Anm. 2; L. H.
JAKOB: Grundriß der allg. Logik und krit. Anfangsgründe der allg. Met.
(1791, 41800) §§ 77ff. § 186; J. G. BUHLE: Einl. in die allg. Logik und
die Kritik der reinen Vernunft (1795) §§ 29ff.; vgl. Entwurf der
Transcendentalphilos. (1798) 65; J. WEBER: Versuch, die harten Urtheile
über die Kantische Philos. zu mildern (1796) 3. 14; J. G. E.
KIESEWETTER: Grundriß einer allg. Logik nach Kantischen Grundsätzen 1
(1796, 31802) § 12; F. H. JACOBI, Werke 2 (1815) 3–125, bes. 51f.; S.
MAIMON: Versuch einer neuen Logik oder Theorie des D. (1794; Nachdruck
1970) 186. 306.
[17] KANT, KrV B 675.
[18] B 693.
[19] B 694. 714.
[20] B 717.
[21] KpV. Akad.-A. 5, 141.
[22] Opus postumum. Akad.-A. 22, 23f.
[23] KrV B 573f.
[24] B 586.
[25] Grundlegung zur Met. der Sitten. Akad.-A. 4, 458; vgl. KpV.
Akad.-A. 5, 96–99.
[26] KpV. 5, 103. 114–118.
[27] Vgl. HEGEL, Glauben und Wissen. Hist.-krit. A., hg. H. BUCHNER/O.
PÖGGELER 4 (1968) 341.
2. Hatte KANT am cartesianischen «cogito» kritisiert, daß man aus
diesem keine Prädikate wie Sein, Substanz oder Unsterblichkeit ableiten
dürfe, da cogito kein Begriff, sondern nur das alle Begriffe =
Denkhandlungen Begleitende sei [1], und hatte er damit die Einheit des
Selbstbewußtseins als «synthetische Einheit der Apperzeption» [2] auf
einen Verstand beschränkt, dem eine intellektuelle Anschauung unmöglich
ist, so greift FICHTES Wissenschaftslehre hier die Kantische
Fragestellung auf. Fichte setzt als höchstes Subordinationsprinzip das
«Princip der Subjectivität überhaupt» [3] und faßt deren «Thathandlung»
in die Formel: «Ich bin schlechthin, d.i. ich bin schlechthin, weil ich
bin; und ich bin schlechthin, was ich bin» [4]. Darauf ist alles D.
gegründet: «Man kann gar nichts denken, ohne sein Ich, als sich seiner
selbst bewußt, mit hinzu zu denken; man kann von seinem Selbstbewußtseyn
nie abstrahiren» [5]. Die Setzung von Ich und Nicht-Ich durch das Ich
und im Ich [6] ist Fundament alles D.; als «ein ursprünglich in unserm
Geiste vorkommendes Faktum» [7] aber selbst «kein D., kein Anschauen,
kein Empfinden, kein Begehren, kein Fühlen, u.s.f. sondern es ist die
gesammte Thätigkeit des menschlichen Geistes, die keinen Namen hat, die
im Bewußtseyn nie vorkommt, die unbegreiflich ist» [8]. Am ehesten zu
fassen ist dieses Unbegreifliche durch das «Schweben» der produktiven
Einbildungskraft [9]. Doch dieses Schweben der Einbildungskraft wird
fixiert «durch [die] Spontaneität der Reflexion selbst» [10]. Fichte
faßt dann den Vollzug der Reflexion zusammen als «die Thätigkeit zur
Selbstbestimmung, Bestimmung eines fixierten Produkts der
Einbildungskraft im Verstände durch die Vernunft: mithin ein D. Das
Anschauende bestimmt sich selbst zum D. eines Objekts. Insofern das
Objekt durch das D. bestimmt wird, ist es ein Gedachtes» [11].
In seinen frühen Schriften schließt SCHELLING noch ganz an Fichtes
Bestimmung der transzendentalen Subjektivität an als des «letzten
Punktes der Realität», wodurch «alles, was gedacht wird, zur Realität,
und das D. selbst zur Form der Einheit und Unwandelbarkeit gelangt»
[12]. «Beim Unbedingten muß das Princip seines Seyns und das Princip
seines D. zusammenfallen». Insofern ist die letzte Antwort auf die Frage
nach den Prinzipien für Schelling: «Ich bin, weil Ich bin»; denn «mein
Ich enthält ein Seyn, das allem D. und Vorstellen vorhergeht. Es ist,
indem es gedacht wird, und es wird gedacht, weil es ist; desswegen, weil
es nur insofern ist und nur insofern gedacht wird, als es sich selbst
denkt ... Es bringt sich durch sein D. selbst – aus absoluter Causalität
– hervor» [13]. Er kritisiert insofern ebenso den cartesianischen wie
den kantischen Ansatz beim «Ich denke», weil dadurch das Denkende
entweder zum «logischen Objekt» oder zum «bloßen Ausdruck der Einheit
der Apperzeption» würde; vielmehr ist das «absolute Ich», in welchem D.
und Sein zusammenfallen, als «reines Ich in intellectualer Anschauung
als absolute Realität bestimmt» [14]. In seiner Identitätsphilosophie
bezeichnet Schelling das Selbstbewußtsein als die Identität von «Subjekt
und Objekt des D.», d.h. als «die Fertigkeit, sich in diesem Akt
anzuschauen, sich als Gedachtes und als Denkendes zu unterscheiden und
in dieser Unterscheidung wieder als identisch anzuerkennen» [15]. Diese
Identität wird hervorgebracht durch die intellektuelle Anschauung, ohne
die «das Philosophiren selbst kein Substrat [hat], was das D. trüge und
unterstützte». «Die intellektuelle Anschauung ist das Organ alles
transcendentalen D. Denn das transcendentale D. geht eben darauf, sich
durch Freiheit zum Objekt zu machen, was sonst nicht Objekt ist ...., so
daß das Produciren des Objekts und das Anschauen selbst absolut Eines
ist» [16].
In der Spätphilosophie der Mythologie und Offenbarung wird die
Frage von D. und Sein auf den drei Ebenen des reinen D., der rein
rationalen oder negativen Philosophie und der positiven Philosophie als
«Programm des Selbstgeschehens des D.» behandelt: «Diese drei Ebenen
nehmen ihren Unterschied von der unterschiedlichen Stellung des D., d.h.
von der unterschiedlichen Beziehung des D. aufs Sein. Auf der ersten
denkt das D. unmittelbar seinen Inhalt, auf der zweiten entfaltet es ihn
als die universale Möglichkeit seiner selbst und darin dessen, was sein
kann, auf der dritten wird ihm diese seine Möglichkeit der begreifende
Begriff der wirklichen Wirklichkeit, die es als D. gerade nicht mehr aus
sich ableiten kann, um die es ihm indessen letztlich einzig geht, und
die es entgegenzunehmen und im Entgegennehmen begreifend in sich zu
setzen vermag» (K. Hemmerle) [17].
Schon mit der Differenzschrift von 1801 wird die HEGEL
eigentümliche und sich bis in die Spätzeit durchhaltende Methode
deutlich, die ihm vorangehenden Philosophien als notwendige Stufen der
Entwicklung des Geistes zu begreifen, die sich mit ihm vollendet. So
sieht er in dem Fichteschen Prinzip des «reinen D. seiner selbst, die
Identität des Subjekts und des Objekts» postuliert, aber nur von der
Seite des Subjekts aus vollzogen [18]; Schellings Identitätsphilosophie
setze nur die Identität von D. und Sein und habe, in Verkennung des
Spezifischen der neueren Philosophie – der Entzweiung –, Reflexion und
Wissen damit ganz vernichtet [19]. Trotz der Anerkennung der
spekulativen Intention des Philosophierens seit Kant kann er dieses
dennoch nur als Reflexion bezeichnen, also als die Form des D., die sich
der vernünftigen, und das heißt denkenden Beziehung aufs Absolute nicht
bewußt ist: «Wird das D. nicht als die absolute Thätigkeit der Vernunft
selbst gesetzt ..., sondern gilt D. nur für ein reineres Reflektiren
..., so kann ein solches abstrahirendes D. aus dem Verstände nicht
einmal zur Logik heraus kommen ..., vielweniger zur Philosophie» [20].
Hegels D. ist der Versuch, unter Anerkennung des kritischen Standpunktes
und im Bewußtsein der Geschichte, das Absolute im Gedanken begreiflich
zu machen.
D. ist für Hegel in der nicht philosophisch bestimmten
Allgemeinheit jede Hervorbringung des menschlichen Geistes – also auch
Anschauung, Erinnerung, Gefühl, Wille, Verstand usf. [21]. «Das D. [ist]
das Wesentliche, Allgemeine, von dem alles Andere produziert wird» [22].
Auch «Staat, Religion, Wissenschaften, Künste usw. sind ...
Produktionen, Wirkungen des Gedankens», aber alle diese Entäußerungen
sind an Gegenstände gebunden und mit Besonderem, Sinnlichem vermischt
[23]. Der sich so äußernde Gedanke erscheint als «abgegrenzter Gedanke»
[24]. Die Philosophie betrachtet demgegenüber «das Wesen des
Gegenstandes, und dies Wesen ist der Gedanke selbst» [25]. Philosophie
ist in der Beziehung des D. auf sich selbst «das D. des D.» [26], das
allgemein als die Fähigkeit verstanden wird, in Form des Begriffs, in
der Sprache als «Werk des Gedankens» [27], das Allgemeine zu
produzieren: «Etwas als Allgemeines setzen, – d.i. es als Allgemeines
zum Bewußtsein bringen – ist bekanntlich D.» [28]. Daher ist das D.
gegen die bloße wahrnehmende Vorstellung abzugrenzen, weil die letztere
es nur mit dem Unwesentlichen und Einzelnen zu tun hat, während das D.
auf das Allgemeine ausgeht. Das Allgemeine ist ein Ergebnis der Kraft
des Zusammenfassens; daher kehrt auch bei Hegel der Hinweis wieder, daß
das D. ein Verbinden, ein «Auffassen und Zusammenfassen des
Mannigfaltigen in der Einheit» ist [29].
Mit der Religion hat Philosophie den Inhalt, die absolute Idee,
gemeinsam. Aufgabe ist es, die Form des Begriffs so zu vollenden, daß
der Inhalt der Religion denkend erfaßt und bewahrt werden kann [30]. Mit
den nichtphilosophischen Wissenschaften, deren Erkenntnismittel
Erfahrung und Räsonnement sind, hat Philosophie die Methode des
Selbstdenkens gemeinsam, die in der Erfahrung das Allgemeine, das
Gesetz, aufsuchen läßt. Indem sie die «Einzelnheiten der Erscheinung»
denkend in «allgemeine Bestimmungen, Gattungen und Gesetze» umwandeln,
bereiten sie «jenen Inhalt des Besonderen dazu, in die Philosophie
aufgenommen werden zu können». Die Philosophie hebt im Aufnehmen dieses
Inhalts «durch das D. die noch anklebende Unmittelbarkeit» auf und gibt
ihm «die wesentlichste Gestalt der Freiheit (des Apriorischen) des D.
und die Bewährung der Notwendigkeit» [31]. Das «Bedürfnis der
Philosophie» kann darin bestimmt werden, daß es also in allen
Tätigkeiten des menschlichen Bewußtseins den Geist tätig sieht, sich
aber erst dann befriedigt fühlt, wenn der Geist «im Gegensatze oder bloß
im Unterschiede von diesen Formen seines Daseins und seiner Gegenstände,
auch seiner höchsten Innerlichkeit, dem D., Befriedigung verschaffe und
das D. zu seinem Gegenstande gewinne. So kommt er zu sich selbst, im
tiefsten Sinne des Wortes, denn sein Prinzip, seine unvermischte
Selbstheit ist das D.» [32].
Hegel anerkennt als das Epochemachende der Philosophie seit
Descartes und Kant die Einsicht, daß D. Tätigkeit des Subjekts ist: «Das
D. als Subjekt vorgestellt ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des
existierenden Subjekts als Denkenden ist Ich» [33]. «Indem im Nachdenken
ebensosehr die wahrhafte Natur zum Vorschein kommt, als dies D. meine
Tätigkeit ist, so ist jene ebensosehr das Erzeugnis meines Geistes, und
zwar als denkenden Subjekts, Meiner nach meiner einfachen Allgemeinheit,
als des schlechthin bei sich seienden Ichs, – oder meiner Freiheit»
[34]. Diese Verteidigung der Subjektivität bedeutet aber keine
Anerkennung der schlechten Subjektivität, die sich in den Formen des
Meinens, des Gefühls, der Begeisterung, der Einbildungskraft oder der
intellektuellen Anschauung äußert, sondern D. der Subjektivität
bedeutet, «das besondere Meinen und Dafürhalten fahren zu lassen und die
Sache in sich walten zu lassen» [35]. D. als Waltenlassen einer Sache
selbst wird ermöglicht durch die «Dialektik des Begriffs»: «Diese
Dialektik ist dann nicht äußeres Tun eines subjektiven D., sondern die
eigene Seele des Inhalts, die organisch ihre Zweige und Früchte
hervortreibt» [36]. Im D. entwickelt sich das Selbstbewußtsein als
«denkendes Bewußtsein überhaupt», «denn nicht als abstraktes Ich,
sondern als Ich, welches zugleich die Bedeutung des Ansichseins hat,
sich Gegenstand sein, oder zum gegenständlichen Wesen sich so verhalten,
daß es die Bedeutung des Fürsichseins des Bewußtseins hat, für welches
es ist, heißt denken». Im D. ist die Hegelsche Bestimmung von Freiheit
im Andern bei sich selbst sein erfüllt: «Im D. bin Ich frei, weil ich
nicht in einem Andern bin, sondern schlechthin bei mir selbst bleibe und
der Gegenstand, der mir das Wesen ist, in ungetrennter Einheit mein
Fürmichsein ist; und meine Bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in
mir selbst» [37]. Indem so der Geist im D. sich selbst zum Gegenstand
macht und insofern in der «Einheit des Seins und des Denkens» da ist
[38], kommt er als ein freier in sich zurück: «Dieses Vermögen, diese
Kraft, im Negativen seiner selbst bei sich zu sein, ist auch die
Freiheit des Menschen.» Die Bestimmung der Negativität kennzeichnet die
Bewegung oder Entwicklung des Geistes als «eine Entfremdung, eine
Entzweiung; aber es ist die Natur des Geistes, der Idee, sich zu
entfremden, um sich wiederzufinden». Erst über diese Entwicklung wird
der Geist im Element des D. «sein Eigentum»: «Nur das D. ist die Sphäre,
wo alle Fremdheit verschwunden und so der Geist absolut frei, bei sich
selbst ist. Dies Ziel zu erreichen, ist das Interesse der Idee, des D.,
der Philosophie» [39].
Die Entwicklung «von dem Sichselbst-Finden des Gedankens» [40] wird
von Hegel sowohl spekulativ als auch geschichtlich gesehen. Das hat zur
Konsequenz, daß Philosophie einmal System ist als «die Darstellung der
Entwicklung des Gedankens, wie er an und für sich, ohne Beiwesen ist»,
und andererseits Geschichte als «diese Entwicklung in der Zeit» [41].
Stellt die Phänomenologie die Entwicklung des Geistes von der sinnlichen
Gewißheit des Dieses bis zum absoluten Wissen dar, und ist die Logik als
«System der reinen Vernunft ... das Reich des reinen Gedankens» [42], so
ist die Geschichte des D. identisch mit dem System des D. Die
Beschäftigung mit Geschichte der Philosophie befriedigt also nicht die
«abstrakte historische Tendenz, sich mit leblosen Gegenständen zu
beschäftigen», sondern ist Philosophie selber. Geschichte des D. ist
nicht bloße Rekapitulation, sondern enthält das D.: «es ist also keine
eigentliche Geschichte, oder es ist eine Geschichte, die zugleich keine
ist» [43]. Der Vernunft stellt sich jede Philosophie dar «als eine
notwendige Denkbestimmung der Idee» [44]. Deren immanente Entfaltung in
der Logik ermöglicht es daher, die Geschichte der Philosophie, statt sie
nur rein historisch als «Gallerie der Meinungen» anzusehen, als
philosophische Wissenschaft darzustellen.
Anmerkungen.
[1] KANT, KrV A 346.
[2] a.a.O. B 134f.
[3] Brief J. G. FICHTES an K. L. Reinhold vom 28. April 1795. Akad.-A.
III/2, 314f.
[4] Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794). Akad.-A. 1/2, 260.
[5] ebda.
[6] 285.
[7] 362.
[8] Brief an Reinhold vom 2. Juli 1795. Akad.-A. III/2, 344.
[9] Wissenschaftslehre a.a.O. [4] 367f.
[10] 373.
[11] 380.
[12] F. W. J. SCHELLING: Vom Ich als Princip der Philos. oder über das
Unbedingte im menschlichen Wissen (1795). Werke, hg. K. F. A. SCHELLING
1, 162.
[13] a.a.O. 167.
[14] 207f. 204ff.; vgl. 168. 181.
[15] System des transcendentalen Idealismus (1800). Werke 3, 365.
[16] a.a.O. 369.
[17] K. HEMMERLE: Gott und das D. nach Schellings Spätphilos. (1968) 30.
[18] G. W. F. HEGEL: Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen
Systems der Philos. (1801). Werke 4, hg. H. BUCHNER/O. PÖGGELER (1968)
6f.; vgl. 63.
[19] a.a.O. 63f.
[20] 18.
[21] Vgl. Einl. in die Gesch. der Philos. von 1823 (= EGPh), hg. J.
HOFFMEISTER (31940, 1959) 82.
[22] a.a.O. 82; vgl. 97.
[23] 82; vgl. 82ff.
[24] 83.
[25] ebda.
[26] Die Vernunft in der Gesch., hg. J. HOFFMEISTER (51955) 173.
[27] Enzyklopädie der philos. Wiss. (1830) (= Enzyk.) § 20.
[28] Grundlinien der Philos. des Rechts (= RPh) § 211; vgl. § 21.
[29] Philos. Propädeutik I, § 6; II, § 2. Werke, hg. H. GLOCKNER 3, 35f.
114.
[30] EGPh 191f.
[31] Enzyk. § 12.
[32] Enzyk. § 11; vgl. EGPh 219.
[33] Enzyk. § 20.
[34] § 23.
[35] ebda.
[36] RPh § 31.
[37] Phänomenol. des Geistes (1807), hg. J. HOFFMEISTER (61952) 151f.
[38] a.a.O. 530.
[39] EGPh 110f.
[40] a.a.O. 81 Anm.
[41] 119.
[42] Wissenschaft der Logik (21831), hg. G. LASSON (1967) I, 31.
[43] EGPh 133.
[44] a.a.O. 145.
3. Gegen den Reflexionscharakter des D. der Aufklärung und
besonders Kants sowie später Fichtes, in dem D. als reine Spontaneität
und in der unendlichen Freiheit seiner Operationen begriffen wird,
richtet sich die Opposition von Hamann, Herder und Schleiermacher, die
die unaufhebbare Gebundenheit des D. an die Sprache betonen.
HAMANN kritisiert den «Purismus» von Kants Vernunftkritik, der die
Vernunft von Sprache unabhängig machen will [1]. Er lehnt Kants Trennung
zwischen Sinnlichkeit und Verstand ab, wonach durch jene die Gegenstände
gegeben, durch diesen gedacht werden: denn «das ganze Vermögen zu denken
beruht auf Sprache» [2], und daher «gibt uns die schlechte Busenschlange
der gemeinen Volkssprache das schönste Gleichnis für die hypostatische
Vereinigung der sinnlichen und verständlichen Naturen» [3].
Auch HERDER kritisiert an Kant, daß er in seiner Vernunftkritik
gerade das Mittel, durch das Vernunft ihr Werk vollbringt, nämlich
Sprache, übersieht: «Die menschliche Seele denkt mit Worten; sie äußert
nicht nur, sondern sie bezeichnet sich selbst auch und ordnet ihre
Gedanken mittelst der Sprache» [4]. Darum ist die Aufgabe, statt die
Vernunft zu transzendieren, nach ihrem Ursprung in der Sprache zu
fragen, und so statt der «Kritik der Vernunft» eine «Physiologie der
menschlichen Erkenntnißkräfte» [5] zu leisten.
Am deutlichsten hat SCHLEIERMACHER in seiner Dialektik die
vorgegebene Begründung des D. in der Sprache beschrieben. Er untersucht
in der Dialektik das «reine D.». Nach ihm gibt es keinen Akt des
Bewußtseins als Anfang des reinen D., «denn die Selbständigkeit des
reinen D. ist an den Besitz der Sprache gebunden» [6]. Allem D. liegt
zugrunde das Wissenwollen: «weil jedes D., auch das D. um des Genusses
und um der Praxis willen, ein Sprechen werden muß, so liegt auch in
jedem D. die Richtung auf das Wissen ... D. und Sprechen ist so eins,
daß man es nur als Inneres und Äußeres unterscheiden kann, ja auch
innerlich ist jeder Gedanke schon Wort» [7]. «Alles wirklich bestimmte
D.» bewegt sich für Schleiermacher nur in dem Zusammentreffen von
organischer Funktion (der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Eindrücke) und
intellektueller Funktion (dem bloßen Denkenwollen) [8]. «Das
Hauptzeugnis für uns ist schon dieses, daß kein wirkliches D. ohne
Sprache ist» [9]. In diesem Zusammentreffen der beiden Momente, worin
immer eine Differenz im D. mitgesetzt ist, weshalb eben Dialektik als
Verfahren zur Beendigung des Streites nötig ist [10], «ist alles
vermittelt durch die Sprache». Denn «das Sprechen ist das Dasein des D.»
[11]. In ihm liegt die Beziehung des D. auf Sein und damit auf Wissen [12].
Etwa zur gleichen Zeit ist W. v. HUMBOLDT an dem Verhältnis von D.
und Sprache interessiert, allerdings weniger in spekulativer, sondern
eher in historisch-genetischer Absicht: «Die Sprache ist das bildende
Organ des Gedankens» [13], «Die intellectuelle Thätigkeit und die
Sprache sind daher Eins und unzertrennlich von einander ... Die
intellectuelle Thätigkeit ist an die Nothwendigkeit geknüpft, eine
Verbindung mit dem Ton einzugehen, das D. kann sonst nicht zur
Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden» [14].
An früherer Stelle verdeutlicht Humboldt diese Überlegung: «Das Wesen
des D. besteht im Reflectiren, d.h. im Unterscheiden des Denkenden von
dem Gedachten». Dazu muß der Geist das Vorgestellte in einer
gegenständlichen Einheit sich entgegenstellen, denn «kein D., auch das
reinste nicht, kann anders, als mit Hülfe der allgemeinen Formen unsrer
Sinnlichkeit geschehen.» «Die sinnliche Bezeichnung der Einheiten nun
... heißt ... Sprache» [15]. Indem Humboldt den Unterschied von D. und
Sprache in dem von Subjektivität und Objektivität faßt und «wahres D.»
in der Versetzung von Subjektivität in Objektivität und umgekehrt
begreift, was nur mittels Sprache geschieht, unterscheidet er auch noch
zwischen D. in Einsamkeit für sich und D. als Mitteilung, beides in
Sprache: «Ohne daher irgend auf die Mittheilung zwischen Menschen und
Menschen zu sehn, ist das Sprechen eine nothwendige Bedingung des D. des
Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit. In der Erscheinung entwickelt
sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich» [16]. Denn «zwischen
Denkkraft und Denkkraft ... ist die einzige Vermittlerin die Sprache,
und so entsteht auch hier ihre Nothwendigkeit zur Vollendung des
Gedanken» [17]. Weil das D. derart in Sprache im historischen
Zusammenhang Gestalt annimmt, ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer
vergleichenden Sprachwissenschaft, die Humboldt zusammen mit anderen
einleitet.
Anmerkungen.
[1] J. G. HAMANN, Werke, hg. J. NADLER 3, 284.
[2] a.a.O. 286.
[3] 287.
[4] J. G. HERDER, Werke, hg. B. SUPHAN 21, 19.
[5] a.a.O. 41.
[6] F. SCHLEIERMACHER, Dialektik, hg. I. HALPERN 73.
[7] a.a.O. 86f.
[8] 111f.
[9] 113.
[10] 3f.
[11] 114.
[12] 125f. 99. 64ff.
[13] W. v. HUMBOLDT, Über die Verschiedenheiten des menschlichen
Sprachbaues § 35. Akad.-A. 6, 151; vgl. 179.
[14] a.a.O. § 35 = 152.
[15] Über D. und Sprechen. Akad.-A. 7, 581f.
[16] Über die Verschiedenheiten ... a.a.O. § 41 = 155.
[17] a.a.O. § 47 = 160; vgl. dazu J. SIMON: Die Kategorien im
gewöhnlichen und im spekulativen Satz. Wiener Jb. Philos. 3 (1970) 9ff.
F. In den verschiedensten nachidealistischen philosophischen
Ansätzen, die sich zumeist kritisch gegen die Wiederholung der
metaphysischen Tradition im Idealismus wenden, wird die Totalität des
Problems und des Begriffs D. reduziert auf Teilprobleme und auf
spezielle Begriffsinhalte. Dies begünstigt auch die Aufnahme des
Denkproblems durch die verschiedensten Einzelwissenschaften, die für
sich legitim einen jeweils verengten Denkbegriff aufnehmen. Von dieser
Verengung ist auch die Philosophie nicht ausgeschlossen.
1. F. ENGELS, der 1886/88 retrospektiv sein und Marx' Verhältnis zu
Hegel überschaut, anerkennt «die wahre Bedeutung und [den]
revolutionären Charakter der Hegelschen Philosophie ..., daß sie der
Endgültigkeit aller Ergebnisse des menschlichen D. und Handelns ein für
allemal den Garaus machte» [1]. «Die Wissenschaft vom D. ist also ...
die Wissenschaft von der geschichtlichen Entwicklung des menschlichen
D.» [2]. Doch neben dieser Anerkennung steht, daß MARX schon in den
Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) Hegel vorwirft, daß er
«die ganze Entäußerungsgeschichte und die ganze Zurücknahme der
Entäußerung ... als die Produktionsgeschichte des abstrakten, i.e.
absoluten D:, des logischen spekulativen D.» begreift [3]. Hegel fasse
damit zwar das Wesen der Arbeit als Selbsterzeugung des Menschen, aber
nur als abstrakt geistige Tätigkeit: «Die Entfremdung des
Selbstbewußtseins gilt nicht als Ausdruck, im Wissen und D. sich
abspiegelnder Ausdruck der wirklichen Entfremdung des menschlichen
Wesens» [4]. In der zweiten These über Feuerbach formuliert Marx: «In
der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht,
Diesseitigkeit seines D. beweisen» [5]. Denn, so konstatiert er in der
Deutschen Ideologie: «die ihre materielle Produktion und ihren
materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer
Wirklichkeit auch ihr D. und die Produkte ihres D.» [6].
Die Feststellung in der Deutschen Ideologie, «die unmittelbare
Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache», bedeutet für Marx, das
Problem, «aus der Welt des Gedankens in die wirkliche Welt
herabzusteigen», als das Problem zu verstehen, «aus der Sprache ins
Leben herabzusteigen» [7]. Dieses Verhältnis von D. und Sprache wird von
STALIN unter Anknüpfung an diese Stelle prinzipiell bezeichnet: «Welche
Gedanken auch immer und wann auch immer im Kopf des Menschen auftauchen
mögen, können sie nur auf der Basis sprachlichen Materials, sprachlicher
Termini und Phrasen auftauchen ... Bloße Gedanken, frei von natürlicher
Sprachmaterie, gibt es nicht» [8]. Doch steht für Stalin im Gegensatz zu
Marx die Sprache nicht in Verbindung mit dem Klassencharakter der
Gesellschaft, sondern ist «als Verbindungsmittel in einer Gesellschaft
einheitlich» [9].
1893 schreibt ENGELS an F. Mehring, daß ein Denker, der von den ihn
bewegenden «eigentlichen Triebkräften» absieht, indem er «mit bloßem
Gedankenmaterial» arbeitet, «das er unbesehen als durchs D. erzeugt
hinnimmt und sonst nicht weiter auf einen entfernteren, vom D.
unabhängigen Ursprung untersucht», sich in «Ideologie» (s.d.) und
«falschem Bewußtsein» verfängt [10]. Die Verwirklichung des Menschen und
die Möglichkeit der Erkennbarkeit dieses Prozesses vollziehen sich – so
faßt Habermas diese Seite des Marxschen Denkens in der Unterscheidung
von der idealistischen Philosophie zusammen – «nicht im Medium des D.,
sondern des Arbeitens» [11]. In den methodisch wichtigen Bemerkungen der
Einleitung zu den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie
(1857–58) wird zwar deutlich, daß auch MARX seine eigene
politisch-ökonomische Arbeit wie Das Kapital nicht anders als ein
«Gedankenganzes ... ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt
in der ihm einzig möglichen Weise aneignet», begreifen kann. Aber im
ausdrücklichen Gegensatz zu Hegel heißt dies für Marx nicht, «das Reale
als Resultat des ... D. zu fassen», sondern bedeutet «nur die Art für
das D. ..., sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes
zu reproduzieren» [12].
Anmerkungen.
[1] ENGELS, MEW 21, 267.
[2] MEW 20, 330.
[3] MARX, MEW, Erg.-Bd. 1, 572.
[4] a.a.O. 575.
[5] 3, 5.
[6] 27.
[7] 432.
[8] J. STALIN, Marxismus und Fragen der Sprachwiss., hg. H. P. GENTE
(1968) 52f.
[9] a.a.O. 38.
[10] ENGELS, MEW 39, 97.
[11] J. HABERMAS: Erkenntnis und Interesse (1968) 44.
[12] MARX, MEW 13, 632.
2. Für SCHOPENHAUER besteht der Hauptirrtum Kants darin, «daß er
das Verhältnis zwischen Empfindung, Anschauung und D. falsch gefaßt»
habe [1]. D., auch Reflexion, als «Beschäftigung des Intellekts mit
Begriffen» [2] ist «bloße Abstraktion aus der Anschauung, giebt keine
von Grund aus neue Erkenntniß» [3]: «Genau genommen hat alles D., d.h.
Kombiniren abstrakter Begriffe, höchstens Erinnerungen aus dem früher
Angeschauten zum Stoff, und auch noch indirekt, sofern nämlich Dieses
die Unterlage aller Begriffe ausmacht: ein wirkliches, d.h.
unmittelbares Erkennen hingegen ist allein das Anschauen, das neue
frische Percipiren selbst» [4]. Diesen Primat der Anschauung drückt
Schopenhauer auch durch die Begriffe der Intuition oder der
intellektualen Anschauung aus, womit er aber nicht die
«reichsunmittelbare Vernunft» der Jacobi, Fichte, Schelling (und für ihn
vor allem Hegel) erneuern will.
Mit gleichen Begriffen, außerdem «unmittelbares Wissen, immanente
Logik» [5], hält E. VON HARTMANN in seiner Philosophie des Unbewußten
auch im D. am Moment des Unbewußten fest. Am Beispiel der Mathematik
werden die unterschiedlichen Methoden des deduktiv-diskursiven und des
intuitiven D. verdeutlicht. Hartmann hält gegenüber der Deduktion –
verstanden «bloß als Wirkung eines todten Mechanismus» [6] – an dem
Vorrang der Intuition fest, denn beide haben zwar dieselben logischen
Glieder, aber im ersten Fall diskursiv nacheinander, was im zweiten
Falle intuitiv in einem Zeitpunkt zusammengedrängt erscheint, denn «der
eigentliche Prozeß [ist] in jedem, auch dem kleinsten Schritte des D.
intuitiv und unbewußt», und erst das letzte Glied fällt ins Bewußtsein [7].
Ist bei Hartmann noch ein Korrespondenzverhältnis beider Denkweisen
festzustellen, so brechen sie bei BERGSON auseinander. In der
Auseinandersetzung mit dem Evolutionismus und dem Darwinismus kommt
Bergson zu der für ihn grundlegenden Einsicht, daß «unser D. in seiner
rein logischen Form unfähig ist, das wahre Wesen des Lebens, den tiefen
Sinn der Entwicklungsbewegung vorzustellen» [8]. Die Lebensphilosophie
will keine Totalkritik des mathematisch-logischen D. sein, sie behauptet
aber, daß in der menschlichen Entwicklungslinie «um unser begriffliches
D. eine schwankende Nebelschicht stehen geblieben» ist [9], die sich
unserer Einsicht entzieht: «Beide Untersuchungen vielmehr –
Erkenntnistheorie und Lebenstheorie – müssen sich verbünden und in
kreisendem Prozeß einander ins Unendliche vorwärts treiben» [10]. Auf
Grund dieser Einsicht in die «impuissance de la pensée conceptuelle»
macht Bergson den Begriff der Intuition zur grundlegenden
philosophischen Kategorie, die jedoch nicht jenseits der Zeit, sondern
in der Dauer und Bewegung die Wirklichkeit erfaßt [11]: «penser
intuitivement est penser en durée» [12]. Zwischen Lebensphilosophie und
Existentialismus einerseits sowie einer christlich religiösen Metaphysik
andererseits widmet M. BLONDEL dem Problem des D. eines seiner
Hauptwerke: La Pensée [13]. Er beschreibt das D. unter Anknüpfung an die
philosophische Tradition, z.B. Platon und Pascal, in seiner diskursiven
und intuitiven Form [14] und bezeichnet das eine als «abstrahierendes
und ideales D.» oder auch einfach als «abstraktes D.», das andere als
«assimilatorisches und umfassendes D.» oder auch als «konkretes D.»
[15]; in einer früheren allgemeinen Unterscheidung nennt er die beiden
Denkweisen «noetisches und pneumatisches D.» (pensée noétique et pensée
pneumatique) [16]. Das Ziel des D., die Einheit, ist aber nur möglich,
wenn es «ein reines und vollkommenes D. gibt, das D. an sich, das Denken
des Denkens als eigentliche Wirklichkeit und absolute Vollkommenheit des
Geistes» [17]; dies ist aber nicht aus den beiden Denkweisen selbst zu
erreichen, sondern nur, wenn man sich «mit der innersten Wahrheit des
göttlichen D. selber zusammenschließt» [18].
Die zweite Kritik SCHOPENHAUERS an Kant besteht darin, daß das
Kantische «Ich denke» als das alle Vorstellungen Begleitende und «dem
Bewußtseyn Einheit und Zusammenhang» Gebende durch den Begriff des
metaphysisch überhöhten Willens ersetzt werden soll, der als unbewußter,
schlechthin unwandelbarer und identischer «Prius des Bewußtseyns» ist
[19]. Unter diesem Eindruck ist auch für NIETZSCHE im Zusammenhang der
Arbeiten zur Geburt der Tragödie «unser D. nur ein Bild des
Ur-Intellects, ein D. durch die Anschauung des einen Willens entstanden,
der sich seine Visionsgestalt denkend denkt. Wir schauen das D. an wie
den Leib – weil wir Wille sind» [20]. Nietzsches Kritik an dem kausalen,
schließenden, logischen D. ist Kritik an der bis auf Sokrates
zurückgeführten «tiefsinnigen Wahnvorstellung ..., daß das D., an dem
Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche,
und daß D. das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren
im Stande sei» [21]. In Wirklichkeit sei «D., Schließen und alles
Logische» nur «Außenseite» und «Symptom viel innerlicheren und
gründlicheren Geschehens» [22].
Der Neukantianismus setzt sich erneut mit dem durch Kant gestellten
Problem des Verhältnisses von D. und Anschauung auseinander. In COHENS
Logik der reinen Erkenntnis wird «die Vorstellung der Dualität von
Anschauung bzw. Sinnlichkeit und D. aufgegeben, ja affirmativ
ausgeschlossen und dafür die Vorstellung des Ursprungs der Erzeugung der
Erkenntnis in der gesetzmäßigen Einheit des Bewußtseins, welche nunmehr
mit der Einheit des D. identisch ist – in der Lehre von den Urteilen der
Denkgesetze – ausgebaut» [23]: «Wir fangen mit dem D. an. Das D. darf
keinen Ursprung haben außerhalb seiner selbst, wenn anders seine
Reinheit uneingeschränkt und ungetrübt sein muß ... Mithin muß die Lehre
vom D. die Lehre von der Erkenntnis werden» [24]. P. NATORP verschärft
den Cohenschen Ausgangspunkt noch, indem er auch die Rede von einem
«Ursprung ... des Logischen» noch ablehnt [25]. Für ihn «entfällt nun
ganz die Frage nach einem dem D. und zu denken Gegebenen ... Es gibt für
das D. kein Sein, das nicht im D. selbst gedacht würde. D. heißt nichts
anders als: setzen, daß etwas sei; und was außerdem und vordem dies Sein
sei, ist eine Frage, die überhaupt keinen angebbaren Sinn hat» [26]. D.
nach «sicheren Gesetzen der Synthesis» besteht in «einem unendlichen
Prozeß der (Begrenzung des Unbegrenzten)» [27]. Dieser prozessuale
Charakter des D. sei mit dem Platonischen Anhypotheton ausgedrückt,
womit das «Gesetz des Logos selbst, das Urgesetz des Logischen, oder das
Gesetz des reinen D.» begriffen sei [28].
Anmerkungen.
[1] A. SCHOPENHAUER: Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) (= WWV).
Werke, hg. J. FRAUENSTÄDT/A. HÜBSCHER 2, 563.
[2] Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund (1813).
Werke 1, 101.
[3] WWV. Werke 2, 564; vgl. 55.
[4] 3, 79.
[5] E. v. HARTMANN: Philos. des Unbewußten (1869) 243.
[6] a.a.O. 244.
[7] 246f.
[8] H. BERGSON: L'évolution créatrice (1907). Oeuvres der Edition du
centenaire, hg. A. ROBINET/H. GOUHIER 489.
[9] a.a.O. 492.
[10] 493.
[11] La pensée et le mouvant. Essais et conférences (1934) a.a.O. 1271f.
[12] 1275.
[13] M. BLONDEL: La pensée 1. 2 (Paris 1934); dtsch. Das Denken, übers.
R. SCHERER (1953).
[14] a.a.O. 2, 7ff.
[15] 2, 35. 37.
[16] 1, 267ff., bes. 269.
[17] 2, 3.
[18] 2, 291.
[19] SCHOPENHAUER, WWV. Werke 3, 153; vgl. 224ff.
[20] F. NIETZSCHE, Fragmente (1870/71). Musarion-A. 3, 334.
[21] Die Geburt der Tragödie (1870/71). 3, 102.
[22] Philos. (zwischen 1882–88). 16, 55.
[23] W. FLACH, in: H. COHEN, Das Prinzip der Infinitesimalmethode und
seine Gesch. (1883, neu hg. W. FLACH 1968) 30.
[24] H. COHEN: Logik der reinen Erkenntnis (1902, zit. 21914) 12.
[25] P. NATORP: Die log. Grundlagen der exakten Wiss. (1910) 26.
[26] 48.
[27] 10. 13.
[28] 15f.
3. Die Tradition des ratiocinari = computare bzw. des cogitare =
calculare wird in Anknüpfung an die Mathesis universalis (s.d.) und in
Kritik am Idealismus durch BOLZANOS Wissenschaftslehre (1837)
weitergeführt, die dann direkt zu Boole, Frege, Russell, aber auch
Husserl, später: Wittgenstein, Scholz und Carnap weiterleitet.
Kritisiert Bolzano Fichtes Begriff der Wissenschaftslehre, so scheint
ihm durch Hegels Bestimmung der Logik als der Identität von D. und
Gedachtem sogar «alles vernünftige D. vernichtet» [1]: «Der Gedanke
einer Sache, und sie, die Sache selbst, welche durch diesen Gedanken
gedacht wird, sind meines Erachtens immer verschieden; sogar in dem
Falle noch, wenn die Sache, worüber wir denken, selbst ein Gedanke ist»
[2]. Mit seiner «Lehre über die Wahrheiten an sich» [3] richtet sich
Bolzano gegen den Subjektivismus der Kantianer: «Nur wenn man glaubt,
daß es außer den Dingen an sich und unserm D. derselben kein Drittes,
nämlich keine Wahrheiten an sich, die wir durch unser D. bloß auffassen,
gebe; dann wird begreiflich, wie man geneigt sein könne, die logischen
Formen für etwas nur unserem D. Anklebendes zu halten» [4].
Hatte schon CH. S. PEIRCE in der Ablehnung jedes intuitiven D. die
These vertreten: «Das einzige D., das also möglicherweise erkannt wird,
ist D. in Zeichen. Aber D., das nicht erkannt werden kann, existiert
nicht. Alles D. muß daher notwendigerweise in Zeichen sein» [5], so sind
auch für FREGE, der in seiner Begriffsschrift, eine der arithmetischen
nachgebildete Formelsprache des reinen D. (1879) bewußt an Leibniz'
Versuch einer philosophischen Universalsprache angeschlossen hatte, die
Zeichen «für das D. von derselben Bedeutung wie für die Schifffahrt die
Erfindung, den Wind zu gebrauchen, um gegen den Wind zu segeln» [6].
Wenn auch die «Sprache das D. ... erst möglich» macht [7], so impliziert
das keinen Primat der Sprache. Logik hat «das D. von den Fesseln der
Sprache zu befreien, indem sie deren logische Unvollkommenheiten
aufweist» [8]. Erst dann erscheint das eigentliche «Logische». Man kann
«nicht das D. aus dem Sprechen ableiten, sondern das D. erscheint dann
als das Erste, und die an der Sprache bemerkten logischen Mängel können
wir nicht dem D. zur Last legen» [9]. Der «Kampf mit der Sprache» [10],
die Reinigung von jedem Psychologismus und die Konstruktion einer
künstlichen Begriffsschrift, die die Arbiträrität der jeweiligen
natürlichen Sprache vermeidet, sollen das D. für die Aufgabe
vorbereiten, die für Frege in einer eigentümlichen Rücknahme der
Kantischen Transzendentalphilosophie darin besteht, Gedanken, die, wie
z.B. Naturgesetze, «unabhängig von unserer Anerkennung wahr sind» [11],
nicht hervorzubringen, sondern zu erfassen: «D. ist Gedankenfassen.
Nachdem man einen Gedanken gefaßt hat, kann man ihn als wahr anerkennen
(urteilen) und diese Anerkennung äußern (behaupten)» [12].
«Logische Klärung der Gedanken» [13] ist nach dem Tractatus
WITTGENSTEINS Aufgabe der Philosophie; er will «dem D. eine Grenze
ziehen», «oder vielmehr – nicht dem D., sondern dem Ausdruck der
Gedanken: Denn um dem D. eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten
dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich
nicht denken läßt)» [14]. Jenseits des logisch zu Denkenden gibt es
nichts Sagbares: «Was wir nicht denken können, das können wir nicht
denken; wir können also auch nicht sagen, was wir nicht denken können»
[15], und er stimmt damit mit dem Wissenschaftsideal des «Wiener
Kreises» überein: «Daß die Logik a priori ist, besteht darin, daß nicht
unlogisch gedacht werden kann» [16]. W. Stegmüller faßt das Programm des
modernen Empirismus in der Formel zusammen: «Es ist unmöglich, durch
reines Nachdenken und ohne empirische Kontrolle (mittels Beobachtungen)
einen Aufschluß über die Beschaffenheit und über die Gesetze der
wirklichen Welt zu gewinnen» [17].
In seiner Spätphilosophie nimmt Wittgenstein mit Bezug auf
Untersuchungen über die normale Sprache statt einer reinen Logik den
«Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer
Sprache» [18] auf. Anders als in der hard analysis der
Wissenschaftssprache des logischen Atomismus wird in der soft analysis
«die natürliche Sprache als unentrinnbares faktisches Apriori des D.
thematisiert» [19]: «D. ist kein unkörperlicher Vorgang, der dem Reden
Leben und Sinn leiht, und den man vom Reden ablösen könnte» [20]. Mit
Hilfe der Sprachspieltheorie soll alles philosophische abstrakte D. als
Herausfallen aus dem normalen Sprechverhalten in Lebensformen
kritisiert, und zugleich sollen durch Annahme der Umgangssprache als
letzter Metasprache die Semantikprobleme gelöst werden.
Weitgehend unbehindert von den sprachanalytischen Argumenten
entwickelt sich seit der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart die
zunehmende Formalisierung und Mathematisierung der Leistungen des Denkens.
Die programmatischen Antizipationen der Einleitung zu WHITEHEADS
und RUSSELLS Principia Mathematica: «with the aid of symbolism,
deductive reasoning can be extended to regions of thought not usually
supposed amenable to mathematical treatment» [21], scheinen in der
Gegenwart durch die Kybernetik eingelöst zu werden.
Das Problem, das sich der Kybernetik (s.d.) seit ihren Anfängen
stellte und das sich in Veröffentlichungstiteln widerspiegelt: Can a
machine think? (A. M. TURING), Les machines à penser (L. COUFFIGNAL), So
denken Maschinen (I. ADLER), wird heute zunehmend seiner zuweilen
metaphysischen bzw. normativen Tendenz entleert.
Jeder kybernetischen Theorie liegt die Annahme zugrunde, daß D.
«ein Prozeß der Aufnahme, Umwandlung und Speicherung von Informationen»
in Zeichen ist [22], der auf Grund der «Modellstruktur» des D. (internes
Modell der Außenwelt) in kybernetischen Modellen, wie
Nachrichtenübertragungskanal, Regelkreissystem, Lernmatrix [23], mit
Hilfe von Rechnern simuliert oder effektiver gestaltet werden kann und
für den «gewisse Sätze der Informationstheorie gelten» [24]. Da Rechner
allgemein im Binärsystem arbeiten, sind diese geeignet, die für die
Weiterleitung von Informationen wichtigen Vorgänge zu modellieren. Die
sich damit befassende Biokybernetik und Bionik abstrahieren von der
Komplexität der biochemischen und bioelektrischen Vorgänge, können aber
in einem mathematisch-logisch definierten System Informationsprozesse
des Gehirns, und das heißt hier D., simulieren (McCulloch-Pittsche
Theorem) [25].
Es ist nicht zu verkennen, daß die kybernetische Fragestellung das
traditionell philosophische Problem des Verhältnisses von Geist –
Materie, D. – Sein als nicht mehr sinnvoll ansieht. Die Affinität zu
neopositivistischen, aber auch neueren anthropologischen
Forschungsergebnissen, die ebenfalls den alten Dualismus als erledigt
ansehen, ist unverkennbar. Wenn STACHOWIAK z.B. die Bestimmung des D.
als eines «verinnerlichten Probe- bzw. Ersatzhandelns» aufnimmt und D.
nur hinsichtlich seiner Operationalität untersucht [26], so steht das im
Zusammenhang mit dem in den dreißiger Jahren von V. v. WEIZSÄCKER, A.
GEHLEN und anderen entwickelten Handlungsbegriff. Handeln, das in
Antizipation des feed-back der Kybernetik als komplexe, ständig
rückmeldende Kreisbewegung verstanden wird, ersetzt das Anthropologicum
D. bzw. löst es aus seiner Isolierung [27]. Die Kybernetik will also,
nach STACHOWIAK, «den zeitgenössischen Erkenntnistheoretiker aus der
Verlegenheit befreien, in welche ihn die zweitausendjährige
Dichotomisierung in die hypostasierten Superkategorien des D. und des
Seins versetzt haben» [28].
Unbestritten dürfte heute sein, daß sich alles schematische,
algorithmische D. auf Turing-Maschinen übertragen läßt, «daß es keine
logisch definierte Aufgabe gibt, welche der Mensch lösen kann, Automaten
jedoch nicht» [29]. Ebenso weiß man seit den Arbeiten TURINGS, GÖDELS
und CHURCHS, daß der Versuch, «alles D. auf schematisches D. zu
reduzieren», gescheitert ist [30]. D. kann also nach dem Vorschlag von
KLAUS als eine Konjunktion von algorithmischem, chaotischem und
schöpferischem D. angesehen werden [31]. Schöpferisches D. könnte «eine
besondere Form der Anwendung der Trial-and-error- Methode» sein [32],
die die Möglichkeit des Irrtums einschließt, die aber darauf abzielt,
sich durch Findung eines dem jeweiligen Problem adäquaten Algorithmus
vorläufig zu ersetzen, bis ein bislang noch nicht schematisierbares
Denkproblem auftaucht. Die Trial-and-error-Methode könnte «zu neuen
Denkweisen» führen, «die mehr leisten als deduktive Ableitungen aus
schon bekannten Voraussetzungen» [33]. Entscheidend für den Fortschritt
kybernetischer Forschung ist es, daß es gelingt und schon gelungen ist,
«lernende» und sich selbst optimierende Maschinen zu entwickeln: «Die
Konstruierbarkeit von Trial-and- error-Maschinen läßt nun aber auch die
maschinelle Imitierbarkeit des Schöpferischen zu» [34]: «erst die heute
[1965] verfügbaren Informationswandler eröffnen den Weg zur Nachbildung
nicht nur deduktiv-logischer, sondern auch induktiv-stochastischer
Denkprozesse und der im eigentlichen Sinne kreativen Funktion
menschlichen D.» [35].
Anmerkungen.
[1] B. BOLZANO: Wissenschaftslehre (1837) § 394.
[2] a.a.O. § 7.
[3] J. DANEK: Weiterentwicklung der Leibnizschen Logik bei Bolzano
(1970) 84.
[4] BOLZANO, a.a.O. [1] § 129; vgl. §§ 19. 21. 50. 54.
[5] CH. S. PEIRCE: Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen, die man für
den Menschen in Anspruch nimmt (1868). Schriften 1, hg. K.-O. APEL
(1967) 175; vgl. 157ff. 223.
[6] G. FREGE: Über die wiss. Berechtigung einer Begriffschrift (1882),
in: Begriffschrift und andere Aufsätze, hg. I. ANGELELLI (21964) 107.
[7] Logik (1897). Nachgelassene Schriften (= NS), hg. H. HERMES/F.
KAMBARTEL/F. KAULBACH (1969) 155.
[8] a.a.O. 161; vgl. B XIIf.
[9] Erkenntnisquellen ... (1924/25). NS 289.
[10] Ebda.; vgl. Logik. NS 155.
[11] NS 145.
[12] Einl. in die Logik (1906). NS 201; vgl. 144ff. 189f. 223. 288f.
[13] L. WITTGENSTEIN: Tractatus logico-philosophicus (11921) 4. 112.
[14] a.a.O. Vorrede.
[15] 5. 61; vgl. 7.
[16] 5. 4731.
[17] W. STEGMÜLLER: Hauptströmungen der Gegenwartsphilos. (41969) 346.
[18] L. WITTGENSTEIN: Philos. Untersuch. (dtsch. 1967) § 109.
[19] H. LÜBBE: Wittgenstein – ein Existentialist? Philos. Jb. 69 (1962) 324.
[20] WITTGENSTEIN, a.a.O. [18] § 339.
[21] A. N. WHITEHEAD und B. RUSSELL: Principia Mathematica (Cambridge
21960) 3.
[22] G. KLAUS: Kybernetik und Erkenntnistheorie (1966) 206; vgl.
203–321: Kap. 7 Bewußtsein-D.-Subjektivität: Kybernetisch betrachtet.
[23] Vgl. K. STEINBUCH: Automat u. Mensch (1961, 41971, zit. 31965) 13.
193f.; vgl. H. FRANK: Kybernetische Grundlagen d. Pädagogik 1 (21969).
[24] H. STACHOWIAK: D. und Erkennen im kybernetischen Modell (Wien/New
York 1965) 3; vgl. C. E. SHANNON/W. WEAVER: The math. theory of
communication (Urbana 1949).
[25] A. F. MARFELD: Kybernetik des Gehirns. Ein Kompendium der
Grundlagenforsch. einschließlich Psychol. und Psychiat.,
Verhaltensforsch. und Futurol. (1970) 387–412; hier: 410f.; vgl. F.
ROSENBLATT: Principles of neurodynamics, perceptions and the theory of
brain mechanisms (Washington 1962); C. CHERRY: Kommunikationsforsch. –
eine neue Wiss. (dtsch. 21967) bes. 77ff.; B. HASSENSTEIN: Biol.
Kybernetik (21967); G. FÄRBER: Kybernetik und Biologie, in: Philos. und
Kybernetik, hg. K. STEINBUCH/S. MOSER (1970) 26–35.
[26] STACHOWIAK, a.a.O. [24] 2.
[27] Vgl. A. GEHLEN: Anthropol. Forsch. (1961) 12ff.
[28] STACHOWIAK, a.a.O. [24] 186; vgl. G. GÜNTHER: Das Bewußtsein der
Maschinen. Eine Met. der Kybernetik (21963) 15. 33.
[29] STEINBUCH, a.a.O. [23] 344; vgl. A. M. TURING: Computing machinery
and intelligence. Mind 59 (1950) 433–460.
[30] KLAUS, a.a.O. [22] 257.
[31] 257ff.; vgl. G. KLAUS: Schematische und schöpferische geistige
Arbeit in kybernetischer Sicht. Dtsch. Z. Philos. 9. 1 (1961) 166–183.
344–357.
[32] a.a.O. [22] 263.
[33] 270.
[34] 281.
[35] STACHOWIAK, a.a.O. [24] III; vgl. A. NEWELL und H. SIMON: GPS – a
program that simulates thought, in: Computers and thought, hg. E.
FEIGENBAUM/J. FELDMANN (New York 1963) 279–296.
G. In seinen Logischen Untersuchungen analysiert HUSSERL das
Bewußtsein als Intentionalität, als Gerichtetsein auf seine Gegenstände
[1]. Die intentionalen Akte, in denen sich entsprechend Erkenntnis
vollzieht, unterscheidet er als «eigentliche und uneigentliche
Denkakte»: «Die uneigentlichen Denkakte wären die Bedeutungsintentionen
der Aussagen und in naturgemäß erweiterter Fassung ... alle
signifikativen Akte ... Die eigentlichen Denkakte wären die
entsprechenden Erfüllungen; somit ... alle Anschauungen überhaupt» [2].
In den Ideen führt er seinen Ansatz bei der Intentionalität weiter
durch. Husserl unterscheidet jetzt «bei allen intentionalen Erlebnissen
die beiden Seiten, Noesis und Noema, prinzipiell» [3]: Der
Differenzierung im Akt (der «Noesis») entspricht eine korrelative auf
seiten des Gegenstandes in seinen Gegebenheitsweisen (als «Noema») [4].
Die Aufgabe ist nun die Erforschung der «noetisch-noematischen
Strukturen» [5].
Während die Bestimmung des Bewußtseins als Intentionalität durch
Husserl den cartesianischen Ansatz beim «cogito» kritisiert, indem sie
ihn phänomenologisch, nicht metaphysisch interpretiert, kreist
HEIDEGGERS ganze philosophische Bemühung darum, die Einseitigkeit im
Begriff des D. zurückzunehmen und D. zurückzuführen auf die
ursprünglichere Frage nach dem Sein. In Sein und Zeit gibt es zwar
keinen nennenswerten Gebrauch, dafür aber eine signifikante Vermeidung
des Terminus D.. Heidegger übersetzt nämlich das griechische noein nie
mit D., sondern immer mit Vernehmen: noein (bzw. sein Gegenstück legein)
besage bei den Griechen nichts anderes als «das schlichte Vernehmen von
etwas Vorhandenem in seiner puren Vorhandenheit» [6]. Nach Heidegger ist
das Vernehmen schon bei Parmenides und dann in der gesamten
ontologischen Tradition zum «Leitband der Auslegung des Seins» geworden
[7]. «Sein ist, was im reinen anschauenden Vernehmen sich zeigt» [8].
Gerade diese Position will Heidegger, im Rahmen seiner Wiederholung der
Seinsfrage, erschüttern. Dazu gehört der Nachweis, daß das Vernehmen
seinerseits nur möglich ist auf dem Grunde des durch «Sorge» bestimmten
In-der-Welt-seins [9]. Dann aber ist das D. etwas Abgeleitetes und
Sekundäres: «Anschauung und D. sind beide schon entfernte Derivate des
Verstehens» [10]. Das alltägliche In-der- Welt-sein (bzw. dessen
Zeitlichkeit) «ermöglicht die Modifikation der Umsicht zum hinnehmenden
Vernehmen und dem darin gründenden theoretischen Erkennen» [11].
Erst nach der Kehre wird D. im positiven Sinne zu einem wichtigen
Begriff der Heideggerschen Philosophie, ja geradezu zu einem der
Schlüsselworte der seinsgeschichtlichen Konzeption [12]. In der 1935
gehaltenen Vorlesung Einführung in die Metaphysik [13] stellt Heidegger
die Frage nach dem Verhältnis von «Sein und D.» [14] und kommt dabei zu
dem Ergebnis: «Wir müssen in der scheinbar gleichgültigen Scheidung Sein
und D. jene Grundstellung des Geistes des Abendlandes erkennen, der
unser eigentlicher Angriff gilt» [15]. Denn bald nach Heraklit und
Parmenides, die Sein und D. (púsis-lógos bzw. einai-noein) noch als
zusammengehörig dachten [16], setzte – «noch bei den Griechen selbst»
[17] – der Verfallsprozeß ein, in dem das Sein zugunsten des Seienden in
Vergessenheit geriet [18] (bzw. sich selbst entzog) und das D., sich
verselbständigend und autonom setzend, zum bloßen Vorstellen und
Aussagen degenerierte [19], zur Domäne von Logik und Wissenschaft wurde
[20] und schließlich, in Form der Technik, die totale Beherrschung des
Seienden betrieb [21]. Demgegenüber ist es – im «Zeitalter der
Vollendung des Nihilismus» [22] – an der Zeit, die «Mißdeutung des D.»
und den «Mißbrauch des mißdeuteten D.» zu überwinden «durch ein echtes
und ursprüngliches D.» [23]. «Überwindung der überlieferten Logik heißt
nicht Abschaffung des D. und Herrschaft bloßer Gefühle, sondern heißt
ursprünglicheres, strengeres, dem Sein zugehöriges D.» [24]. Dazu
erinnert Heidegger «an den ursprünglichen Wesenszusammenhang des
dichterischen und denkerischen Sagens». Denn auch im dichterischen Sagen
wird «das Sein des Seienden im Ganzen» genannt [25], die Griechen hatten
diese «dichtend-denkende Grunderfahrung des Seins» [26]. In schroffer
Trennung von der Wissenschaft ist für Heidegger «in derselben Ordnung
die Philosophie und ihr D. nur mit der Dichtung». «Im Dichten des
Dichters und im D. des Denkers wird immer soviel Weltraum ausgespart,
daß darin ein jeglich Ding, ein Baum, ein Berg, ein Haus, ein Vogelruf
die Gleichgültigkeit und Gewöhnlichkeit ganz verliert» [27]. Trotz der
gleichen Herkunft des «Sagen[s] des Denkers» und des «Nennens des
Dichters» sind sie aber doch voneinander geschieden: «Weil jedoch das
Gleiche nur gleich ist als das Verschiedene, das Dichten und das D. aber
am reinsten sich gleichen in der Sorgsamkeit des Wortes, sind beide
zugleich am weitesten in ihrem Wesen getrennt. Der Denker sagt das Sein.
Der Dichter nennt das Heilige» [28].
Diese bereits 1935 entfaltete Konzeption ist bis hin zu Heideggers
jüngsten Schriften erhalten geblieben und weiter ausgeführt worden [29].
Immer wieder stellt Heidegger dem «exakten», «lediglich in das Rechnen
mit dem Seienden» und seiner «Gegenständlichkeit» gebundenen Denken
[30], das in der Form der neuzeitlichen Wissenschaft nur eine Sonderform
der Metaphysik ist, die das Sein «bloß in der Seiendheit des Seienden
denkt» [31], ein anderes, nämlich das «wesentliche D.» [32] gegenüber,
«das anfänglich die Wahrheit des Seins denkt» [33]. Dabei ist «aber das
Sein ... kein Erzeugnis des D. Wohl dagegen ist das wesentliche D. ein
Ereignis des Seins» [34], welches «den Menschen für die Wahrheit des
Seins in den Anspruch nimmt» [35]. Darin sieht Heidegger auch den
Zusammenhang von D. und Danken begründet: «das anfängliche D. ist der
Widerhall der Gunst des Seins» [36]. D. in diesem Sinne erscheint so bei
Heidegger als Gegenbegriff zum D. der Metaphysik und der Wissenschaft:
es steht fest, «daß wir noch nicht eigentlich denken, solange wir nur
metaphysisch denken» [37], und es steht fest, «daß die Wissenschaft ...
nicht denkt» [38]. Es bedarf daher «der Preisgabe des bisherigen D. an
die Bestimmung der Sache des D.» [39], d.h. des «Schritts zurück aus der
Philosophie in das D. des Seyns» [40].
In anderer Weise wendet sich ADORNOS Negative Dialektik ebenso
total gegen die Geschichte des D. in Metaphysik und Wissenschaft. Die
Schwierigkeit, die notwendige Tendenz des D. zur Identifikation nicht im
Szientismus, aber auch nicht in einem System des absoluten Wissens zu
verfestigen, und ebenso nicht das geheime und zu rettende Telos der
Identifikation, die Nichtidentität, in begrifflosen Ausdrücken des Seins
oder aus Resignation in einem Irrationalismus enden zu lassen, ist für
Adorno nur durch nicht sich verfestigende und nicht sich verflüchtigende
Denkmodelle zu lösen [41]: «D. braucht nicht an seiner eigenen
Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu
denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik
möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen. Die Armatur des D.
muß ihm nicht angewachsen bleiben; es reicht weit genug, noch die
Totalität seines logischen Anspruchs als Verblendung zu durchschauen» [42].
Anmerkungen.
[1] E. HUSSERL: Logische Untersuch. II/1 (51968) 376f.
[2] a.a.O. II/2 (41968) 193; vgl. 187ff.
[3] Ideen ... 1. Husserliana 3 (1950) 234.
[4] a.a.O. 226ff.
[5] 241ff.; vgl. E. TUGENDHAT: Phänomenol. und Sprachanalyse.
Hermeneutik und Dialektik II, hg. R. BUBNER u.a. (1970) 3ff.
[6] M. HEIDEGGER: Sein u. Zeit (71960, 11927) 25.
[7] a.a.O. 25f.
[8] 171.
[9] Vgl. bes. § 41.
[10] 147; vgl. 96.
[11] 335.
[12] Vgl. z.B. Die Met. als Gesch. des Seins (entstanden 1941), in:
Nietzsche 2 (1961) 399–454.
[13] Einf. in die Met. (publ. 1953).
[14] Vgl. a.a.O. Kap. IV, 3.
[15] S. 89.
[16] Vgl. 96ff. (zu Heraklit); 104ff. (zu Parmenides).
[17] 111.
[18] Vgl. 19.
[19] Vgl. 91ff.; 141ff.
[20] Vgl. 91ff.
[21] Vgl. 148.
[22] Vgl. 155.
[23] 93.
[24] 94; vgl. bereits: Was ist Met.? (11929, 1965) 28. 30. 36f.
[25] Einf. in die Met. 126f.; vgl. 11.
[26] Ebda.
[27] 20.
[28] Was ist Met.? Nachwort 51.
[29] Vgl. bes. Was heißt D.? (1954; Vorles.); Was heißt D.? (Vortrag),
in: Vorträge und Aufsätze (1954) 129–143; Aus der Erfahrung des D.
(1954); Bauen, Wohnen, D., in: Vorträge und Aufsätze (1954) 145–162;
Grundsätze des D., in: Jb. Psychol. Psychother. 6 (1958) 33–41; Das Ende
der Philos. und die Aufgabe des D., in: Zur Sache des D. (1969) 61–80:
Nachwort zu (41943) von: Was ist Met.? (91965) u.a.m.
[30] Was ist Met.? Nachwort 48.
[31] a.a.O. 44.
[32] 49; vgl. 50.
[33] ebda.; vgl. 47.
[34] 47.
[35] 50.
[36] 49.
[37] Was heißt D.? (Vorles.) 40.
[38] a.a.O. 4.
[39] Das Ende der Philos. ... 80.
[40] Aus der Erfahrung des D. 19.
[41] TH. W. ADORNO: Negative Dialektik (1966) 14f. 103ff. 150. 37.
[42] a.a.O. 142.
C. v. BORMANN/R. KUHLEN/
L. OEING-HANHOFF
II. Während D. in der Umgangssprache auch im Sinne von
«dafürhalten» (glauben, meinen), «sich eines Vorsatzes erinnern»
(drandenken) oder «überlegen» (nachdenken) verstanden wird, bezeichnet
der psychologische Terminus in der Regel Prozesse, welche von einer
Problemsituation ausgehen und zu deren Lösung beitragen. Ein Problem
liegt dann vor, wenn Schwierigkeiten nicht unmittelbar und mit den dem
Individuum gewohnten Mitteln behoben werden können. Diese allgemeine
funktionale Begriffsbestimmung ist dem naheliegenden Versuch
vorzuziehen, D. im Hinblick auf besondere Erlebnisformen zu
charakterisieren. Definitionen, die z.B. auf «letzte Erlebniseinheiten»
[1] abzielen, bleiben widersprüchlich, da sich keine intersubjektiven
Kriterien für deren Identifikation angeben lassen. –
[38] a.a.O. 4.
[39] Das Ende der Philos. ... 80.
[40] Aus der Erfahrung des D. 19.
[41] TH. W. ADORNO: Negative Dialektik (1966) 14f. 103ff. 150. 37.
[42] a.a.O. 142.
C. v. BORMANN/R. KUHLEN/
L. OEING-HANHOFF
II. Während D. in der Umgangssprache auch im Sinne von
«dafürhalten» (glauben, meinen), «sich eines Vorsatzes erinnern»
(drandenken) oder «überlegen» (nachdenken) verstanden wird, bezeichnet
der psychologische Terminus in der Regel Prozesse, welche von einer
Problemsituation ausgehen und zu deren Lösung beitragen. Ein Problem
liegt dann vor, wenn Schwierigkeiten nicht unmittelbar und mit den dem
Individuum gewohnten Mitteln behoben werden können. Diese allgemeine
funktionale Begriffsbestimmung ist dem naheliegenden Versuch
vorzuziehen, D. im Hinblick auf besondere Erlebnisformen zu
charakterisieren. Definitionen, die z.B. auf «letzte Erlebniseinheiten»
[1] abzielen, bleiben widersprüchlich, da sich keine intersubjektiven
Kriterien für deren Identifikation angeben lassen. – Doch auch innerhalb
einer funktionalen Betrachtungsweise sind mehrere Definitionsansätze
möglich. Sie unterscheiden sich u.a. in den Annahmen über die Rolle des
bewußten Erlebens im Denkprozeß und über Art und «Lokalisation» der
Vorgänge. So kann D. z.B. als «innerer Vorgang» verstanden werden, der
«auf das Erfassen und die erkennende Bewältigung der Umwelt gerichtet
ist» [2]. Der Erkenntnisprozeß bleibt dabei nicht der momentanen
Situation verhaftet, sondern vollzieht sich an deren – vielfach
symbolischen – Repräsentation im Bewußtsein. Dieser Erlebnisaspekt tritt
nahezu vollständig in den Hintergrund, wenn D. als «Reflex mit gehemmtem
Endglied» [3], d.h. als Prozeß ohne zugeordnete Ausführungshandlung
betrachtet wird. An die Stelle der Handlung rücken implizite Reaktionen
meist sprachlicher Art. D. wird damit zu einer Funktion der Sprache bzw.
des «zweiten Signalsystems» [4]. Im Extremfall wird es mit diesen Formen
subvokalen sprachlichen Verhaltens gleichgesetzt [5]. Je nach der Art
der Betrachtungsweise gilt D. als zentrales oder peripheres Phänomen
[6]. Die zweite Auffassung liegt immer dann nahe, wenn versucht wird,
den Prozeß ausschließlich über seine internen (neuromuskulären)
Begleiterscheinungen zu verstehen [7]. Mehr oder minder unabhängig davon
orientieren sich jedoch die verschiedenen Definitionsvorschläge auch an
unterschiedlichen Aspekten des Lösungsverlaufes. Handelt es sich bei der
Lösung z.B. lediglich um eine Reaktivierung bekannter Lösungswege und
-arten, spricht man von reproduktivem D. Produktives D. ist demgegenüber
vor allem durch die relative Neuartigkeit des verwendeten
Lösungsverfahrens ausgezeichnet. – Daneben sind Unterscheidungen etwa
nach dem Abstraktionsniveau, auf dem der Denkprozeß abläuft (konkretes
vs. abstraktes D.), nach der Größe der Denkschritte (synthetisches vs.
analytisches D.) oder nach der Zentrierung des Prozesses (D. nach dem
Lust- oder Realitätsprinzip [8]) möglich. Geläufiger ist indessen die
Qualifikation des D. im Hinblick auf logische Kategorien (logisches vs.
alogisches bzw. prälogisches D.), die sich auch zur Kennzeichnung
bestimmter Stufen der Denkentwicklung verwenden läßt [9].
Anmerkungen.
[1] K. BÜHLER: Tatsachen und Probleme zu einer Psychol. der Denkvorgänge
1: Über Gedanken. Arch. ges. Psychol. 9 (1907) 297ff.
[2] R. MEILI: D., in: R. MEILI und H. ROHRACHER: Lehrb. der exp.
Psychol. (1963) 156.
[3] I. M. SETSCHENOW, zit. nach L. PICKENHAIN: Grundriß der Physiol. der
höheren Nerventätigkeit (1959) 119.
[4] I. P. PAWLOW, Sämtl. Werke (1953).
[5] J. B. WATSON: Behaviorism (Chicago 1930).
[6] R. BERGIUS (Hg.): Hb. der Psychol. 1/2: Lernen und D. (1964) Einl.
[7] E. JACOBSON: The electrophysiol. of mental activities. Amer. J.
Psychol. 44 (1932) 677ff.
[8] S. FREUD: Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen
Geschehens. Werke 8 (1941ff.) 230ff.
[9] J. PIAGET: Psychol. der Intelligenz (1948).
Literaturhinweise. G. HUMPHREY: Thinking. An introduction to its
experimental psychology (London 1951). – CH. E. OSGOOD: Method and
theory in experimental psychology (New York 1953). – R. MEILI und H.
ROHRACHER s. Anm. [2]. – R. BERGIUS s. Anm. [6]. – C. F. GRAUMANN (Hg.):
D. (1965).
K. FOPPA
[Historisches Wörterbuch der Philosophie: Denken. HWPh: Historisches
Wörterbuch der Philosophie, S. 3825
(vgl. HWPh Bd. 2, S. 102 ff.)]