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"Ich wollte, dass sie leben" Er rettete Tausenden das Leben. Die unglaubliche Geschichte des KZ-Kommandanten Erwin Dold

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Carsten

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May 1, 2005, 12:46:12 PM5/1/05
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Aus der Badischen Zeitung 30.04.05

"Ich wollte, dass sie leben"

Er rettete Tausenden das Leben. Die unglaubliche Geschichte des
KZ-Kommandanten Erwin Dold


Es war das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte: Die
Vernichtungsmaschinerie der Nazi-Konzentrationslager. Viele, die als
Täter mit dabei waren, beriefen sich später auf "Befehlsnotstand". Das
Beispiel Erwin Dolds zeigt, dass es möglich war, gegen den Massenmord
zu arbeiten, auch an verantwortlicher Stelle. Erwin Dold aus
Buchenbach, heute 85 Jahre alt, hat in den letzten Monaten des Zweiten
Weltkriegs mindestens tausend Menschen vor dem sicheren Tod bewahrt -
mit Täuschung, List und Tücke, unter Einsatz seines Lebens. Aus
gegebenem Anlass erzählen wir hier erneut seine Geschichte.

Dautmergen liegt auf halbem Weg zwischen Balingen und Rottweil. Ein
kleines Dorf am Rande der Schwäbischen Alb. Die Alten erinnern sich
noch an die Endphase des Krieges, als am Ortsrand ein 20
000-Quadratmeter-Areal, durch übermannshohe Stacheldrahtverhaue
abgeschirmt, zur letzten Leidensstation für Tausende geriet, die aus
vielen Ländern Europas hierher verschleppt wurden.

Im Sommer 1944 ordnet Hitlers Reichsregierung nach dem Verlust der
strategisch wichtigen rumänischen Ölfelder bei Ploesti die forcierte
Ausbeutung des Ölschiefers am Albrand an. Erdöl, Treibstoff für die
großdeutsche Kriegsmaschine, wird dringender denn je benötigt. Die
Gestapo befiehlt dem Kommandanten des elsässischen
Konzentrationslagers Natz-weiler, Hartenstein, die Einrichtung von
zwei Dutzend KZ-Kommandos im Gebiet der schwäbischen
Ölschiefervorkommen. Württembergs Gestapo-Chef Musgay lässt geeignete
Grundstücke beschlagnahmen. Die für Wehrmachtsbauten zuständige
paramilitärische "Organisation Todt" stampft innerhalb weniger Tage
Stacheldrahtzäune, Wachttürme und Notunterkünfte aus dem Boden.

Als die ersten Häftlingstransporte anrollen, rücken die OT-Kommandos
ab. Die Gefangenen müssen im Freien, auf der vom Regen aufgeweichten
Erde schlafen. Es ist nachts eiskalt. Decken und Matratzen, Küchen und
sanitäre Anlagen fehlen. Bald grassieren Tuberkulose und Fleckfieber,
Typhus und tödliche Erkältungskrankheiten. Von 50 000 Menschen, die
zwischen Spätsommer 1944 und Kriegsende in jene Lager deportiert
wurden, stirbt mindestens die Hälfte.

Tausende verhungern, weil ihre Bewacher selbst die geringen
Lebensmittelzuteilungen unterschlagen, die den Häftlingen nach dem
Reglement des Unrechts zustehen. Tausende erfrieren, weil sie keine
Leibwäsche, Mäntel und Strümpfe erhalten und im harten Winter in
Ermangelung von Schuhen die Füße in Lappen und Papiersäcke wickeln
müssen. Andere sterben durch Willkür und Gewalt. In einem Lager, im KZ
Schörzingen, werden als "Weihnachtsüberraschung" am 24. Dezember 1944
die Russen Oleinez und Tur exekutiert; die angetretenen Gefangenen
müssen angesichts der Galgen Weihnachtslieder singen. Einige SS-Männer
singen lächelnd mit.

Auf welchen Umwegen wird der Nicht-Parteigenosse Erwin Dold KZ-Chef in
Dautmergen? "Im Herbst '43 wurde ich auf der Krim als Jagdflieger
abgeschossen, erzählt der heute 85-Jährige.

"Monatelang hat man mich in verschiedenen Lazaretten, zunächst in
Rumänien, später in Ostdeutschland, behandelt und schließlich, nahezu
dienstunfähig, zum Fliegerhorst Freiburg versetzt. Ich war nun wieder
in der Nähe meines Heimatdorfs Buchenbach und freute mich auf die
Entlassung." Da erreicht ihn 1944 ein Papier, das seinem Leben eine
Wende geben wird: der Stellungsbefehl zum "Industriewachkommando
Haslach im Kinzigtal".

"Ich konnte mir darunter nichts vorstellen. Haslach war ein
Arbeits-KZ. Bis dahin hatte ich von der Existenz solcher Lager keine
Notiz genommen. Und auch bei uns zu Hause, in der kinderreichen
Familie, die ein kleines Sägewerk und eine Gastwirtschaft betrieb, war
davon nie die Rede gewesen. Den Augenblick, in dem ich den Haslacher
Kommandobezirk betrat, werde ich niemals vergessen. Schmutzige, halb
verhungerte, von Aus-schlägen und Misshandlungen entstellte Menschen
starrten mich angstvoll an. Nicht zwei oder drei Menschen lebten hier
in größter Not, sondern Tausende, und täglich kamen neue dazu."

Der damals 24 Jahre alte Dold fasst seinen Entschluss schon in dieser
ersten Minute. "Meine Eltern haben mich im katholischen Glauben
erzogen und in der Überzeugung, dass man anderen helfen muß. Aber hier
nützte es wenig, dem einen oder anderen zu helfen. Hier musste man
sich identifizieren mit allen; ich musste für alle denken und handeln,
musste ein wenig einer von denen werden." Dold sieht das unpathetisch,
ganz praktisch. "Man musste für Essen, Kleidung, Arzneien sorgen. Ob
sie nun Staatsfeinde oder angebliche Volksschädlinge waren: Ich
wollte, dass sie leben."

Im Herbst 1944 wird der junge Feldwebel von Haslach wegkommandiert.
Man macht Dold zum Chef des KZ-Lagers Dautmergen. Tage zuvor hat dort
der SS-Unterscharführer Kruth den polnischen Juden Mirka auf dem
Marsch zur Arbeit erschossen, weil der hungernde Mann am Straßenrand
Falläpfel aufhob. Dold erinnert sich an seine Ankunft: "Das Lager
befand sich auf einer Sumpfwiese. Die Baracken hatten keinen Boden."
Die tägliche Totenzahl liegt bei 40 bis 50. Von einem Transport von
1000 Rigaer Juden beispielsweise überleben den Krieg acht, von 80
Norwegern 30. Der norwegische KZ-Häftling Alf Knudsen, der seit 1942
mehr als zwei Dutzend Gefängnisse und Lager durchlaufen hatte, sagt
1946 im Rastatter Kriegsverbrecherprozess vor französischen Richtern
als Zeuge aus: "Dautmergen, das war die Hölle, unvergleichlich mit
irgendeinem anderen Ort. Bis Erwin Dold kam."

Der polnische Jude Tubiaszewicz erinnert sich 1945 vor dem
französischen Kriegsverbrechergericht an die erste Begegnung: "Ich war
im Krankenrevier. Das war für Juden verboten. Dold kam herein, ich
sprang von der Pritsche auf und stand zitternd vor ihm. Er hatte die
Macht, mich totzuschlagen. Ich flehte ihn an. Da legte er die Hand auf
meine Schulter und sagte, ,Warum haben Sie Angst? Sie sind krank, und
Sie sind kein anderer Mensch als ich.' Ich werde diese Worte nie
vergessen. Erwin Dold wurde uns vom Himmel gesandt."

KZ-Chef Dold belässt es nicht bei Worten. Um den entkräfteten und halb
verhungerten 2000 Dautmergener Gefangenen wenigstens für eine kurze
Zeit die schwere Arbeit in den Ölschieferbrüchen zu ersparen, verhängt
er über das gesamte Lager Seuchenquarantäne, gegen den Widerstand der
SS. "Das gab Ärger, bis nach Berlin. Doch wir beschafften Baumaterial
und verbesserten die Baracken und sanitären Anlagen. Ohne Tricks und
Zwecklügen wäre das nicht möglich gewesen."

Für die "nicht behandlungsbedürftigen" jüdischen Häftlinge sowie für
die nicht mehr behandlungsfähig erscheinenden KZ-Insassen gab es im
Lager eine Sterbebaracke, die in der Sprache der SS Schonungsblock
hieß. Den Todgeweihten, die in diesen Block verlegt werden, nahm man
die Kleidung. Nackt, auf der kalten Erde, von Geschwüren und
Ungeziefer bedeckt, warteten sie auf das Ende. Nur wenige Bewacher
betraten diese Stätte des Grauens - um den Toten und Sterbenden die
Goldzähne aus dem Mund brechen zu lassen. Dold, entsetzt, befiehlt die
Räumung des Blocks. Da im Krankenrevier nur ein deportierter
polnischer Medizinprofessor arbeitet, ordnet der KZ-Chef zusätzlich
den Einsatz deutscher Zivilärzte an. Vorgeschobene Begründung: Die
Gefangenen müssen für Deutschlands Endsieg arbeiten und gesund sein.

Die Gefangenen leiden Hunger. Dold stellt sich selbst dringende
Fahrbefehle aus, organisiert Benzin und einen Lkw. "Wir fuhren
regelmäßig bei Nacht und Nebel über den Schwarzwald nach Südbaden, in
meine Heimat, um Kartoffeln, Mehl und einmal eine ge-schlachtete Sau
auf dem schwarzen Markt zu beschaffen. Das Geld dafür gab mir mein
Vater. Er nannte mir auch Bekannte und Freunde, bei denen ich
vorsprechen sollte. Mein Vater wies mir auch die Schleichwege, auf
denen ich um die Kontrollen herumkam." Dold hat bei jenen Nachtfahrten
nur ein paar KZ-Gefangene dabei. "Es waren immer dieselben fünf oder
sechs Vertrauenswürdigen. Ich gab ihnen Wehrmachtsmäntel. Trotzdem
sahen sie so jämmerlich und verhungert aus, dass die Bauern Mitleid
hatten und bereitwillig Lebensmittel an uns verkauften, obwohl das
unter Strafe stand." Der KZ-Chef von Dautmergen riskiert jeden Tag das
eigene Leben, leistet sich Verstöße gegen Kriegsgesetze, von denen
jeder einzelne in zahllosen anderen Fällen zu Todesurteilen geführt
hat. "Wenn wir bei den Beschaffungsfahrten in eine unüberschaubare
Situation kamen, dann habe ich eben den harten KZ-Chef gemimt. Dies
klappte immer." Wenn es nur ein einmal nicht gewirkt hätte - dem
24-Jährigen wäre der Galgen sicher gewesen.

Einmal ist es beinahe soweit. Dold hat in der Nähe von Dautmergen
illegal Schlachtrinder bei Großbauern gekauft. "Mein Problem war - wie
in vielen ähnlichen Situationen -' dass für die Lagerbewachung ein
Kommando zuständig war, dem ich überhaupt nichts zu sagen hatte. Also
wie sollte ich die Kühe in die Küche bekommen? Da bin ich eben nachts
in mein Büro gerannt, habe den Luftschutzalarmknopf gedrückt, damit
das Wachkommando die Scheinwerfer löschen musste, und dann habe ich
mit ein paar Gefangenen die Tiere hereingeholt, die wir zuvor in einem
Wäldchen in der Nähe ,abgestellt' hatten."

Als Tage später die Polizei, von einem unbekannten Denunzianten
alarmiert, anrückt, um wegen "Schwarzschlachtung" zu ermitteln, bleibt
Dold kaltblütig. Er lässt den verantwortlichen Polizeibeamten zu sich
kommen und bedroht ihn, ohne lange zu zögern, mit der Erschießung. Aus
dem Munde eines KZ-Führers ist so eine Drohung im Winter 1944/45 ohne
Zweifel ernst zu nehmen. Die Polizei lässt sich von da an im Lager
Dautmergen nicht mehr blicken.

Im April 1945 werden die Lager im Raum Balingen/Rottweil von den
anrückenden Alliierten geräumt. SS-Kommandos sollen die Überlebenden
in Eilmärschen in Richtung der "Alpenfestung" nach Südosten treiben.
Dold weiß, dass die Elendsgestalten, die sich nun zu kilometerlangen
Marschsäulen formieren, für ihre Treiber nur lästige Zeugen sind. Er
verteilt die restlichen Lebensmittel an die Gefangenen; "es reichte
gerade für zwölf Kartoffeln und ein Brot pro Mann". Dann lässt er an
einem Bahnhof am Weg gegen den Protest der SS einen "herumstehenden"
Eisenbahnwaggon aufbrechen und seinen Inhalt als Zusatzproviant
ausgeben - Schokolade und Zigaretten. Er fährt auf dem Motorrad der
Kolonne voran, versucht Quartier zu machen und Lebensmittel zu
organisieren.

Dold weiß nicht, dass die SS inzwischen jeden Häftling erschießt, der
Schokolade und Zigaretten bei Passanten gegen Nahrungsmittel
einzutauschen versucht. Er weiß nicht, dass jeder, der entkräftet zu
Boden sinkt, auf der Stelle umgebracht wird. Und er erfährt erst viel
später, dass die Häftlinge aus Dautmergen nach fünf Tagen von der
französischen Armee aufgespürt und endlich befreit werden. Dold selbst
stellt sich der französischen Besatzungsmacht. Im Herbst 1946 wird er,
zusammengekettet mit 49 Massenmördern, Folterern und
Schreibtischtätern, als "Angeklagter Nr. 41" vor das französische
Militärtribunal in Rastatt gestellt. Es kommt zu Auftritten, die in
der Geschichte der Kriegsverbrecherprozesse ohnegleichen sind: Weinend
bitten die Befreiten von Dautmergen um Leben und Freiheit für ihren
KZ-Kommandanten. Als ein jüdischer Greis den Segen des Himmels für
"diesen Mann, seine Kinder und Kindeskinder" erfleht, bricht einer der
Richter in Tränen aus.

Am 17. Januar 1947 wird der Angeklagte Nr. 41 aus der
Untersuchungshaft entlassen. Am 1. Februar verkündet der Vorsitzende
des Tribunals, Jean Ausset, 21 Todesurteile und hohe Haft- und
Zwangsarbeitsstrafen. Erwin Dold wird als einziger KZ-Chef des
"Dritten Reiches" freigesprochen: wegen erwiesener Unschuld.

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