Josef Fluge wrote:
> Ich habe aber bemerkt, dass ich die Hubble-Expansion sonst immer noch
> nicht verstehe.
>
> Nachfolgend soll nur die Hubble-Konstante für die Expansion
> massgeblich sein, sonst nichts (auch nicht der zeit-abhängige
> Hubble-Parameter statt der Konstanten); […]
>
> Ich bin "im Nullpunkt",
Dass Du Dich in einem Ursprung befindlich annimmst, ist zwar mitunter
zweckmässig, aber (hier) nicht nötig, da es lediglich um die Abstände geht.
Diese Annahme kann sogar für das Verständnis hinderlich sein; bedenke, dass
bei einer isotropen, homogenen Expansion Deine Beobachtung der
Rezession/Expansion von *jedem* Beobachter geteilt wird, egal wo er sich
befindet: *alles* entfernt sich *voneinander* (auf Skalen, auf denen die
Gravitation keine Rolle mehr spielt).
> eine Galaxie flieht vor mir wie folgt:
> Entf. 1 Mpc - Fluchtgeschw. 72 km/s (ca.-Wert)
> Entf. 2 Mpc - Fluchtgeschw. 144 km/s
> Entf. 3 Mpc - Fluchtgeschw. 216 km/s
> usw.
Beachte, dass diese _Rezessionsgeschwindigkeiten_ nur die *momentanen*
Geschwindigkeiten sind. Sie gelten *jetzt* (bzw. für einen bestimmten
Zeitpunkt), z. B. für Galaxien die *jetzt* dort sind (die *jetzt* diese
Eigendistanzen vom Beobachter haben); nicht notwendigerweise auch *später*,
und im beobachtbaren Normalfall tatsächlich nicht. Siehe unten.
> D.h. die Geschwindigkeit wächst linear mit der Entfernung.
> Was ich nicht verstehe:
> Warum wächst die Fluchtdistanz nicht exponentiell, sondern auch
> linear?
Das ist (von der Terminologie abgesehen) tatsächlich eine gute Frage, und
ich habe auch eine Weile gebraucht, um Deinen/den Denkfehler zu verstehen
und mithilfe kosmologischer Konzepte (wie ich meine) zweifelsfrei
mathematisch aufdecken zu können.
Vorweg:
Du hast recht: *Wäre* der Hubble-Parameter konstant, also *identisch* mit
der Hubble-*Konstante*, dann *wäre* die Expansion exponentiell. Das heisst,
wenn eine Galaxie, die jetzt 1 Mpc von Dir entfernt ist, dann bei 2 Mpc
angekommen wäre, dann würde sie sich von dort doppelt so schnell von Dir
entfernen usw.
Jedoch ist der Parameter im Normalfall NICHT konstant, sondern sein Wert
*nimmt* mit der Zeit *ab*, was sich auch (mathematisch) beweisen lässt.
Vorher müssen wir jedoch einige Begriffe klären.
Wie schon angedeutet ist der von Dir verwendete Nicht-Fachbegriff
„Fluchtdistanz“ ungeeignet, um den Sachverhalt korrekt zu beschreiben.
Schon der (in diesem Zusammenhang) Nicht-Fachbegriff „Fluchtgeschwindigkeit“
ist es nämlich: Es werden tatsächlich keine Objekte wie z. B. Galaxien
benötigt, die irgendwohin oder von irgendetwas oder irgendjemandem (einem
Beobachter) „fliehen“; sondern diese dienen auch buchstäblich lediglich als
Anhalts*punkte*, um die Expansion des Raumes einfacher zu beschreiben.
Es gibt bei so einer *metrischen* Expansion (die Abstände zwischen zwei
*Punkten* werden grösser) (mindestens) zwei verschiedene Entfernungsmasse,
die klar voneinander unterschieden werden müssen:
1. Eigendistanz [WeWeWi2010] (engl. “proper distance”¹) D(t)
[DL2003: R(t)]:
Das ist die Entfernung (unter einer bestimmten Metrik), die ein Punkt
tatsächlich von einem Referenzpunkt zu einem Zeitpunkt hat.
Sie ist (wie Du richtig erkannt hast) im allgemeinen zeitabhängig, da
sich der Raum ausdehnen oder zusammenziehen kann (Expansion oder
Kontraktion) und der Punkt (in dem sich zum Beispiel eine Galaxie
befinden kann) dabei verschoben wird.
Die Eigendistanz zu einem beliebigen Zeitpunkt t ist abhängig vom
Skalenfaktor a(t): einer Funktion, die angibt, um wieviel sich die
Abstände im Vergleich zur “proper distance” bestimmt zu einem
Referenzzeitpunkt t₀ geändert haben:
a(t) = D(t)/D(t₀) [bei DL2003 auf Seite 3: a(t) = R/R₀]
⇔ D(t) = a(t) D(t₀).
2. Mitbewegte Distanz (engl. “comoving distance”¹) χ(t) [auch x(t)]:
Diese Distanz ist für einen Punkt, der mit der Expansion vom
Referenzpunkt weggetragen wird, zeitlich konstant. [Also eigentlich
keine Funktion der Zeit. Ich schreibe sie trotzdem so, um einen
wichtigen Punkt zu verdeutlichen. Ich bitte um Geduld.]
Es ist ein künstliches Mass, um Punkte/Objekte trotz einer Expansion/
Kontraktion voneinander durch ihre Koordinaten unterscheiden zu können.
Man kann sich das so vorstellen, dass die Koordinatenachsen und das
Koordinatengitter gedehnt (oder gestaucht) werden; dabei bleiben aber
die Koordinaten der Punkte gleich.
χ(t) = D(t)/a(t).
Es handelt sich also um von der Expansion bereinigte Abstände.
Nehmen wir a(t₀) = 1 an (üblich), so gilt
χ(t₀) = D(t₀)/a(t₀) = D(t₀),
d. h. nur zum (so definierten) Referenzzeitpunkt sind “proper distance”
und “comoving distance” gleich.²
Wir betrachten hier daher nur die Eigendistanz D(t).
Das Hubble–Lemaître-Gesetz ist
v_rec = H₀ D,
wobei v_rec die Rezessionsgeschwindigkeit ist und H₀ als Hubble-Konstante
bezeichnet wird.
Damit können wir die Rezessionsgeschwindigkeit eines Punktes *jetzt* (bzw.
zu einem bestimmten Zeitpunkt) in Abhängigkeit von seiner Eigendistanz
*jetzt* (bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt) berechnen. Um die
Rezessionsgeschwindigkeit eines Punktes zu einem *beliebigen* Zeitpunkt
berechnen zu können, müssen wir beachten, dass es genauer
v_rec(t₀) = H₀ D(t₀) = H(t₀) D(t₀)
heissen muss, und im allgemeinen Fall also
v_rec(t) = d/dt D(t) = H(t) D(t) (1)
gilt, wobei H(t) der Hubble-Parameter ist; die sogenannte Hubble-Konstante
ist nur der Wert des Parameters zu *einem* Referenzzeitpunkt, zum Beispiel
*jetzt*. [Da die Expansionsgeschwindigkeit tatsächlich auf kurzen Skalen
aktuell sehr langsam ist, spielt es da aktuell keine Rolle, ob wir über den
Postingzeitpunkt, über morgen, oder in 100 Jahren reden; anders sieht es in
≈ 13.9 Ga aus, wenn Deine jetzt 1 Mpc entfernte Galaxie die Eigendistanz
2 Mpc (oder mehr) von Dir hat.]
[Zur besseren Übersicht verwende ich nachfolgend die in der Physik
übliche Notation, Ableitungen einer Funktion nach der Zeit durch einen
zusätzlichen Punkt über dem Funktionssymbol auszudrücken. Falls das
nicht erkennbar sein sollte, dann bitte einen modernen, Unicode-fähigen
Newsreader und eine geeignete Unicode-Schriftart verwenden.]
Gleichung (1) ist eine gewöhnliche lineare Differentialgleichung (DGl.)
erster Ordnung „mit trennbaren Variablen“. Ihre Lösung ist *im allgemeinen*
eine Exponentialfunktion:
⇔ Ḋ(t)/D(t) = H(t)
⇔ ∫ₜ₀^t dt' Ḋ(t')/D(t') = ∫ₜ₀^t dt' H(t')
⇔ ln[D(t)] − ln[D(t₀)] = ∫ₜ₀^t dt' H(t')
⇔ ln(D(t)/D(t₀)) = ∫ₜ₀^t dt' H(t')
⇔ D(t)/D(t₀) = exp[∫ₜ₀^t dt' H(t')]
⇔ D(t) = D(t₀) exp[∫ₜ₀^t dt' H(t')]. (2)
Falls der Hubble-Parameter H(t) konstant ist [zeitunabhängig, also z. B.
H(t) = H(t₀) = H₀], so gilt
D(t) = D(t₀) exp[H ∫ₜ₀^t dt']
= D(t₀) exp[H (t − t₀)],
= D(t₀) exp(−H t₀) exp(H t), (3)
d. h. die Expansion ist tatsächlich exponentiell.
Für den *allgemeinen* Fall *müssen* wir aber das zeitliche Verhalten des
Hubble-Parameters betrachten. (Auch wenn Du nicht willst ;-))
Mithilfe des Skalenfaktors lässt sich das Hubble–Lemaître-Gesetz (unter der
Annahme einer isotropen, homogenen Expansion – FLRW-Metrik) normiert
schreiben als
̇ȧ(t) = H(t) a(t).
Daraus ergibt sich die bekannte Vorschrift
H(t) = ȧ(t)/a(t)
oder kurz
H = ȧ/a.
Das zeitliche Verhalten von H(t) ist gegeben durch seine erste Ableitung
nach der Zeit t. Unter Anwendung der Quotientenregel der Differentiation:
Ḣ = (ä a − ȧ²)/a² = ä/a − (ȧ/a)² = ä/a − H². (4)
Dann gibt es drei verschiedene Fälle:
1) Gebremste Expansion: ä < 0 ⇒ ä/a < 0 ⇒ Ḣ < 0.
2) Konstante Expansion: ȧ = const. ⇒ ä = 0 ⇒ ä/a = 0 ⇒ Ḣ < 0. (!)
In diesen *beiden* Fällen *nimmt* der Wert des Hubble-Parameters also klar
*mit der Zeit ab*, und der Faktor für *denselben* Punkt in der *grösseren*
Entfernung (also *später*) ist nicht derselbe wie vorher, sondern ein
*kleinerer*.
3) Beschleunigte Expansion: ä > 0 ⇒ ä/a > 0.
Um diese zu betrachten, ist es offenbar zweckmässig, Gl. (4) nochmals
anders zu schreiben:
Ḣ = (ä a − ȧ²)/a²
= −ȧ²/a² (−ä a/ȧ² + 1)
= −H² (q + 1)
= −H² (1 + q).
q heisst “deceleration parameter”, wobei [DL2003] in ihrer Definition
statt des Skalenfaktors die Eigendistanz verwenden, was natürlich
aufgrund der Linearität der Differentiation äquivalent zu Obigem ist
(Fussnote 3 auf S. 8):
q ≔ −R̈ R/Ṙ². ³)
Man sieht, wie [DL2003] auch schreiben, dass die Expansion exponentiell ist
falls q = −1. Denn dann ist Ḣ = 0, also H = const.; und in Gl. (3) haben
wir bereits gezeigt, dass dann die Expansion exponentiell ist. Dies war der
Fall während der (bereits diskutierten) Inflation und wird in einem von
dunkler Energie dominierten Universum (wie anscheinend unserem) schliesslich
so sein. [ebd.]
[Der Fall q < −1 würde eine Zunahme des Hubble-Parameters mit der Zeit
bedeuten. Dafür müsste die dunkle Energie aber eine Phantom-Energie
sein, was zu einem Big Rip führen würde und aus verschiedenen Gründen
für unwahrscheinlich gehalten wird.⁴]
Falls q > −1, dann ist Ḣ < 0 und H(t) nimmt mit der Zeit ab.
[Zum Beispiel kann man ä/a = −1 setzen (also q = −ä a/ȧ² > 0 > −1),
wodurch
Ḣ = −1 − H² < 0,
deren Lösung gegeben ist durch
⇔ Ḣ/(−1 − H²) = −Ḣ/(1 + H²) = 1
⇔ arctan(H(t) − H(t₀)) = t − t₀
⇔ arctan(H(t) − H(t₀)) = −(t − t₀)
⇔ H(t) − H(t₀) = tan[−(t − t₀)]
⇔ H(t) = −tan(t − t₀) + H(t₀).
Wird diese Lösung in Gl. (2) eingesetzt, dann ergibt sich damit sehr
schön ein ab dem Zeitpunkt t₀ kontrahierendes bzw. kollabierendes
Universum, da
exp[∫ₜ₀^t dt' H(t')] = exp[ln(cos(t − t₀))] = cos(t − t₀).]
Insbesondere ergibt sich aus einer konstanten Expansion (Fall 1), also
ȧ = const., unmittelbar ä = q = 0 > −1, also
Ḣ = −H².
Dies ist wiederum eine DGl. „mit trennbaren Variablen“. Ihre allgemeine
Lösung ist
H(t) = 1/(t + C), C = const.,
wovon man sich auch durch Ableiten leicht überzeugen kann. Dann aber haben
wir durch Einsetzen in Gl. (2) unter der Annahme von C = 0:
D(t) = D(t₀) exp[∫ₜ₀^t dt' 1/t']
= D(t₀) exp[ln(t) − ln(t₀)]
= D(t₀) exp[ln(t)]/exp[ln(t₀)]
= D(t₀)/t₀ t.
also die (von Dir) erwartete *lineare* Abhängigkeit der Eigendistanz von der
Zeit. [Dies für die spezielle Lösung, d.h. ∫_ₜ₀^t dt' Ḣ/H², zu zeigen,
bleibt dem geneigten Leser zur Übung überlassen :-)]
___________
¹ vgl. <
https://en.wikipedia.org/wiki/Distance_measures_(cosmology)>
² siehe auch <
https://physics.stackexchange.com/a/57538/17333>
³ vgl. <
https://en.wikipedia.org/wiki/Hubble's_law#Time-dependence_of_Hubble_parameter>
und
<
https://en.wikipedia.org/wiki/Hubble's_law#Ultimate_fate_and_age_of_the_universe>
⁴ vgl. <
https://en.wikipedia.org/wiki/Phantom_energy>
[WeWeWi2010] A. Weigert, H. J. Wendker, L. Wisotzki (2010). Astronomie und
Astrophysik: Ein Grundkurs. 5. Auflage, S. 487. Wiley-VCH.
ISBN 978-3 -527-4079 3-4.
<
https://www.wiley-vch.de/de/fachgebiete/naturwissenschaften/physik-11ph/astronomie-u-astrophysik-11ph1/astronomie-und-astrophysik-978-3-527-40793-4>
[DL2003] T. M. Davis, C. H. Lineweaver (2003): “Expanding Confusion: common
misconceptions of cosmological horizons and the superluminal expansion of
the Universe”. PubASA, 21(1), 97−109. doi:10.1071/AS03040.
<
https://arxiv.org/abs/astro-ph/0310808>
<
https://www.cambridge.org/core/journals/publications-of-the-astronomical-society-of-australia/article/expanding-confusion-common-misconceptions-of-cosmological-horizons-and-the-superluminal-expansion-of-the-universe/EFEEEFD8D71E59F86DDA82FDF576EFD3>
--
<
https://www.researchgate.net/profile/Thomas_Lahn2>