Rezension: Mythic Britain
Als Crowdfunding-Unterstützer hatte ich das Vergnügen, das PDF zum
Deutschen Mythic Britain einige Tage früher zu erhalten als die
Öffentlichkeit, und natürlich habe ich es begierig gelesen.
Mythic Britain (im Folgenden: MB) ist eine Spielwelt für das
D100-Rollenspiel Mythras, das ebenfalls auf deutsch erhältlich ist. In
MB spielt man in einer Fantasy-Version des späten 5. oder frühen 6.
Jahrhunderts in Britannien. Die Römer und ihre Legionen sind seit zwei
oder drei Generationen abgezogen, die Romanobriten, mehr oder weniger
Kelten alten Schlages, erwehren sich der Invasion eines neuen Feindes
von Osten her: Germanische Stämme, die zusammenfassend nur die „Sachsen“
genannt werden. Ziel der Invasoren ist die Herrschaft über das
fruchtbare Land Britanniens. Sie haben bereits einige Gebiete im
Südosten erobert und sich dort festgesetzt. So weit, so (meistenteils)
historisch.
Aber natürlich ist MB eine Fantasy-Spielwelt. Die drei wesentlichen
Religionen dieser Spielwelt sind nicht einfach dummer Aberglaube,
sondern offerieren echte, funktionierende Magie in zweieinhalb
Geschmacksrichtungen: Heidnische Britannier, heidnische Sachsen mit
eigenem Götterpantheon und natürlich die von Rom zurück gelassenen Christen.
Einige wichtige Charaktere spielen in dieser mystischen Welt zentrale
Rollen: Insbesondere natürlich der auf dem Cover abgebildete uralte
Druide Merlin, aber auch bedeutende Leute wie der uneheliche Sohn des
verstorbenen Hochkönigs der südwestlichen Britannier, dessen Kumpanen,
Rivalen und Feinde. Bei diesem unehelichen Sohn handelt es sich
natürlich um Arthur, von dem Merlin will, dass er den Thron eines
geeinten Britanniens besteigt und dem er das mächtige Schwert Caldefwlch
(ausgesprochen „Kaledfalk“, aus unerfindlichen Gründen liest man das „w“
im Kymrischen entweder als a oder als u) ausgehändigt hat. Es stammt
natürlich aus der Verwahrung eines weiblichen Seengeistes.
Das Buch enthält die Beschreibungen der einzelnen Stämme und
Kleinkönigreiche des keltischen Britanniens, ihre religiöse Ausrichtung,
Beschreibungen wichtiger Orte, Anweisungen zum Charakterbau und so
weiter. Auch die Erschaffung sächsischer Charaktere wird angeschnitten,
aber natürlich wird dem „Feind“ nicht so viel Aufmerksamkeit gewidmet –
dafür gibt es ein (nächstes Jahr auf deutsch angekündigtes) Zusatzbuch
mit Namen „Logres“. Zahlreiche farbige Karten illustrieren den
politischen und gesellschaftlichen Zustand der Insel.
Eins sticht dabei besonders ins Auge: Wer nicht gerade einen Druiden
oder dergleichen spielt, der spielt in MB immer Krieger. Jeder Hirte,
Bauer, Handwerker oder Fischer ist eigentlich in erster Linie Krieger
und verbringt die Zeit zwischen den Feldzügen mit seinem „Alltagsberuf“
- entsprechend sind die Charakterbauregeln etwas angepasst.
Die Magie wird beschrieben, erklärt und mit passenden Zusatzregeln
versehen (für Mythras-Kenner: Britannier und Sachsen verwenden einen
etwas aufgepumpten Animismus, die Christen abgeschwächten Theismus).
Kurz gesagt, die Spielwelt wird beschrieben und ihre wichtigsten
vorgegeben Akteure wie Arthur, Merlin, Morgana und so weiter mit
passenden Biographien und mit Spielwerten versehen. Zwischendurch ist
ein an die Spielwelt angepasstes Massenkampfsystem für große Schlachten
enthalten, das aber kaum von dem Mythras-Zusatzbuch „Schiffe und
Schildwälle“ abweicht.
Der zweite Teil des Buches ist eine siebenteilige (!) Kampagne, in der
die Spielercharaktere als keltische Krieger und Agenten Merlins durch
Britannien reisen und allerlei abenteuerliche Dinge für ihn erledigen,
wobei sie sich mit (natürlich) Sachsen, verschollenen Artefakten,
zornigen Geistern ermordeter Druiden und mehr oder weniger politischen
und romantischen Verwicklungen aus Arthurs Umfeld auseinandersetzen
müssen. Das Buch ermutigt den Spielleiter, eigene Abenteuer dazwischen
einzuflechten, aber nötig wäre das nicht; MB liefert wohl genug Stoff
für zehn bis zwanzig vierstündige Spielsitzungen, würde ich schätzen.
Zwei weitere Quellen- und Abenteuerbände sind auf Englisch erhältlich
und auf deutsch angekündigt, aber selbst ohne die bietet das mythische
Britannien des Jahres 495 AD für eine Gruppe abenteuerlicher Kelten
einiges zu tun. Durch das quasihistorische Setting ergeben sich zudem im
Netz und jeder Bibliothek zusätzliche „Quellenbände“ ganz von selbst.
Manches im Buch orientiert sich an Bernard Cornwells Version der
Artus-Sage, in den Romanen findet man auch wunderbare Inspiration für
weitere Kampagnen.
Ich bin von dem Konzept des Buches, dem europäischen Arthurmythos auf
den urkeltischen Grund zu gehen, ebenso begeistert wie der Ausführung.
Dies ist eine wunderbare Art, Fantasy zu spielen oder darüber einfach
nur zu lesen. Bei ein oder zwei Übersetzungen ins Deutsche war ich zwar
verwundert, aber nicht irritiert (so werden die Nichtchristen als
„Pagane“ übersetzt und nicht als „Heiden“, was mE mehr Sinn ergeben
hätte, aber die Übersetzer haben Gründe dafür). Selbst diese Dinge fügen
sich für mich gut in unsere Sprache ein, auch wenn ich sie anders gelöst
hätte.
Insgesamt kann ich jedem, der in einem „historisch weniger inkorrekten“
Arthur-Mythos spielen oder leiten (oder auch nur darüber lesen!) will,
Mythic Britain sehr ans Herz legen.
Das PDF gibt's bei drivethrugrpg (siehe Link), die schicken gedruckten
Bücher bei der 100Questen-Gesellschaft (von den gleichen Leuten
betrieben wie die RuneQuest-Gesellschaft; die Lizenz wurde verschoben,
um Verwechslungen mit Urhwerks RuneQuest zu vermeiden).
https://www.drivethrurpg.com/product/254889/Mythic-Britain--Rollenspiel-im-Zeitalter-Merlins