"Verteufelter Heavy Metal"
von Reto Wehrli
Auflage: 08/2001
Erscheinungsjahr: 2001
ISBN: 3-933060-04-4
Verlag: Telos
Genre: Musik
Ein Sachbuch zu unserem innig geliebten Musikgenre steht diesmal auf dem
Rezensionsprogramm. Und welch edler Fund überdies! "Verteufelter Heavy
Metal - Forderungen nach Musikzensur zwischen christlichem Fundamentalismus
und staatlichem Jugendschutz" - Der auf den ersten Blick irreführende Titel
scheint auf ein weiteres Hetz-Pamphlet hinzuweisen, das im Metal das Wirken
Satans ausmachen möchte. Doch mehr als weit gefehlt; das Wörtchen
"Fundamentalismus" sollte stutzen lassen und ein Blick auf Buchrückseite
sowie Inhaltsverzeichnis räumt dann jeden Zweifel aus, welche Seite dieses
scheinbar endlosen Feldzuges für Anstand und Moral in diesem Werk unter
Beschuss stehen wird. Zudem erschien Reto Wehrlis umfassende Schrift im
Telos-Verlag, geführt von Dr. Roland Seim, der auch im Netz durch
verschiedene Anti-Zensur-Webseiten präsent und wirkungsvoll in Aktion tritt.
Wehrli selbst ist Psychologe, scheinbar eine für die Thematik unwesentliche
Fachausbildung, doch auch hier: weit gefehlt. Die psychologischen Aspekte in
dieser ganzen Streit-Thematik sind absolut wesentlich, und da sich der Autor
seit fast zwanzig Jahren mit dem Phänomen Heavy Metal - selbst ein
kritischer und merklich kundiger Fan - befasst und zudem das Augenmerk
fachkundig auf Medienzensur richtet, sind hier optimale Voraussetzungen für
eine vielversprechende Auseinandersetzung gegeben.
"Verteufelter Heavy Metal" ist ein Fachbuch, eine wissenschaftliche Studie
und Arbeit, die durchaus voraussetzungsvoll ist und sich gelegentlich in
akademischen Ausdrucksformen ergeht, aber dennoch in erfrischender und
faszinierender Weise geschrieben wurde, stets begleitet von einem geradezu
sarkastischen Unterton und persönlichen Einwürfen, ohne dadurch unsachlich
zu werden. Und die Sachlichkeit hat es in sich: Im Gegensatz zu den
oberflächlichen Anwürfen der fundamentalistischen Apologeten und staatlichen
Kontrollinstanzen ist hier jedes Faktum sorgsam recherchiert und durch
unzählige Quellen belegt. Ein endloses Literaturverzeichnis sowie ein
ausgiebiges Sachwortregister und Autorenverzeichnis runden die
Wissenschaftlichkeit der Arbeit ab. Wehrli bemüht zudem ausgiebig
Originalquellen sowie sorgsame Eigenrecherchen und vermeidet es, Aussagen
von Abgeschriebenem abzuschreiben, wie dies so gern und bequem anderenorts
praktiziert wird - was die ärgsten Peinlichkeiten verursacht und zu
Gelächter einlüde, wären die Folgeerscheinungen nicht gar so unerfreulich.
Kulturhistorische Details, psychologische, soziologische, politische und
musikwissenschaftliche Informationen in Hülle und Fülle porträtieren ein
umfassendes Bild von Rock- und Metal-Szene, moderner Musikentwicklung,
Medienlandschaft, Moralgebäuden und Zensurbemühungen.
Zensur? Minderheiten- und Randgruppendiskriminierung? In einer Demokratie?
Gar in Deutschland? Unsinn! möchte der Leser an dieser Stelle vielleicht
abwinkend ausrufen. Nun, gesetzlich gibt es eine Zensur natürlich nicht,
doch betrachtet man sich die reale Umsetzung verschiedener Grundrechte wie
Meinungs- und Religionsfreiheit usw. genauer, hat man vielleicht eine
Andeutung davon, wie es mit zensorischen Maßnahmen aussieht. Hier kann man
vielleicht eher von einer gezielt aufgebauten 'Filterung' sprechen, einer
geradezu automatisierten und durch Zwänge und Gegebenheiten bestimmten
Selbstkontrolle - allerdings nicht ganz so freiwillig, wie die bekannte
Kontrollinstanz dies namentlich vermuten lassen möchte. Die Demokratie ist
hier gezwungen, subtiler vorzugehen, doch die Wirkungsweise ist effektiver
als man glauben würde. Bis zu direkten Zugriffen, Polizeirazzien etc. reicht
das Repertoire der besorgten Ordnungsinstanzen in der Musik- und
Kunstlandschaft allerdings ebenfalls, auch wenn der Durchschnittsbürger
solche Szenarien allzu leicht ins Reich der paranoiden Phantasterei
verbannen möchte. Wehrli geht hierauf ausführlich und mit belegten
Fallbeispielen vor allem aus den USA (wo Bücher-Barbecue ein recht beliebtes
Spektakel zu sein scheint; ein Schelm, wer dabei Parallelen zieht),
Skandinavien und dem deutschsprachigen Raum ein, doch dazu später mehr,
zunächst der Reihe nach zum Buchinhalt (Ihr merkt, ich könnte mich diesmal
wieder etwas ausführlicher auslassen. Ich hoffe, der Kaffee steht
griffbereit.):
Bereits der Einleitungstext meißelt zentrale Probleme und Fragwürdigkeiten
im Umgang mit der Thematik des Heavy Metal und seiner Subkultur heraus, von
Gesellschaftsunterwanderung und Amoralität bis hin zu Satanismusprojektionen
und der Frage, wie gesichert und vertrauenswürdig so manche Studie sein mag,
die sich letztlich auf nichts als urbane Mythen berufen kann.
Damit überhaupt fachkundig auf die zentralen Themen eingegangen werden kann,
muss zunächst abgeklärt und analysiert werden, wovon überhaupt die Rede sein
soll und worum es sich beim Heavy Metal eigentlich handelt. Dazu bietet Reto
Wehrli in den ersten vier Kapiteln einen ausführlichen Überblick zur
musikwissenschaftlichen Entwicklung des Metal, zur kulturhistorischen
Bedeutung und Einordnung, zu den verschiedenen Metal-Stilen, zur Subkultur
und den damit verbundenen soziologischen, politischen und psychologischen
Mustern. Hierbei wird, das muss angemerkt werden, deutlich, durchaus nicht
einseitig argumentiert und so manche Skurilität, (chauvinistische)
Klischeelastigkeit und Blöße der Metal-'Philosophie' aufgezeigt. Für jeden
Metal-Fan eine bildende Bereicherung und für jeden Schimpftiradenkanonier
Pflichtlektüre, denn wie sagte Dieter Nuhr so beflügelnd: "Wenn man keine
Ahnung hat - einfach mal die Fresse halten!"
Wie wenig Ahnung die Ankläger im Regelfall von ihrem Streitobjekt haben,
zeigt Wehrli in einem Hauptblock des Buches, nachdem er mit Kapitel 5 vorweg
einige der beständig gleichen Kernvorwürfe und interessante Statistiken und
Begebenheiten kurz als Appetizer anreißt. In diesem zentralen und sehr
umfangreichen Kapitel "...And Justice for All" gibt der Autor einen
Überblick über alle historisch wesentlichen Bands, die für die Thematik
bedeutsam sind, von den BEATLES 1960 bis zu MARILYN MANSON 1989. Die
Großmeister des Heavy Metal fehlen dazwischen natürlich auch nicht. Dabei
wird jeweils die Bandgeschichte präsentiert, teils mit interessanten Details
gespickt, sowie die jeweils mit der Band verknüpften Skandale, Prozesse und
zensorischen Maßnahmen aufgeführt. Zugleich wird der Großteil dieser Anwürfe
als unsinnig zerpflückt, prozessierte Texte im Original verglichen und
interpretiert, beschlagnahmte Platten-Cover präsentiert und desgleichen
mehr. Da wird es manchmal schwierig, den Text im Auge zu behalten, da der
Kopf beständig in ungläubigem Staunen (oder Entsetzen?) hin und her
geschüttelt wird. Bei soviel kirchlichem, staatlichem, in jedem Falle aber
amtlichem Stumpfsinn musste meine Schreibtischkante arg leiden, da ich mich
veranlasst sah, allzu oft mit einem Homer Simpson'schen "Nein!" auf den
Lippen die Stirn gegen selbige zu schlagen. Kann man für geistige Schmerzen
eigentlich Schadensersatzforderungen einklagen?
Auf den offenbar fragwürdigen geistigen Zustand der Ausführenden solch
fabulöser Hexenjagden geht Wehrli angebrachterweise später noch ein, doch
zunächst widmet er sich einer der beliebtesten urbanen Legenden des Heavy
Metal: der "Backward Maskings" oder unterschwelligen Botschaften. Hier wird
zum ersten Mal in der mir bekannten Fachliteratur wirklich wissenschaftlich
argumentiert. Dies mit der durch keinen Gegenbeleg zu entkräftenden
Folgerung, dass diese heiß geliebten "Satansbotschaften" etwa so
wirkungsvoll sind wie Hufeisen über der Haustür und in den meisten Fällen
überdies gar nicht vorhanden und krampfhaft in Gehörtes
hineininterpretiert - da kann man die Tonspur noch so besessen [sic]
rückwärts laufen lassen. Darauf geht der Autor bei den einzelnen Bands und
im Verlauf des Buches gelegentlich jeweils noch ausführlicher ein.
Es schließt sich ein wahres Genusskapitel an, in dem sich Wehrli nun genauer
den Gegnern des Heavy Metal widmet, sie institutionell und psychologisch
durchleuchtet und die Beweggründe aufzuspüren sucht. Traditionalisten,
Fundamentalisten, Christensekten und Anthroposophen bilden hier den
Schwerpunkt.
Hernach folgt ein ausführliches Rezensionskapitel, in dem der Autor die
führenden und gern als Fachreferenz herangezogenen Pamphlete,
Entschuldigung, Fachbücher über Rock, Metal und ihr satanisches Wirken
komplett und genüsslich zerpflückt und dabei nicht im geringsten zimperlich
oder verbal zurückhalten verfährt. Da kommt Freude auf.
Die folgenden beiden Kernkapitel widmen sich nun den Zensurinstanzen und
ihrem Wirken sowie den einzelnen Zensurfällen, die bedeutsam waren. Hier
gibt es übrigens allerlei Bild- und Schriftmaterial für Genießer zu
begutachten. Da das meiste davon indiziert wurde, wundert es mich, dass
diese schwer beschaffbaren Quellen hier in dieser öffentlichen Form
herangezogen werden konnten, ohne die Fürsorge des Großen Bruders auf den
Plan zu rufen. In jedem Falle: Respekt! Da gehen einem wahrhaft die Augen
über und die permanente Scheibenwischergeste beim Lesen ist vorprogrammiert;
man mag kaum glauben, zu welchen Einzelfällen es dabei auch hier in
deutschen Landen kam, aber auch die Lage in Übersee wird natürlich ausgiebig
beleuchtet. Wehrli wirft auch einen vielsagenden Blick auf andere
Medienbereiche, vornehmlich Horrorfilme und Comics. Auch da gibt es allerlei
Auswüchse von beiden Seiten der Front.
Das letzte Kapitel vor dem nachdenklichen Schlusswort richtet den Blick gen
Norden, zu den Auswüchsen des Metal-Underground in Skandinavien. Hier gibt
es dann tatsächlich einmal Grund zu aufrichtig angebrachter Sorge, denn was
sich hier in einer Vermischung aus Pseudosatanismus, Nationalsozialismus und
hartem Metal zusammengebraut hat und auch vor Folgeerscheinungen in
Deutschland nicht Halt machte, ist in der Tat erschreckend. So werden also
wirkliche Problemzonen, wie eingangs schon angemerkt, nicht ausgeblendet
oder beschönigt. Was glänzend und völlig daneben ist, wird von Wehrli ebenso
beim Namen genannt wie er dies bei den etwas fehlgeleiteten Metalgegnern und
Randgruppenhetzern (Gesellschaftliche Feindbilder sind noch immer eines der
wirksamsten Werkzeuge der Macht.) zuvor tat. Allerdings kommt auch hier
letztlich zum Ausdruck, dass nicht der Metal, wie gern angeführt, das
ursächliche Problem, sondern nur ein Symptom der Krankheit ist, von deren
Wurzeln die Gesellschaft anklagend ablenken möchte, um sich nicht mit den
wahren Pathologien ihres Daseins befassen zu müssen.
Alles in allem ist "Verteufelter Heavy Metal" zum Thema das zweifelsohne
umfassendste und bestrecherchierte Werk im Buchsektor. Für den Fan finden
sich zahllose Fakten und Details und die Aufmerksamkeit für Problemzonen der
scheinbar freien Demokratie wird deutlich geschärft. Für Szenegegner ist
dieses Buch unverzichtbar, wenn sie ernsthaft an einer Diskussion
interessiert sein sollten und bestrebt sind, sich mit wahrhaften
Hintergründen und Zusammenhängen auseinanderzusetzen. Betrüblich ist, dass
dieses Mitte 2001 erschienene Buch noch immer in der ersten Auflage von 750
Exemplaren steckt, während allerlei Schundwerke sich zu Zehntausenden
verkauft haben und als Referenzmaterial herhalten müssen. Auch preislich
bewegt sich das Buch im grünen Bereich, denn die 400 kleinstbedruckten
Seiten mit mehr als 100 Abbildungen entsprechen etwa dem Umfang eines
800-seitigen Taschenbuches. Und für Fachliteratur, gerade von Kleinverlagen,
sind die Kosten normalerweise geradezu exorbital. In jedem Falle: Zwei
enthusiastisch erhobene Daumen für diese Glanzleistung.
Grobes Inhaltsverzeichnis:
Intro
1. Ein Phoenix aus der Asche der Jugendkultur: Heavy Metal
2. "Stampfen, Toben, Fäuste schwingen" - Eskapismus als Lebensrealität
3. Schwer und leicht, schwarz und weiß
4. "Recognize your age - it's a teenage rampage!"
5. "Sex, Gewalt und Satanismus": Auf jeder Platte ein Dämon!
6. "...And Justice for All": Die verteufelten Bands im Überblick
7. Der Satan kommt von hinten: 'Backward Maskings'
8. Jäger des verlorenen Schamgefühls - Wer sind die Gegner des Heavy Metal?
9. Am Anfang war das letzte Wort: Bücher gegen den Heavy Metal
10. Wer zensiert was? Die Unterschiedlichkeit des Unzulässigen
11. Große allgemeine Verunsicherung! Musikzensur in Deutschland
12. Auswüchse aus dem Untergrund
13. Schluss
Literatur
Diskografien
Autorenverzeichnis
Register
Verlags-Homepage: http://www.telos-verlag.de
Meine Originalrezension (c)Powermetal.de unter
http://www.powermetal.de/book/anzeigen.php?id_book=126
Dark blessings,
LDS / Andreas Jur
--
___________________________
Rhizomorphe Prozesse im Internet - New Aeon City:
http://www.wissen24.de/vorschau/15211.html
___________________________
GREX Filiorum Crepuscili
http://www.GREX-online.de
___________________________