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Wie hört man Polyphonie?

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H.-P. Schulz

unread,
May 19, 2021, 11:13:46 AM5/19/21
to
Polyphonie fasziniert. Fugen und andere kontrapunktisch geordnete
Mehrstimmigkeit bilden ein "Kontrastprogramm" zur homophonen, also
dreiklangorientierten, mehr oder weniger funktionsharmonischen Musik.
Die Polyphonie ist ja musikgeschichtlich das Frühere, das, woraus sich
dann die Funktionsharmonik - mit Generalbass als sozusagen
Zwischenstation - entwickelte.

Als moderner Hörer, der dank vielseitiger Aufführungs- und
Aufnahmeangebote *alles* rezipieren kann, von
Gregorianik-Einstimmigkeit bis zur Neuen Musik, ist es mir unmöglich,
das Hören eines Menschen von zB 1550 nachzuempfinden. Vielleicht
"sprach" die Polyphonie zu jenem ganz anders als zu einem heutigen
Hörer. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass er allen Stimmen
_gleichzeitig_ folgen konnte. Das wäre ja ein "Multi-Tasking" höherer
Ordnung gewesen! Aber er kannte die Funktionsharmonik nicht, auch die
Leittönigkeit, die die Musik ab spätestens 1700 prägte, war ihm wenn
überhaupt, dann nur "vorbewusst".

Ich Heutiger kann irgendwie (... bisher) nicht anders, als die
Polyphonie, den Renaissance-Kontrapunkt, doch weitgehend "harmonisch"
zu hören; freilich nicht *funktions*harmonisch i.e.S., ich denke da
nicht in Tonika, Subdominante und Dominante, aber eine eigentümliche
Nebenstufenharmonik, ein irgendwie "plagaler" Dur-Moll-Wechsel
allenthalben - und dann die fast schon langweilige
Phrasenschluss-Formel mit Leittonauflösung . . . doch, das ist ein auf
ansprechende Weise modifizierter, oder soll ich sagen entstellter?,
drei-, vier- oder fünfstimmiger Satz. Analytisch wird es nur
gelegentlich, etwa bei markanten Stimmneueinsätzen nach einem etwas
längeren Tacet.
Und dann die Außenstimmen, die in so gut wie jeder Aufnahme die
Innenstimmen dominieren! Man versuche mal, dem Tenor oder dem Bariton
zu folgen! Fast unmöglich!

Ich bin im Lauf der Jahre bei immer kleineren Ensembles gelandet. Die
dicke Besetzung von Stimmen erzeugt immer etwas in Richtung
Klangteppich - schöner Teppich, zugegeben, - aber ich höre es nur noch
selten. So sind dann auch diese x-stimmigen Monumentalmessen bei mir
nicht mehr oft auf dem Programm.
Auch habe ich meinen Frieden mit reinen Männerstimmen-Ensembles
gemacht, ja ich finde in vielen Fällen einen Contretenor oder Altus
von einer Männerstimme passender, im Zweifelsfall weniger
"schneidend".
(Habe auch gerade die Frühbarock/Spätrenaissance-Arien aus dem
Monteverdi Umkreis nochmal richtig entdeckt (Rossi!!), und da stehen
die Zeichen dann ja sowieso mächtig auf Countertenor. J.J. Orlinski
bspw. könnte ich fast stundenlang zuhören!)

Wie geht es anderen mit der Polyphonie i.w.S.?

H.-P. Schulz

unread,
May 20, 2021, 5:13:35 AM5/20/21
to
Beate Goebel <boe...@spamfence.net> schrieb:

>H.-P. Schulz schrieb am 19 Mai 2021
>
>> Polyphonie fasziniert. Fugen und andere kontrapunktisch geordnete
>> Mehrstimmigkeit bilden ein "Kontrastprogramm" zur homophonen, also
>
>[...]
>
>> Wie geht es anderen mit der Polyphonie i.w.S.?
>
>Harmonien kennen und selbst spielen hilft.

Ich habe mir das alles in jungen Jahren theoretisch erarbeitet -
*ohne* Klavier. Aber natürlich einige andere Instrumente, auch etwas
Gitarre dann später - da ging es dann schon "harmonisch" zu. Auch auf
dem Akkordeon habe ich dilettiert. Mein "eigentliches", also etwas
ernsthafter betriebenes Instrument war .... Flöte. :))

>Selbst wenn ein Klavier nie ein Cembalo oder gar ein Virginal ersetzen
>kann, bekommt man doch ein Gefühl für die Linien.
>
>Ansonsten: Hören mit Partitur auf den Knien, so vorhanden.

Das sowieso! Ich habe es immer geliebt. In meiner "sinfonischen Phase"
habe ich das so richtig voll ausgelebt. Aber auch jetzt die letzten
Jahre (eigentlich schon ganz schön viele Jahre ...), wo ich praktisch
nur noch Kammermusik höre, nehme ich gern die Noten vor - oder schaue
mir wenigstens mal was in YT an.

>Sich einen Interpreten suchen und dem folgen. Empfehle da z.B. Tim
>Mead:
>https://www.youtube.com/watch?v=CzcA1LvEems

Ja, der ist ja ziemlich gut! Aber ich erwähnte ja weiter unten den
Orlinski. Der ist - finde ich - besonders, weil seine Stimme auf
keinen Fall und nicht für eine Sekunde mit der eines weiblichen Alt zu
verwechseln ist.
>
>Bei sehr früher Musik, 12. Jh etc., kann man nur einfach zuhören.

Ich habe da nur wenig. Machaut, DuFay (das ist schon das Früheste, was
ich habe ...) - das war 's dann aber auch. Aber, stimmt, das ist schon
sehr fremd. Die Schlussformel ist da ja oft ganz leittonfrei, sehr
"spezial" - - - aber ergreifend! zB.:

https://www.youtube.com/watch?v=6mcxEtyEUw4

etwa 5:07 bis 5:19
>
>Ich glaube nicht, dass damals der Hörer jeder Linie folgen konnte.
>1. waren das keine Konzerte in unserem Sinne. Der Kirchenbesucher
>sollte eher überwältigt werden.

Mir kommt auch immer der Gedanke an Engelchor und Himmlisches
Jerusalem (das waren ja auch die Kathedralen!). Und mit der
"Überwältigung" ... na ja, jedenfalls wurde die Andacht und die
Versenkung befördert. Dem kann (und will) auch ich mich gar nicht
entziehen. Aber der gebildete Hörer in mir will auch immer "Futter",
und so ist der "Genuss" immer ein schwankender, changierender.


>Und 2. muss man sich den Aufführungsraum anschauen. Hallige Kirchen
>fördern nicht die Durchhörbarkeit.

Die Sachen sind ja in aller Regel auch auf Nachhall disponiert. Und
nichts ist verkehrter als die - ein Glück eher seltenen - viel zu
"trockenen", kleinräumigen Aufnahmen/Aufführungen heutzutage.
Natürlich kann man es mit dem Hall auch übertreiben, - aber es muss
schon ordentlich was da sein.
Die Unterschiede (ich sage: Qualitätsunterschiede!) der Aufnahmen sind
gewaltig, und die Mikrofonplatzierung ist ein Buch für sich ... Ich zB
mag etwas Abstand, so 6 - 8 Meter; leider rückt das Mikro den Sängern
in viele Aufnahmen furchtbar auf die Pelle! (Ich höre das alles immer
über Kopfhörer, und das bringt Tontechnikfehler natürlich viel
ungnädiger zutage als eine Wiedergabe über LS.)
>
>Man darf nicht vergessen, dass das in einer Welt, in der die
>menschliche Stimme das Lauteste war, sehr _umwerfend_ wirkte und wirken
>sollte.
>
>Das können wir heute nicht mehr nachvollziehen. Unser Verständnis davon
>ist eher theoretisch, IMHO.

Ja klar. Aber ich bin froh und dankbar, dass ich heute - und in den
letzten ca. zwanzig Jahren geradezu boomend! - all diese Sachen so
leicht zugänglich (und in hoher Auffuhrungsqualität) habe. Wenn ich da
an die 60er, 70er und so denke, "Archiv Produktion" der DG. Aber da
hatte ich glaubich nur was Gregorianik - und dann noch Schütz, wenn
ich mich recht erinnere. Überhaupt Schütz! Echt spezial!

H.-P. Schulz

unread,
May 24, 2021, 6:26:01 AM5/24/21
to
Beate Goebel <boe...@spamfence.net> schrieb:

> Eigentlich fängt es bei mir
>bei Bach an und selbst mit Haydn habe ich noch Probleme.

Haydn habe ich vor ca. zwanzig Jahren wiederentdeckt. Die
Streichquartette, die Trios. Die Sinfonik hatte ich schon in jungen
Jahren "durch", und die Sinfonie No.94 "Mit dem Paukenschlag" gehörte
zu meinen allerersten Musikerlebnissen als Kind.

Haydn ist selbst im Schematischen noch richtig gut. Das gilt übrigens
ganz genau so für Mozart. Da mag dieser sich bei jenem vielleicht so
manches abgeschaut haben, - und zum Abschauen gab es ja wohl
schlechtere Adressen als Haydn.

###########################################

Ich genieße den Bach der Partiten, der Goldbergvariationen, des WTC,
ja sogar der Kunst der Fuge und des Musikalischen Opfers; weniger den
der Kantaten, Orgelstücke, Oratorien, Suiten. Ich wette, die ersteren
sind ihm viel leichter gefallen, gingen ihm viel flotter von der Hand
als so manche Kantate. Er hatte wohl eine Spezialbegabung für den
Kontrapunkt. Und die Solosachen sind ... ich nenne es immer paradox
"einstimmiger Kontrapunkt". Ich habe nämlich einen Hör-Trick gefunden.
Ich weiß nicht, ob das jedem gleich leicht fällt, aber es geht
folgendermaßen:

Es gibt doch solche "Wimmelbilder", irgend ein repetitives
kleinfitzliges Muster scheinbar gleichmäßig übers ganze Blatt. Wenn
man dieses Bild auf eine bestimmte Weise betrachtet, nämlich die Augen
parallel *bei gleichzeitiger Nah-Scharfstellung der Linsen*, tritt
plötzlich ein räumlicher Eindruck auf - und man erkennt ein Objekt vor
einem Hintergrund. Ich glaube, der gängige Name dafür ist
"Stereogramm".

Nun übertrage man das irgendwie ins Auditive! Es geht da weniger um
"Räumlichkeit" (die ist, zumal beim Hören über Kopfhörer, sowieso
gegeben) als eher um eine "sekundäre Prägnanz", soll heißen man
entfernt sich so weit es irgend geht von einer _melodischen_
Rezeption! Einstimmigkeit sei also nicht automatisch "Melodie",
sondern eben "etwas anderes". Dieses Andere beschert einem ein völlig
neuartiges, irgendwie sehr "abstraktes" Erlebnis.

Das geht auch bei zB Vokalpolyphonie, überhaupt auch bei mehrstimmigem
Kontrapunkt, aber da ist dann natürlich schnell der
"Klangteppich"-Eindruck dominant. Das ist auch vorderhand nichts
Schlechtes, aber es liegt halt noch etwas anderes "drunter", und dazu
muss man dann durch den Klangteppich hindurch. Und das schaffe ich
eben (nicht immer, es ist Tagesform abhängig!) durch diese Hörweise
(vielleicht geht das *nur* per Kopfhörer), die die Räumlichkeit nicht
als Erlebnis *sucht* (... und sie dadurch recht eigentlich erst
erzeugt), sondern sich möglichst "auf neutral stellt".
Vielleicht habe ich ja ein Körpergedächtnis bezüglich "Mono"-Rezeption
(von ganz früher), das mir in dieser Sache hilfreich kommt.
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