Google Groups no longer supports new Usenet posts or subscriptions. Historical content remains viewable.
Dismiss

Szasz-Zitat: Die Entdeckung der Drogensucht 2 [428] Psychiatrie

4 views
Skip to first unread message

Franz P. Beuler

unread,
Jul 12, 2014, 9:23:12 AM7/12/14
to
Szasz-Zitat: Die Entdeckung der Drogensucht 2 [428] Psychiatrie

Oder genauer:
Rituelle Chemie


Kurzzitate:

„ Um zu verstehen, was mit ritueller Chemie gemeint ist, müssen wir
daher zwischen den chemischen oder medizinischen Wirkungen von Drogen
und den rituellen oder moralischen Aspekten des Drogenkonsums
unterscheiden. Auf den ersten Blick erscheint diese Unterscheidung
durchaus leicht zu treffen. Wenn sie sich dennoch dem Zugriff entzieht,
so deshalb, weil es sich – wie wir noch feststellen werden können –
dabei um eine Unterscheidung handelt, durch die wir heute oft die uns so
wertvolle Zugehörigkeit zu unserer Familie, unserem Berufsstand oder
einer anderen Gruppe aufs Spiel setzen, von der unsere Selbstachtung,
wenn nicht unsere ganze Existenz abhängt.“

„ Die Mythologie der Psychiatrie hat nicht nur unseren gesunden
Hausverstand und unsere Gesetze korrumpiert, sondern auch unsere Sprache
und die Pharmakologie. Wie alle derartigen Korruptionen und Konfusionen
wurde uns freilich auch diese nicht von konspirativen und
ränkeschmiedenden Psychiatern aufgezwungen; sie ist lediglich eine
weitere Manifestation des tief verwurzelten menschlichen Bedürfnisses
nach Magie und Religion, nach Zeremoniell und Ritual, und des
verborgenen (unbewußten) Ausdrucks dieses Bedürfnisses in dem, was wir
kraft Selbsttäuschung für die „Wissenschaft“ der Pharmakologie halten.“


Zitat aus:
Szasz, Thomas S.: /Das Ritual der Drogen – Das 'Drogenproblem' in neuer
Sicht: Sündenbock unserer Gesellschaft/

I. Pharmakos: Der Sündenbock
1. Die Entdeckung der Drogensucht

Seite 25 ff.:

Rituelle und feierliche Veranstaltungen – wie die Heilige Kommunion,
das Yom-Kippur-Fest oder der Flaggengruß – bringen bestimmte, von der
Gemeinschaft geteilte Wertvorstellungen zum Ausdruck. Durch Teilnahme an
dem Zeremoniell bekräftigt das Individuum seine Zugehörigkeit zur
Gruppe; durch Verweigerung der Teilnahme demonstriert es seine Ablehnung
der Gruppe bzw. seinen Rückzug daraus.
Um zu verstehen, was mit ritueller Chemie gemeint ist, müssen wir
daher zwischen den chemischen oder medizinischen Wirkungen von Drogen
und den rituellen oder moralischen Aspekten des Drogenkonsums
unterscheiden. Auf den ersten Blick erscheint diese Unterscheidung
durchaus leicht zu treffen. Wenn sie sich dennoch dem Zugriff entzieht,
so deshalb, weil es sich – wie wir noch feststellen werden können –
dabei um eine Unterscheidung handelt, durch die wir heute oft die uns so
wertvolle Zugehörigkeit zu unserer Familie, unserem Berufsstand oder
einer anderen Gruppe aufs Spiel setzen, von der unsere Selbstachtung,
wenn nicht unsere ganze Existenz abhängt.
Pharmakologische Lehrbücher befassen sich mit den chemischen
Wirkungen verschiedener Drogen auf den Organismus, insbesondere des
Menschen; im engeren Sinn mit der Anwendung von Drogen zur Behandlung
von Krankheiten. Dieser scheinbar rein medizinischen Betrachtungsweise
liegt natürlich eine ethische Prämisse zugrunde, aber diese ist uns so
selbstverständlich, daß wir es gewöhnlich für überflüssig halten, sie zu
artikulieren: nämlich, daß wir bestimmte Drogen für „heilkräftig“ halten
und uns bemühen, diese zu entwickeln; daß sie dem Menschen (Patienten)
nützen, der sie anwendet – und nicht etwa den pathogenen
Mikroorganismen, die ihn infizierten, oder den Krebszellen, die in
seinem Körper wuchern. Ein pharmakologisches Lehrbuch zu Nutz und
Frommen der Pneumokokken oder Spirochäten müßte anders beschaffen sein
als ein für den Menschen verfaßtes. Die grundlegende und dennoch
unausgesprochene moralische Prämisse, auf die ich hier verweise, besagt,
daß die Pharmakologie eine angewandte wissenschaftliche Disziplin ist –
angewandt auf das Wohl des Patienten, so wie es von diesem im
allgemeinen verstanden und angestrebt wird.
Dessenungeachtet enthalten alle neueren Lehrbücher der Pharmakologie
Material, das völlig unvereinbar mit diesem Ziel und dieser Prämisse ist
und in scharfem Konflikt mit der vorgeblichen intellektuellen Aufgabe
des Forschers oder Praktikers der Pharmakologie steht. Ich spreche von
der Tatsache, daß alle diese Lehrbücher Kapitel über Drogensucht und
Drogenmißbrauch enthalten.
In der vierten Ausgabe von /The Pharmacological Basis of
Therapeutics/, herausgegeben von Goodman und Gilman, definiert der
Psychiater Jerome H. Jaffe „Drogenmißbrauch“ als „. . . Gebrauch von
Drogen, gewöhnlich selbst verabreicht, in einer Art und Weise, die von
den anerkannten medizinischen oder gesellschaftlichen Normen innerhalb
einer bestimmten Kultur abweicht (6)“.
Implizit wird der Drogenmißbrauch damit von Jaffe, Goodman und
Gilman – wie heute fast überall und von fast allen – als Krankheit
betrachtet, deren Diagnose und Behandlung zu den legitimen Aufgaben des
Arztes zählen. Aber halten wir sorgfältig fest, worin der
Drogenmißbrauch nun eigentlich bestehen soll. Jaffe selbst definiert ihn
als Abweichung von den „anerkannten medizinischen oder
gesellschaftlichen Normen“ des Drogenkonsums. Damit befinden wir uns
mitten in den tiefsten Tiefen der Mythologie geistig-seelischer
Erkrankungen: Denn genauso Wie gesellschaftlich mißbilligtes
pharmakologisches Verhalten „Drogenmißbrauch“ darstellt und von der
Medizin, die eine konzessionierte Agentur des Staates ist, offiziell als
Krankheit anerkannt wird, so wird gesellschaftlich mißbilligtes
Sexualverhalten zur „Perversion“ gestempelt und ebenfalls als Krankheit
anerkannt; und so gilt, allgemeiner gesprochen, gesellschaftlich
mißbilligtes persönliches Verhalten jedweder Art als „Geisteskrankheit“
und wird gleichfalls als Krankheit – „wie jede andere“ – anerkannt. Was
an allen diesen „Krankheiten“ besonders interessant und bedeutsam ist –
nämlich am Drogenmißbrauch, abnormen Sexualverhalten und den
Geisteskrankheiten allgemein – ist das Faktum, daß sich nur wenige,
falls überhaupt welche, der daran leidenden „Patienten“ als krank
empfinden; und daß, vielleicht aus diesem Grund, viele dieser
„Patienten“ gegen ihren Willen „behandelt“ werden dürfen und auch oft
behandelt werden (7).
Wie ich es sehe und wie auch Jaffes Definition einräumt, ist
Drogenmißbrauch eine Frage der Konvention; das heißt, es ist ein Thema,
das in die Kompetenz der Anthropologie und Soziologie, der Religion und
Jurisprudenz, der Ethik und der Kriminologie fällt – aber sicher nicht
in die der Pharmakologie.
Dazu kommt: Soweit es sich beim Drogenmißbrauch um mißbilligte oder
verbotene Formen des Drogenkonsums handelt, ist er nicht mit der
therapeutischen Verwendung von Drogen zur Heilung von Kranken zu
vergleichen, sondern vielmehr mit der toxischen Verwendung von Drogen,
die man Gesunden gibt, um sie zu vergiften. Manche Formen von
„Drogenmißbrauch“ können mithin als Akte der Selbstvergiftung angesehen
werden, die zu kriminellen Akten der Vergiftung im selben logischen
Verhältnis stehen wie Selbstmord zu Mord. Wenn dies jedoch zutrifft,
weshalb enthalten die pharmakologischen Lehrbücher dann nicht auch
Kapitel über die Behandlung von Personen, die Drogen „mißbrauchen“,
nicht um sich selbst, sondern um andere zu vergiften? Ein solcher
Vorschlag erscheint absurd. Warum? Weil Menschen, die /andere Menschen
vergiften/, Verbrecher sind. Was wir mit ihnen machen, ist kein Problem,
das die Wissenschaft oder die Pharmakologie zu lösen hat, sondern eine
Entscheidung, die vom Gesetzgeber und den Gerichten getroffen werden
muß. Aber ist es weniger absurd, die Frage, was mit Personen geschehen
soll, die sich /selbst vergiften/ (oder die nicht einmal sich selbst
schaden, sondern die lediglich gegen bestimmte soziale Normen oder
gesetzliche Bestimmungen verstoßen) in den Kompetenzbereich der Medizin
bzw. der Pharmakologie zu verweisen?
Es ist natürlich klar, daß es außer dieser normativen oder
rechtlichen Dimension des Drogenproblems eine biologische gibt, mit der
sich die Pharmakologie in der Tat zu Recht befaßt. Gleichgültig, wie
eine chemische Substanz in den Körper eines Menschen gelangt – ob durch
Vermittlung eines Arztes, wie in der üblichen medizinischen Behandlung;
oder durch Selbstverabreichung, wie dies im Falle des Drogenmißbrauchs
und der Drogensucht typisch ist; oder durch die Intervention eines
Übeltäters, wie in kriminellen Fällen von Vergiftung – die Substanz hat
bestimmte Wirkungen, die wir besser begreifen und erfolgreicher
bekämpfen können, wenn wir uns pharmakologischer Erkenntnisse und
Methoden bedienen. All dies versteht sich von selbst. Weniger
offenkundig ist vielleicht der Umstand, daß wir durch unsere
Konzentration auf die chemischen Aspekte der Drogen die einfache
Tatsache verschleiern (sie vielleicht verschleiern wollen), daß wir es
in manchen Fällen mit Menschen zu tun haben, die sich für krank halten
und unter ärztlicher Kontrolle behandelt werden wollen, während wir es
in anderen Fällen mit Personen zu tun haben, die sich nicht für krank
halten, aber sich unter eigener Kontrolle behandeln möchten. Die
toxikologischen Folgen von Drogen gehören somit in den Zusammenhang
einer Erörterung ihrer übrigen biologischen Auswirkungen, ebenso wie die
pharmakologischen und sonstigen Maßnahmen zur Bekämpfung ihrer
Giftigkeit; für die gesellschaftlichen und gesetzgeberischen Maßnahmen
gegen Personen, die als „Drogensüchtige“ oder „Drogenabhängige“
bezeichnet werden, sind hingegen pharmakologische Lehrbücher nicht der
richtige Platz.
Die Pharmakologie, vergessen wir nicht, ist die Arzneimittelkunde,
deren Aufgabe es ist, die heilende (therapeutische) und schädliche
(toxische) Wirkung der Drogen zu erforschen. Wenn Lehrbücher der
Pharmakologie Abschnitte über Drogenmißbrauch und Drogensucht enthalten,
ohne daß dagegen Einspruch erhoben wird, dann könnten mit ebensoviel
Berechtigung Lehrbücher der Gynäkologie und Urologie ein Kapitel der
Prostitution widmen, könnten sich Lehrbücher der Physiologie mit
Perversionen befassen, Lehrbücher der Genetik mit der rassischen
Minderwertigkeit von Juden und Negern; Lehrbücher der Mathematik mit
Spielhöllensyndikaten; und Lehrbücher der Astronomie natürlich mit
Sonnenanbetung.
Die Mythologie der Psychiatrie hat nicht nur unseren gesunden
Hausverstand und unsere Gesetze korrumpiert, sondern auch unsere Sprache
und die Pharmakologie. Wie alle derartigen Korruptionen und Konfusionen
wurde uns freilich auch diese nicht von konspirativen und
ränkeschmiedenden Psychiatern aufgezwungen; sie ist lediglich eine
weitere Manifestation des tief verwurzelten menschlichen Bedürfnisses
nach Magie und Religion, nach Zeremoniell und Ritual, und des
verborgenen (unbewußten) Ausdrucks dieses Bedürfnisses in dem, was wir
kraft Selbsttäuschung für die „Wissenschaft“ der Pharmakologie halten.
Erst wenn wir klarer als heute zwischen den chemischen und rituellen
Anwendungen und Wirkungen von Drogen unterscheiden, werden wir imstande
sein, an eine sinnvolle Beschreibung und eine vernünftige Diskussion der
sogenannten Probleme des Drogenmißbrauchs und der Drogensucht heranzutreten.


Anmerkungen:

1. Die Entdeckung der Drogensucht

1 S. Thomas Szasz, The ethics of addiction, /Harper's Magazine/, April
1972, S. 74–79, und Bad habits are not diseases, Lancet, 2:83–84 (8.
Juli), 1972
2 S. insbesondere Thomas Szasz, /The Myth of Mental Illness/, und
/Ideology and Insanity/, a. a. O.
3 S. Karl Menninger, /The Vital Balance/, S, 419–489
4 Ebda, S. 474
5 Gregory Zilboorg, /A History of Medical Psychology/, S. 591–606
6 Jerome H. Jaffe, Drug Addiction and Drug Abuse, in: Louis
Goodman/Alfred Gilman (Hrsg.), /The Pharmacological Basis of
therapeutics/, 4. Aufl., S.276.
7 Im Zusammenhang damit s. Thomas Szasz, /Law, Liberty, und
Psychiatry/ (deutsch: /Recht, Freiheit und Psychiatrie/, Wien 1978,
demnächst als Fischer Tb.) und Psychiatric Justice
8 Philip H. Abelson, Death from Heroin, /Science/, 168:1289, 12. Juni 1970
9 Jared Stout, New drug offers hope: May immunize heroin addicts,
/Syracuse Herald-Journal/, 23. Dezember 1971
10 Boyce Rensenberger, Amphetamines used by a physician to lift moods
of famous patients. /The New York Times/, 4. Dezember 1972
11 John A. Hamilton, Hooked on histrionics, a. a. O., 12. Februar 1973
12 Black leaders demand stiff drug penalties, /Human Events/, 17.
Februar 1973
13 Ebda
14 William F. Buckley Jr., Roekefeller's proposal, /Syracuse
Post-Standard/, 15. Februar 1973
15 Thomas Adams, Hanley urges stiffer penalties for drug abusers,
/Syracuse Herald-Journal/, 23. März 1968
16 Steven Jonas, Dealing with drugs, /The New York Times/, 12. Januar 1973
17 S. Thomas Szasz, /Ideology and Insanity/, bes. S. 218–245, und /The
Age of Madness/


Aus:
TEIL:
I. Pharmakos:
Der Sündenbock
KAPITEL:
1. Die Entdeckung der Drogensucht

In:
Szasz, Thomas S.: /Das Ritual der Drogen – Das 'Drogenproblem' in neuer
Sicht: Sündenbock unserer Gesellschaft/. Fischer Taschenbuch Verlag:
Frankfurt am Main 1980; Engl.: /Ceremonial Chemistry/. Anchor
Press/Doubleday, Garden City/New York 1974

Nachdruck und Online-Ausgabe:
Szasz, Thomas S.: /Ceremonial Chemistry: The Ritual Persecution of
Drugs, Addicts, and Pushers/. Syracuse University Press: Suracuse 2003:
http://books.google.de/books/about/Ceremonial_Chemistry.html?id=C9KRwndkEEkC

0 new messages