Am Sat, 10 Feb 2024 22:07:09 +0100 schrieb Arno Welzel
<
use...@arnowelzel.de>:
>Karl Müller, 2024-01-31 18:10:
>
>[...]
>> Die Pedelecs sind doch nicht die Lösung, die Lösung heist Kein-Pedelec
>> bzw. Radfahren von Kindes Beinen an und bis ins hohe Alter
>>
>> Man muss einfach früh genug damit anfangen
>>
>> Wer mit 70 das Radfahren entdeckt und ein Pedelec anschafft hat die
>> entscheidende Zeit verschlafen bzw. verstreichen lassen.
>
>Ja - ist halt so. Und? Was stört's Dich?
Ich bin zwar nicht gefragt, kommentiere aber trotzdem. "Ist halt so"
ist bei solchen Themen die schlechteste aller möglichen Antworten.
Es ist ja nicht so, als hätten wir hier nicht die Inszenierung der
E-Variante des Mofas als Fahrrad nicht von den frühesten Anfängen
mitverfolgen können. Nichts von der Etablierung und schließlich
rechtlichen Einstufung eines Motorfahrrades als Fahrrad "war halt so",
sondern das war ein Ergebnis einer gezielten Marketingkampagne, die
nicht nur beim Publikum, sondern auch in Kreisen begeisterte
Unterstützung fand und aufgegriffen wurde, die alles andere als Freunde
des Gebrauchs von Fahrräder als Verkehrsmittel oder als Trainingsgerät
im Straßenverkehr sind. Das sollte man nicht einfach so vom Tisch
wischen.
Was stört's mich? Primär stört mich aus Eigeninteresse der Umstand,
dass damit die längst flächendeckend zu beobachtende Verdrängung des
Radverkehrs von den Fahrbahnen mehr oder weniger zementiert wird. Das
oft gehörte Argument "abbbbber, abbber, mit Motor kann ich ja vieeel
weite fahren" ist das Papier bzw. die Elektrizität nicht wert, mit der
entsprechendes publiziert wird.
Umgekehrt wird ein Schuh draus: wo man mit dem Fahrrad auf die direkten,
gut trassierten und gut asphaltierten Strecken angewiesen ist, wenn man
mehr als die üblichen Fußgängerdistanzen mit dem Rad in akzeptabler Zeit
zurücklegen will, wird einem jetzt entgegengehalten, "Quatsch, ich hab
mit meinem Fahrrad überhaupt kein Problem damit und fahre eh' lieber
durch die Natur". Erst bei Nachfassen ergibt sich dann oft, dass das
Fahrrad ein Pedelec ist und die Natur ein unbefestigter Feldweg, der
anders als die direkt geführte Fahrbahn nicht eingeebnet ist, sondern
rauf und runter führt. Mit dem E-Mofa/Pedelec, einem 400Wh-Akku sowie
einer Antriebsleistung von nominal 250 W und bei Bedarf faktisch und
ostentativ beworben bis zu 600 W merkt man das überhaupt nicht, das
fährt auch eine Sofakartoffel mühelos mit einem Tempo, wie ich es mit
deutlich mehr Krafteinsatz nur auf der ordentlich asphaltierten und
ebenen Fahrbahn schaffe.
Kurz gesagt: das Pedelec ersetzt das Fahrrad, indem es dem Publikum die
Illusion verschafft, dass solche Abwege genau so gut mit einem Fahrrad
zu befahren seien wie die Fahrbahn. Dazu trägt sowohl der Umstand bei,
dass der Motor Rollwiderstand und Hügel glattbügelt und dass der Akku
das eretzt, was beim Fahrrad ein begrenztes Berriebsmittel ist, die
Ausdauer, aber auch, dass man mit dem Pedelec das nicht tut, was mit
einem Rennrad/Liegerad/Velomobil auf der Fahrbahn naheliegend ist: bei
günstigen Bedingungen deutlich schneller als 25 km/h zu fahren. Mit dem
Fahrrad fährt ma mit situationsbedingt stark variierendem Tempo, mit dem
Pedelec mit einheitlichem Tempo: am Tempolimit, mit dem Tempo, das der
Motor hergibt.
>
>> Volkswirtschaftlich ist das natürlich in Ordnung, es bringt Umsatz für die
>> darbende Fahrradindustrie und reduziert die Belastung der sowieso schon
>> überlasteten Rentenversicherung
>
>Eben.
Volkswirtwschaftlich ist es auch ein Geschäft, bei dem zugesetzt wird.
Allerdings nicht von der Fahrradindustrie, die sich vom Fahrrad
abwendet, um kurzfristig Reibach zu machen, sondern von uns und
insbesondere von denen, die in diese Falle tappen.
Man kann noch so sehr versuchen, sich das schönzureden, wie es auch hier
in drf oft geschehen ist: "Man _kann_ mit einem Pedelec genau so fahren
wie mit einem Fahrrad". Aber kaum jemand tut es, im Gegenteil.
An der Spitze der Kosten, die eigentlich vermieden werden könnten, die
wir aber weitgehend gemeinschaftlich zu tragen haben, finden sich in der
Gesundheitsstatistik die Herz-Kreislauf-Erkrankungen
<
https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2017/09/PD17_347_236.html>
"Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen die höchsten Kosten"
Klar, man kann auch ein Auto schieben oder ziehen, es gibt sogar
sportliche Wettkämpfe, die das zum Ziel haben. Aber kein normaler
Mensch gibt ein paar tausend Euro für ein Fahrrad aus, bei dem der
Grossteil der Kosten und Technik in Motor, Steuerung und Akku stecken,
nur um den Motor dann als totes Gewicht mit sich herumzuschleppen, das
beschleunigt oder mühsam einen Berg hochgekurbelt werden muss.
Tatsächlich zeigt der Motivationsvektor beim Pedelec und beim Fahrrad in
die entgegengesetzte Richtung. Nicht nur beim Sport, sondern auch im
Alltag motiviert der Muskelantrieb bei seinem Gebrauch dazu, ihn
effektiv einzusetzen. Aber gerade aus der Notwendigkeit, immer mal
wieder Distanzen oder Zeiten zu fahren, die kaum bewältigbar erscheinen,
ergibt sich quasi automatisch im Laufe der Zeit ein Zuwachs an Kraft,
Ausdauer und Geläufigkeit, auch dann, wenn jemand nicht im Traum daran
denkt, "sportlich" Rad zu fahren. Ob einer Radfahren zu sportlichen
Zwecken oder aus anderen Gründen systematisch und bewußt betreibt, oder
ob es es sich im Alltag quasi unmerklich ergibt, ist also zweitrangig,
so lange man früh genug damit anfängt und lange genug dabei bleibt.
Und da ist das Pedelec halt das perfekte Werkzeug, jemanden davon
abzubringen. Es bietet aus Sicht des Publikums alle formalen Vorteile
des Fahrrades, Radwege, Narrenfreiheit, Waldwege, tolles Image,
"Bewegung" an frischer Luft, hat aber keine der als Nachteil empfundenen
Eigenschaften: es strengt nicht an, man gerät nicht aus der Puste, man
bekommt sichbar was für sein Geld. Ein richtig gutes Fahrrad kostet mehr
als ein billiges Pedelec, mit dem auch eine Sofakartoffel mit ein
bißchen Geläufigkeit auf Dauer schneller ist als ein durchschnittlicher
Radfahrer. Nicht viel, mit einem 45km/h-Elektroroller wäre man
erheblich besser bedient, aber für die vielen, die für die damit
machbaren Distanzen längst wieder im Auto sitzen und denen es auf Image
und auf Narrenfreiheit ankommt, ist das Pedelec die perfekte Droge,
oder, wenn der Begriff eher genehm ist, das perfekte Genussmittel.
Fazit: doch, ja, das stört mich, sowohl aus Eigeninteresse, als auch aus
Mitgefühl mit meinen Mitmenschen.
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Sei Vorbild: Immer ohne Helm!