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Plakative Inszenierung von schweren und tödlichen Unfällen mit Fahrrädern

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Wolfgang Strobl

unread,
Feb 11, 2024, 9:08:07 AMFeb 11
to
An anderer Stelle verlinkte jemand unkommmentiert, eine OSM-basierte
Karte

<https://umap.openstreetmap.fr/de/map/berlin-fahrradunfalle-mit-schwerverletzten-2021-20_1021215#11/52.5075/13.3953>

Auf die Nachfrage "was bedeutet das??" wurde folgende Erklärung
nachgeliefert

| Ein Mensch bei bluesky, der sich Alfonso Rigatoni nennt,
| hat das hier gemacht und sich gewünscht, dass sie genutzt
| und geteilt werden kann.
|
| “Ich hab mit Daten des Statistischen Landesamtes
| Berlin-Brandenburg eine @openstreetmap Karte zu
| Verkehrsunfällen in Berlin erstellt. 2021 & 2022, Unfälle
| mit Schwerverletzten, Radfahrer und PKW als Beteiligte.
| Außerdem tödliche Unfälle von 2018 - 2022.”

Nach einigem Hin und her, in dem es lediglich um "wo ist die Legende"
und "was genau bedeuten die Farben" ging, hatte ich dann folgenden
Kommentar dazu geschrieben.

<snip>

Welche Funktion hat eine solche Darstellung eigentlich, außer Radfahren
gefährlich zu reden?

Was leistet dies mehr, als einem in Statistik nicht bewanderten Publikum
fälschlich zu suggerieren, Radfahren sei ungewöhnlich gefährlich, in
Relation zu anderen alltäglichen Aktivitäten? Selbst wenn man zugunsten
dieser Darstellung anführt, man sähe so ja immerhin, wo sich Unfälle
häuften, so zeigt eine einfache Überlegung, dass sie dafür auch nicht
geeignet ist, um irgend etwas über das vergleichbare Risikko zu
erfahren. Denn dafür müsste man man die absoluten Zahlen zumindest auf
auf eine Bezugsgröße beziehen, z.B. auf die Bevölkerungsdichte in dem
betreffenden Areal, oder auf die Verkehrsdichte. Wo mehr Menschen pro
Fläche wohnen, wo mehr Menschen sich aufhalten oder unterwegs sind, hat
man auch mehr Unfälle.

Wo also ist die entsprechende Darstellung, wie viel Tote und wie viele
Schwerverletzte durch Stürze beim Spazierengehen, Joggen, Treppensteigen
und durch Unfälle im Haushalt zu beklagen sind und wo? Einen
summarischen Anhaltspunkt könnte die amtliche Unfallstatistik liefern:
2022 kamen in Deutschland 15.551 Menschen alleine im Haushalt ums Leben,
etwa doppelt so viele durch Unfälle insgesamt, die nicht Verkehrsunfälle
waren.

Berlin hat weniger als 4 Mio Einwohner, Deutschland etwas über 80 Mio.
Man wird in Berlin also überschlägig 750 tödliche Haushaltsunfälle
erwarten können, ein Großteil davon Stürze, von Leitern, Treppen,
Tretschemeln, ja sogar aus Betten.

2022 sind in ganz Deutschland weniger als 500 Menschen als Folge eines
Fahrradunfalls ums Leben gekommen, so wie die zehn Jahre zuvor auch.
Noch bis Mitte der Siebziger waren es deutlich mehr als drei mal so
viel, ohne dass man deswegen Panik geschürt hätte, wie es heute leider
üblich ist.

Nicht übersehen sollte man auch folgende Tatsache: Von den in 2022
tödlich verunfallten 474 Radfahrenden waren fast die Hälfte, nämlich 208
Nutzer eines motorisierten Fahrrades, eines Pedelec, mehr als ihr Anteil
im Verkehr. Der Umstieg vom Fahrrad auf Pedelec und andere motorisierte
Kleinfahrzeuge dürfte nicht wenige Menschen ihr Leben gekostet haben.

Relevanter, weil größer als das direkte Unfallrisiko ist aber Folgendes.
Es ist unstrittig, das kaum etwas so gegen Herzkreislauferkrankungen
schützt wie intensive Bewegung, etwa Radfahren aus eigener Kraft. Egal
wie man zu der überschlägigen Einschätzung von Hillman steht, dass der
Nutzen des Radfahrens dessen RIsiken um den Faktor zwanzig übersteigt
(ich halte sie für zu konservativ), eines ist unstrittig:
Herzkreislauferkrankungen incl. indirekter Erkrankungen durch
Fettleibigkeit und Diabetes töten im Jahr so viel mehr Menschen*), dass
jede Bestrebung, Radfahrenden wegen vorgeblich hoher Risiken das
Radfahren zu vergraulen, regelrecht absurd ist.

TL;DR Radfahren gefährlich reden tötet.

<snip>

Als Reaktion darauf kam dann lediglich die schnippische Replik

"Ich weiß, alle die nicht wie Wolfgang ticken sind quasi Mörder"

sowie die Anmerkung, das könnten nur Stadtbewohner nachvollziehen, "Dass
es auch andere Sachen gibt, die gefährlich sind: geschenkt. Schlechte
Infrastruktur ist gefährlich und kann geändert werden." und schließlich

"Ich gucke mir die Karte an und die Wege, die ich häufiger fahre und
kann dann evtl gefährliche Stellen besser einschätzen."

Das hinterfragte ich mit

"Wie soll das denn funktionieren? Man sieht, da ist jemand bei einem
Verkehrsunfall gestorben oder schwer verletzt worden, mehr nicht. In
https://radunfaelle.wordpress.com/ macht sich der Autor immerhin seit
Jahren die Mühe, hinter solchen Unfällen hinterherzurechieren, die
Ursachen soweit möglich zu ergründen und darüber regemäßig zu berichten,
incl. entsprechender Statistiken. Ob das hilft, die Gefährlichkeit von
konkreten Orten besser einzuschätzen? Selbst da habe ich Zweifel. Es
erlaubt manchmal statistische Aussagen - und die sind manchmal
überraschend, und das ist es wert. Für die Orte, die ich kenne, weil ich
da häufiger langfahre, sagen sie mir nichts, das ich nicht schon wüsste.
Und glaube auch nicht, dass es jemandem, der in Berlin häufig mit dem
Rad unterwegs ist, sehr viel anders geht."

Den Hinweis, dass auch wir Stadtbewohner sind, dass wir unsere Kinder in
der Stadt großgezogen haben, dass ich über Jahrzehnte quer zum
Verkehrstrom durch die Stadt zur Arbeit gefahren bin, habe ich mir
geschenkt. Im weiteren Verlauf gab's dann nur noch weitere
Verbalinjurien, aber keinerlei Eingehen auf meine beiden Einwände.

* Frage: wie beurteilt ihr diese Karte?

Sie ist IMO die typische Nerdbastelei von jemand, der entlang von "mit
den Daten muss man doch irgendwas machen!!" keine Moment darauf
verschwendet, über den Zweck einer solchen Darstellung nachzudenken.
Angesichts der Qualität ähnlicher Darstellugen, wie man sie in den
Klatschblättern als Darstellung so ziemlich jedes Haufens an rohen oder
fehlinterpretierbaren Daten findet (schnell gemacht, füllt die Seiten)
habe ich keinen Zweifel, dass dergl. Anklang findet. Nicht zuletzt,
weil es das beliebte Narrativ "Radfahren ist lebensgefährlich!!"
befördert.

Dass man mit "an dem Punkt hat ist jemand mit einem Fahrrad oder Pedelec
verunfallt" aus persönlicher Sicht viel anfangen kann, bezweifle ich
weiterhin. Was also macht man mit so einer Karte, als seine Zeit damit
zu verschwenden?

Es kann aber sein, dass ich einfach einen tatsächlich förderlichen
verkehrspolitischen oder praktischen Nutzen der Karte übersehen habe.



Abchließend, ein Kommentar einer anderen, auch pseudonymen Figur war

"mein opa hat auch den Krieg überlebt. Würd ich trotzdem keinem raten
auszuprobieren"

Was geht in solchen Köpfen vor? Ist die Szene in Berlin wirklich so
gepolt, oder treiben sich in diesem Teil des "Fediverse" nur Menschen
herum, die das Radfahren im Berlin als Teilnahme am Krieg empfinden? Ich
weiß nicht, was ich übler finde: die Verniedlichung von Krieg, oder
dieses Zerrbild einer vmtl. auch in Berlin durchaus zivil
praktizierbaren erfreulichen alltäglichen Art, sich fortzubewegen.


*)
<https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?sequenz=tabelleErgebnis&selectionname=23211-0002>

--
Wir danken für die Beachtung aller Sicherheitsbestimmungen

Susanne Jäger

unread,
Feb 12, 2024, 7:08:37 PMFeb 12
to
On 11.02.24 15:07, Wolfgang Strobl wrote:
> An anderer Stelle verlinkte jemand unkommmentiert, eine OSM-basierte
> Karte
>
> <https://umap.openstreetmap.fr/de/map/berlin-fahrradunfalle-mit-schwerverletzten-2021-20_1021215#11/52.5075/13.3953>
>
> Auf die Nachfrage "was bedeutet das??" wurde folgende Erklärung
> nachgeliefert

[...]

> * Frage: wie beurteilt ihr diese Karte?
>
> Sie ist IMO die typische Nerdbastelei von jemand, der entlang von "mit
> den Daten muss man doch irgendwas machen!!" keine Moment darauf
> verschwendet, über den Zweck einer solchen Darstellung nachzudenken.
> Angesichts der Qualität ähnlicher Darstellugen, wie man sie in den
> Klatschblättern als Darstellung so ziemlich jedes Haufens an rohen oder
> fehlinterpretierbaren Daten findet (schnell gemacht, füllt die Seiten)
> habe ich keinen Zweifel, dass dergl. Anklang findet. Nicht zuletzt,
> weil es das beliebte Narrativ "Radfahren ist lebensgefährlich!!"
> befördert.

Ich stimme dir zu, dass diese Karte viel von halbverstandener Bastelei hat.
Die Karte ist in Teilen unlogisch, warum wird bei Unfällen mit Getöteten
ein anderer Zeitraum und eine andere Auswahl als bei den Unfällen mit
Schwerverletzten Radfahrer:innen vorgenommen? Immerhin beschränkt man
sich auf Schwerverletzte und nimmt nicht gleich noch alle Schürfwunden
mit dazu. Das ist dann gleich noch viel bedrohlicher ;-)
http://umap.openstreetmap.fr/de/map/unfallatlas-2022-unfalle-mit-radbeteiligung_976726#13/52.5195/13.4100
oder noch schlimmer eine Unfallkostendichte, die am Straßennamen hängt
:-(
http://umap.openstreetmap.fr/de/map/unfallkostendichtekarte-radkfz-2018-2019_582019#15/52.5262/13.4212
Straßen, die im Verlauf häufig ihren Namen wechseln sind sicherer, als
solche, die über lange Strecken gleich heißen das wurde 2021 von einem
der Aktivisten des Radentscheids gehyped
https://www.tagesspiegel.de/berlin/wo-radfahren-in-berlin-am-gefahrlichsten-ist-5395402.html

> Dass man mit "an dem Punkt hat ist jemand mit einem Fahrrad oder Pedelec
> verunfallt" aus persönlicher Sicht viel anfangen kann, bezweifle ich
> weiterhin. Was also macht man mit so einer Karte, als seine Zeit damit
> zu verschwenden?

Was allen diesen Karten fehlt sind Angaben zur Radverkehrsdichte. Eine
vielbefahrene Kreuzung an der einer von 10.000 Radfahrenden verletzt
wird, kann um ein vielfaches sicherer sein als eine eher abgelegene oder
abschreckende, wo einer 1000 verunglückt. Leider sind Daten über die
Radverkehrsdichte viel zu selten zu bekommen und nur für wenige
ausgewählte Zählstellen verfügbar, hier hätte ich gerne mehr.

> Es kann aber sein, dass ich einfach einen tatsächlich förderlichen
> verkehrspolitischen oder praktischen Nutzen der Karte übersehen habe.

Als Ansatz für die *Prüfung* und damit als Baustein der
Verkehrssicherheitsarbeit finde ich die Darstellung von
Unfallhäufungsstellen schon interessant und wichtig. Man muss sie halt zu
lesen und einzuordnen wissen. Manchmal weisen solche Häufungen auch
darauf hin, dass eine bestimmte Strecke von vielen genutzt wird und es
ist mir lieber aus realen Unfallzahlen bauliche Veränderungen, das kann
auch eine Querungshilfe oder der Rückschnitt von Grünzeug im
Kreuzungsbereich sein abzuleiten als rein aus gefühlter Unsicherheit.
Noch schöner wäre es natürlich die Unfallstellen mit der jeweiligen
Führungsform des Radverkehrs abzugleichen, aber auch dazu fehlen
verläßliche aktuelle Daten. Die Angaben aus dem Unfallatlas scheinen
schon genau genug zu sein um sie einigermaßen zuordnen zu können.

VisionZero als Konzept aus dem Arbeitsschutz, das genau hinschaut, wenn
schwerste Unfälle geschehen und in der Analyse versucht Muster zu
erkennen und vermeidbare Wiederholungen zu reduzieren finde ich schon
einen wichtigen und richtigen Ansatz.

> Was geht in solchen Köpfen vor? Ist die Szene in Berlin wirklich so
> gepolt, oder treiben sich in diesem Teil des "Fediverse" nur Menschen
> herum, die das Radfahren im Berlin als Teilnahme am Krieg empfinden? Ich
> weiß nicht, was ich übler finde: die Verniedlichung von Krieg, oder
> dieses Zerrbild einer vmtl. auch in Berlin durchaus zivil
> praktizierbaren erfreulichen alltäglichen Art, sich fortzubewegen.

Es gibt (in Berlin) tatsächlich sehr viele Radfahrende, die das so
empfinden, da fließen eine gesteigerte Aggressivität im Verkehr,
allgemeine Enge und Überfüllung ebenso mit ein, wie eine oft
undifferenziert Berichterstattung über Unfälle dazu trägt auch der
Aktionismus einiger Gruppen bei. Und leider haben wir im langjährigen
Mittel tatsächlich einen statistischen Anstieg bei den Schwerverletzten
Radfahrenden, die über dem Anstieg des Radverkehrs zu liegen scheint. Um
dagegen anzukommen könnte eine genauere Analyse von Unfallhäufungsstellen
schon helfen.

my 2 ct
Susanne

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