Am Wed, 4 Aug 2021 13:03:12 -0700 (PDT) schrieb Thomas Sçhlueter
<
gross...@email.com>:
>HC Ahlmann schrieb am Mittwoch, 4. August 2021 um 21:16:35 UTC+2:
>>
>> Gerade redet Ihr beiden aneinander vorbei, soweit ich das sehe. Wolfgang
>> ist noch bei fehlenden Definition der Punkte, deren Abstand zu messen
>> sei, und nicht bei der angemessenen Messmethode. Die von der
>> hannoverschen Polizei praktizierte Messmethode der Reifenabstände passt
>> jedenfalls nicht zu Wolfgangs bevorzugten Definition durch die
>> Silhouette. Die auf der Messmethode gründenden Ausreden kommen noch
>> später.
>
>Gerade dieses Messproblem ist doch überhaupt erst der Grund für die unter
>fahrphysikalischen Gesichtspunkten vollkommen überzogene
>Abstandsforderung.
Exakt. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, sich darüber zu streiten, ob
der Seitenabstand beim Überholen eines Fahrrades eine unscharfe Größe
ist oder nicht, so lange es kein offfizielles Verfahren gibt, nach dem
dieser Seitenabstand in der Praxis bestimmt werden soll.
Dafür wiederum wäre eine hinreichend vollständige _Definition_
erforderlich und zwingende Voraussetzung, die irgendwo zwischen "Dort,
wo sich die Reifenaufstandspunkte des überholten Radfahrers aus Sicht
von Gesetzgeber, Rechtsprechung, Exekutive oder Autofahrer befinden
_sollten_" bis hin zu "Minimalabstand zwischen der Projektion beider
Hüllvolumina beider Fahrzeuge über den gesamten tatsächlichen
Überholvorgang hinweg auf den Untergrund" liegt.
Ohne Definition und ohne Messmethode ergab sich auf offensichtliche
Weise ein Wettbewerb "wer schlägt den größeren Abstand vor", bzw. ein
politisches Gezerre darüber, was der größtmögliche durchsetzbare Abstand
ist. Praktische Erwägungen, vor allem auch solche aus Sicht eines
Radfahrers, der nicht lediglich nach Ausreden sucht, _nicht_ radzufahren
("hält sich doch eh keiner an die 1,50-2,00 m ..."), spielen keine Rolle
mehr. Wie es schon sehr gut bei der Gefährdungshaftung funktioniert hat,
die von "wer trägt die Kosten, wenn ein Schuldiger nicht auszumachen
ist" von der Autolobby erfolgreich in "Der Autofahrer ist immer schuld"
umgedicht wurde, wird auch dies zur Legendenbildung beitragen.
Fast keine Rolle mehr spielt im öffentlichen Diskurs (auch hier in drf
nicht!), dass 1,50-2,00 m keineswegs ein unter allen Umständen
ausreichender Seitenabstand ist. Ich für meinen Teil möchte _nicht_,
wenn ich bei Seitenwind von einem Truck mit hohem Tempo überholt werde,
mit 2 Meter Seitenabstand überholt werden, wenn unschwer mehr
Seitenabstand und/oder weniger Tempo möglich gewesen wäre.
>Zunächst nur durch die Gerichte (die quasi nur
>Fälle mit *Minus*abstand ausgeurteilt hat, und dabei lästige Diskussionen
>mit den Verteidigern der angeklagten Überholern abwürgen wollte, ob der
>Radfahrer nun einen Schlenker gemacht hat oder und wenn ja, ob dessen
>Ausmaß nun vorhersehbar war oder nicht. "Hätte Ihr Mandant einfach
>anderthalb Meter Platz gelassen, hätte das Opfer so viel schlenkern können
>wie es wollte. Howgh und Basta!". Der Gesetzgeber hat sich der (IMO
>nicht physikalisch notwendigen Gründen, sondern nur aus verhandlungstaktischen
>Erwägungen erklärbaren Forderung der Gerichte leider angeschlossen.
Das ist der Grund, warum ich diese Diskussion eine Geisterdiskussion
genannt habe. Wenn i.W. nur Fälle verhandelt und geklärt werden, bei
denen ein Zusammenprall stattfand und die durchaus schwierig zu klärende
Frage, in welchem Umfang zu geringe Seitenabstände beim Überholen zur
Unfallwahrscheinlichkeit beitragen (und vor allem: in welchen
Situationen?), völlig ausgeklammert wird, sowohl von den Gerichten als
auch in Diskussionen wie hier, dann haben wir hier nur eine weitere,
besonders bizarre Variante des Separationsprinzips: Distanz ist gut,
mehr Distanz ist besser. Wie gut das funktioniert, haben wir an den
Radwegen ja gesehen.
>
>Wäre die Ermittlung des Seitenabstandes trivial, wäre ja nicht nur die
>ordnungsbehördliche Überwachung der Abstände simpel. Dann bräuchte man
>vielmehr erst gar keine Überwachung mehr zu machen, weil die Leute beim
>Überholen auch praktisch keine Fehler mehr machen könnten.
Es geht nicht nur und in erster Linie um die Ermittlung des
Seitenabstandes, sondern sollte darum gehen, unter welchen Bedingungen
welche Seitenabstände wünschenswert bzw. erforderlich sind. Meine
Erfahrung ist, dass die meisten Autofahrer Seitenabstände beim Überholen
bzw. Vorbeifahren sehr viel besser einschätzen können (bislang
jedenfalls), als diese Diskussion suggeriert. Das ist nicht unbedingt
erfreulich - aber ich werde weniger ungern mit bei gegebenem Tempo grade
so ausreichenden 50 cm überholt, als mit 2 m Abstand ohne Rücksicht auf
Verluste bei hohem Tempo in den Strassengraben gepustet zu werden - oder
mit exakt 1,50 m Abstand beim noch nicht abgeschlossene Überholvorgang,
aus denen dann im weiteren Verlauf 0 m Abstand werden, wenn ich nicht
abbremse oder in die Gosse/den Straßengraben ausweiche.
>
>Übrigens ist es mathematischer Unsinn, auf Messerte von Ausreißern
>nachträglich die Standardabweichung der Grundgesamtheit anzuwenden
>(was alle machen, denen bei geringen Abständen der Kamm schwillt!).
>Ein Überholabstand von 30cm ist ein Überholabstand von 30cm, und
>nicht ein Überholabstand von 30cm +/- 50cm Standardabeichung. ;-)
Das gilt es in der Tat erst mal zu begreifen bzw. zu kommunizieren. Die
Frage, mit welcher Unschärfe der Fahrlinie eines zu überholenden
Radfahrers ein Überholer rechnen muss, welche keineswegs nur durch die
unvermeidlichen Pendelbewegungen verursacht wird, bedarf aber durchaus
einer Diskussion. Die Standardabweichung der Grundgesamtheit gibt
hier sicherlich kaum vernünftige Anhaltspunkte. Jedoch würde "wenn es
gutgegangen ist, lag offensichtlich kein Problem vor" wäre aber auch zu
kurz gesprungen.
Leider hat haben die völlig in der Luft hängenden 1,50-2,00 m nun Fakten
geschaffen, die den Gegnern von Radverkehr zu viel Nutzen bringen, als
dass man hoffen könnte, hier noch viel bewegen zu können. Insofern kann
man nur noch versuchen, den Schaden zu begrenzen.
Einen diesbezüglichen Vorschlag zu machen, der eigentlich auf der Hand
liegt, habe ich mir bislang verkniffen, weil man bei Vorschlägen für
verkehrsrechtliche Anordnungen, die radverkehrsfreundlich sind bzw. sein
könnten, immer bedenken sollte, dass diese in zwei Richtungen schneiden
können. Wenn man feststellt, dass Radverkehr (nichtmotorisierter) sehr
von Asphalt mit geringem Rollwiderstand profitieren könnte, so ergibt
sich daraus natürlich auch ein Verfahren, Radfahrer zu vergraulen.
In den vergangenen Jahren habe ich aber bemerkt, dass beim
Neuasphaltieren von Strassen zunehmend grober, lauter und anstrengender
zu befahrender Asphalt verwendet wird, ich vermute, vornehmlich aus
Kostengründen - gute Fertiger sind teuer, und vielleicht ist das grobe
Zeug auch haltbarer und braucht weniger Winterdienst.
Eine andere, auffällige Änderung an Landstrassen ist die zunehmende
Verwendung von Mittellinien und - insbesondere im Verlaufe von Kurven
und/oder im Gefälle - von ununterbrochenen Mittellinien. Vornehmlich
zwar außerorts, aber durchaus auch innerorts und an Stellen, bei denen
man vor zehn oder zwanzig Jahren noch die Ansicht vertraten sah, dass
Wegfall der Mittellinie eine Verkehrsberuhigung zur Folge habe, ohne
dass dies automatisch eine Verkehrsbehinderung (wie etwa durch Kissen,
Schwellen oder Verengungen) ergäbe.
Faktisch führt das dazu, dass man draussen auf dem Lande zunehmend auf
schmale Strassen trifft, deren Fahrstreifen nicht mal ansatzweise das
Überholen eines Radfahrers mit einem Seitenabstand von 1,50 m zulassen -
und das selbst dann nicht, wenn die Radfahrerin wider besseres Wissen
bis an den Asphaltrand oder die Leitplanke ausweicht.
Der Zweck dieser durchgezogenen Mittellinie ist offensichtlich,
Überholvorgänge von Kfz untereinander zu regulieren bzw. zu unterbinden.
Unabhängig davon, ob explizite Überholverbote nicht besser wären, wird
man auch diese Markierungen als gegeben hinnehmen müssen, incl. des
damit praktisch verbundenen Überholverbotes auch von Radfahrern.
In der Praxis wird dieses Überholverbot glücklicherweise noch weitgehend
ignoriert, wenn Radfahrer zu überholen sind, durch überfahren der
Mittelline.
Wenn ich mir eine Regelung wünschen könnte, dann wäre es, diesen Verstoß
durch eine Änderung des Verkehrsrechts zu legalisieren, etwa "die
Mittelline darf beim Überholen von Fahrrädern und Mofas mit der
gebotenen Vorsicht überfahren werden". Einwände von Verkehrsrechtlern
kann ich mir durchaus vorstellen (Stichwort "Dammbruch" etc.), ich frage
mich allerdings, ob es von denen, die uns die 1,50 m beschert haben,
nicht noch viel strikter abgelehnt würde, im Stil von "alles, was dem
Autoverkehr wehtut, ist gut für uns". Aber vielleicht irre ich mich
diesmal ja.