Am Wed, 29 Jun 2022 13:06:08 -0500 schrieb Thomas Bliesener
<
use...@xabs.de>:
>Wolfgang Strobl schrieb:
>> beachtete. Die Platzwunde am Kopf war schnell verarztet (nicht ohne
>> die überflüssige Röntgenaufnahme
>
>Ob sie überflüssig war, weiß man doch erst hinterher?
Nein, das weiss man manchmal auch schon vorher. Es gibt reichlich
Möglichkeiten, sich ohne eine Platzwunde ein Schädelhirntrauma
zuzuziehen (der Fahrradhelm ist nur eine davon), aber auch reichlich
Möglichkeiten, sich eine harmlose Platzwunde am Kopf zuzuziehen, die
sonst keine Folgen hat.
Tatsächlich hat der behandelnde Arzt, während er die Wunde nähte, nicht
etwa für mich, sondern zur assistierenden Schwester (oder angehenden
Ärztin, ich weiss es nicht) auf ihre Frage hin ausführlich über die
Risiken einer solchen Platzwunde am behaarten Kopf dozierte, nicht etwa
bzgl. eines SHT, sondern weil das z.T. offene Hämatom umfänglich
ausgeräumt werden müsse, um nicht eine bestimmte Sorte anaerober
Bakterien einzuschließen, die in stehenden Gewässern vorkämen. Er
erzählte von einem Fall, bei dem ein Taucher nach einer leichten
Platzwunde am Kopf gestorben sei, an einer nicht mehr behandelbaren
entsprechenden Infektion. Vielleicht kommen die auch auf Waldböden oder
in der Nähe von Talsperren vor und das hat dann diese Vorsicht
getriggert. Dass ich auf einer sauberen Asphalttrasse unterwegs war,
kam nicht zur Sprache.
Wenn man einen Patienten eine Stunde lang im Wartezimmer herumsitzen
lassen kann, ohne sich um ihn zu kümmern, dann müsste man auch die Zeit
aufbringen können, beim Patienten evtl. Ausfallerscheinungen zu
diagnostizieren oder eben ihr Fehlen festzustellen. So diente es i.W.
nur der Absicherung des Krankenhauses, auf Kosten des Patienten. Und
vielleicht bin ich damals auch ein Strich in irgendeiner Statistik
geworden, ein weiterer Fall von Kopfverletzung "wegen" fehlenden Helms.
Wenn ja sogar geröntgt werden musste, dann _ist_ es ein SHT.
>Und wenn der Arzt
>darauf verzichtet und Du am nächsten Morgen tot aufwachst, weil die
>inneren Kopfverletzungen äußerlich nicht sichtbar waren, dann hat der
>Arzt richtig Ärger am Hacken.
Bingo. In letzter Konsequenz ersetzt dieses Verfahren jede sinnvolle
Diagnostik. Statt das Verfahren im Sinne des Patienten zu optimieren,
geht es nur noch um Exkulpation, wenn etwas schiefgeht.
Und wenn man Pech hat, ergibt sich aus einer mit dieser Motivation
vorgenommenen überflüssigen Diagnostik ein Schaden, von dem der Patient
dauerhaft etwas hat. Diese eine Röntgenaufnahme wird mir als solche
nicht weiter geschadet haben, aber sie hat weitere Zeit gekostet und
nicht zu knapp, in der man die Wunde vielleicht hätte noch etwas besser
desinfizieren oder schon ausräumen können.
>
>>>Bei 80 km/h ist der "Bremsweg" aber mehr als doppelt so lang. Das ist
>>>dann etwa so, als ob man mit der Schürfwunde von 50 km/h nochmal eine
>>>zweite solche Bremsung macht.
>>
>> Mehr und die Qualität ist anders, zumindest auf Asphalt, weil die
>> aufgesammelte Reibungswärme auch nicht förderlich ist.
>
>Es kommt noch dazu, daß man mit dem Rad so hohe Geschwindigkeiten nicht
>in der Ebene, sondern üblicherweise auf einer Gefällestrecke fährt, was
>den ohnehin unangenehm langen Bremsweg nochmals deutlich verlängert.
Darüber kann man sich getrost Gedanken machen, wenn dort das Auto- oder
Motorradfahren mit weit höherem Tempo verboten _und_ das Verbot auch
durchgesetzt wird. Vorher ist es nur radverkehrsfeindliches Verbreiten
von Angst und Schrecken.
Wie auch immer, wer seine eigene Haut zu Markte trägt, ist vorsichtiger
bei der Einschätzung seiner Bremswege, als jemand, der eine Tonne Metall
und mit höherem Tempo bewegt und - nicht selten überoptimistisch - auf
Gurt und Airbag vertraut.
>
>> Benefit: Lektion gelernt, das ist mir später nie wieder passiert.
>
>Das ist weiterer ein Grund, warum Kinder radfahren sollten.
Wenn ich mich umschaue, so haben die Leute zu viele Wege gefunden,
dieses Radfahren so zu gestalten, dass die Kinder dabei nichts oder oft
das Falsche lernen.
>Dummheiten auf
>einem Kinderrad haben in der Regel geringere Folgen als später als
>Erwachsener mit größerer Fallhöhe und höherer Geschwindigkeit.
Mehr noch, Dummheiten auf einem Kinderrad haben, wenn man die Kinder sie
machen lässt, die Folge, dass sie Erwachsene gelernt haben, wie man sie
vermeidet bzw. so gestaltet, dass sie keine schweren Folgen haben, trotz
größerer Fallhöhe und höheren Geschwindigkeiten.
"Machen lassen" heisst übrigens weder "Fahrrad aus dem Baumarkt und dann
nicht weiter drum kümmern", noch Kinder-Ebike und dann rein ins Geröll.
>Auf den
>von Dir oben beschriebenen Unfall trifft das vielleicht nicht zu, aber
>es gibt ja viele, viele Möglichkeiten zu stürzen.
Jep. Beim Judo wird das Fallen sogar regelrecht kultiviert. Beim
Radfahren lern(t)en die Kinder das weitgehend intuitiv, wie beim Laufen
lernen, bis zu dem Punkt, dass sich später kaum noch jemand daran
erinnert, wie das ablief. Und diejenigen, die es nie gelernt haben,
weil man sie in Watte gepackt hat, nehmen ihre Defizite gar nicht wahr.
Vielleicht ist das der Grund für so viele erbitterte Diskussionen über
die Frage, wo und wie Radfahren stattfinden kann und stattfinden soll:
es fehlt eine gemeinsame Erfahrungsgrundlage.
>
>Als Kind bin ich mit dem Rad etliche Male gestürzt. Ich habe mir nie etwas
>gebrochen, aber es war schmerzhaft genug, es auf dieselbe Art kein
>zweites Mal zu machen.
Dito. Tatsächlich habe ich aber auch hier gelegentlich gewitzelt, man
müsse ein mal im Jahr stürzen, um es nicht zu verlernen. Natürlich ist
das nicht so zu verstehen, dass man _absichtlich_ stürzt, das wäre
lächerlich - aber Fakt ist, ich habe aus Stürzen nicht nur gelernt, dass
und welche man besser vermeidet, sondern auch, wie man sie besser
bewältigt. So wie beim Judo. Es funktioniert nicht immer gut genug,
aber es hilft bei einem unvermeidlichen Sturz, den besser zu bewältigen.
I.A. ergibt sich das automatisch: wer viel fährt, stürzt auch häufiger
und lernt mit der Zeit, damit besser umzugehen. Wer wenig genug fährt
oder nur in Schonräumen, wird mit der Zeit der Illusion erliegen, dass
man Stürze vermeiden kann und dass ein Sturz nur durch sehr großes Glück
nicht mit einem Todesfall endet.
Ab hier gibt es dann eine gewisse Aufteilung: manche hängen am Radfahren
und glauben deswegen, dass die Gesellschaft eine Verpflichtung habe,
alle ihre Wege als Schonräume auszugstalten, wo Stürze nicht vorkommen
können und wenn doch, glimpflich ausgehen (eine lineare Form der
Gummmizelle, wenn man so will). Andere sind ängstlich, halten Radfahren
für lebensgefährlich (man _kann_ dabei ums Leben kommen!) und geben es
deswegen weitgehend auf. Wieder andere sind realistischer und bemerken,
das solche Schonräume, wo man sie gebaut hat, Radfahren unbequemer und
Stürze wahrscheinlicher machen, genauer gesagt, sie bemerken, dass
Radfahren trotz dieses Aufwandes schon auf kurzen Strecken nicht ohne
Stürze abgehen, fordern noch mehr Aufwand (sagen wir: separate
Schnellwege, PBL) und geben das Radfahren ebenfalls auf, solange es
daran fehlt. Manche ignorieren auch einfach den ganzen Streit und fahren
einfach Rad, so wie sie es immer gemacht haben. Nur wenige erkennen,
dass diese Schonräume und der ganze entsprechende Aufwand
kontraproduktiv ist, dass viele Risiken nicht _trotz_, sondern wegen
dieser aufwendigen Sonderlocken entstehen und dass man auf ganz normalen
Fahrbahnen sehr schnell sehr weit kommen kann, mit einem gemessen am
Nutzen vernachlässigbaren Risiko.
>Dagegen kenne ich einige Leute, die erst als
>Erwachsene mit dem Radfahren begonnen habe, dieselben Dummheiten wie ich
>als Kind gemacht haben, was dann aber erstere Konsequenzen hatte.
Von zwei geschätzten Kollegen, bei denen ich das leider aus erster Hand
verfolgen konnte, hatte ich gelegentlich mal erzählt. Um es zu
präzisieren, bei weiss ich nicht, wie sie als Kind radfahren gelernt
haben, aber ich weiss, dass sie während ihres ganzen Berufslebens nicht
radgefahren sind, sondern erst kurz vor der Rente (wieder) damit
angefangen haben.