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Die Nichtdenker
Tiefer gehende Reflexion ist Mangelware geworden — bei Politikern wie
bei Bürgern. Besser wäre es, mal die Medien aus- und das Gehirn
einzuschalten.
Foto: Rawpixel.com/Shutterstock.com
Die ungelösten Probleme häufen sich, vom Wohnungsmangel bis zur
Verkehrswende, vom Stellungskrieg bis zur Verteilung von Einkommen und
Vermögen. Aber es kommt nicht zu Lösungen, weil die Kompliziertheit
der Querverbindungen ein hohes Maß an kreativen Gedanken und
Gedankenaustausch erfordert. Seit Jahren und Jahrzehnten kommen wir
kaum weiter. Da ist ein akuter Mangel an geistiger Leistung auf allen
Ebenen, bei Politikerinnen und Politikern, in den Medien und Parteien,
aber auch bei den sogenannten normalen Menschen, denen es persönlich
zu viel ist, sich auch noch mit Problemen auseinanderzusetzen, die
alle angehen. Zum Teil liegt dies gewiss auch daran, dass Menschen
nicht mehr viel miteinander, dafür lieber mit ihrem Handy
kommunizieren.
von Rob Kenius
Es gibt einen pauschalen Grund für diesen Mangel an Reflexion, an
Entscheidungen und an Konsequenz bei der Durchsetzung. Die Menschen
haben, trotz ihrer hohen kognitiven Fähigkeiten, geistig abgebaut,
ohne es zu merken. Die Hauptursache dafür ist die explosionsartige
Entwicklung der Massenmedien seit etwa hundert Jahren. Ernsthaftes
Nachdenken und ein offener Diskurs werden durch die Oberflächlichkeit
in den Medien immer mehr zurückgedrängt. Pauschal gesagt:
Die Menschen haben das Denken verlernt.
Ein Beispiel ist die Einstellung zur Emanzipation und
Gleichberechtigung der Frauen. Um festzustellen, ob eine Frau mutig
für ihre Rechte eintritt, oder ob ein Mann Frauen gleichwertig
behandelt und auf männliche Privilegien verzichtet, müsste man sich im
Gespräch mit den Personen auseinandersetzen und gezielt darüber
nachdenken, was sie sagen und was sie tun. Stattdessen werden mit der
Gendersprache oberflächliche Kriterien hergestellt, die jeder Dummkopf
erfüllen und erkennen kann. Gedankliche Analyse wird durch
Erkennungszeichen ersetzt, die so belanglos sind wie die Markenzeichen
an Turnschuhen.
Der Trend zur Oberflächlichkeit begann mit dem Fernsehen. Auf einmal
konnten alle jeden Tag, wie im Kino oder Theater, in der eigenen
Wohnung Filme und Handlung einschalten. Dazu Nachrichten aus aller
Welt, jeden Abend, vor dem Unterhaltungsprogramm. Das ging immer so
weiter, bis ein großer Teil der Zuschauer drei, vier und mehr Stunden
am Tag ferngesehen hat. In dieser Phase wurde bereits viel zu wenig
geredet und nachgedacht, schon gar nicht über das unangenehme Thema
Politik.
Die Jugend wollte sich aber gegenseitig wahrnehmen und kennen lernen,
nicht nur in und nach der Schule, sondern auch in der Disko, sie
wollten tanzen und flirten. Einige griffen zu Gitarre oder Schlagzeug
und wurden kreativ. Es kam die große Zeit der Popmusik, erst in den
Diskotheken, dann am Radio, schließlich mit Transistorradio und
Walkman. Man konnte acht Stunden am Tag Musik hören und man glaubte,
sich mit anderen zu verstehen – und man verstand sich auch mit vielen.
Die Jugend wurde von einer Konsumgemeinschaft zu einer starken,
gleichgesinnten, oppositionellen Bewegung, und das geschah gleich
mehrmals. Erst die 68er, von denen die Rolling Stones immer noch aktiv
sind, dann Reggae, Punk und Hip-Hop.
Das Internet hat die Situation der Musikwelt entschieden verändert.
Musikfans können dort Musik abrufen und speichern, sie können sich ein
eigenes Programm zusammenstellen und per Kopfhörer den ganzen Tag von
den Beats treiben lassen. Der Nachteil war, dass das Internet der
Musikbranche das Geld wegnahm. Die große Zeit der oppositionellen
Musikkultur als internationale Bewegung ist vorbei. Das Geld verdienen
jetzt ein paar Nerds und anonyme Plattformen im Internet, die nach der
Zeit der Piraterie das digitale Musikgeschäft übernommen haben.
Im Internet entstanden als neues Massenphänomen die sogenannten
Sozialen Medien. Sie wurden so genannt, weil man glaubte, die
Kontaktmaschinen würden soziale Kontakte herstellen und fördern. Viele
hofften auf mehr Demokratie durch politische Diskussionen und breite
Meinungsbildung. Aber es kam anders.
Kommerzialisierung hat die sozialen Kontaktmaschinen in
Geldmaschinen umgewandelt, die das Bedürfnis nach Kontakten
statistisch und werbetechnisch zum Geldverdienen ausnutzen. Das
verläuft so, dass die Nutzer es kaum merken und nicht mehr zum
Nachdenken kommen.
So wie die Betreiber unter dem Druck stehen, Werbung zu machen und mit
Statistiken Geld zu verdienen, so werden die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer unter Druck gesetzt, die richtigen Tasten zu drücken,
Felder anzuklicken, auch selber die richtigen Worte zu benutzen, um
woke zu sein, und die richtigen Dinge zu kaufen, damit sie zu der
Menge gehören, zu der sie gerne gehören möchten. Und so gehören sie
schließlich zur absolut gedankenlosen absoluten Mehrheit.
Es kommt nur noch auf die richtigen Reflexe an. Das wird von den
Anbietern forciert, weil sie die schnellen und zahlreichen Klicks
direkt zu Geld machen. Die Algorithmen sind so programmiert, dass die
User sechzehn Stunden am Tag zur Verfügung stehen und möglichst viele
Klicks erzeugen.
In dieser Parallelwelt können Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit
sogenannten Followern durch Schnelligkeit und Gefälligkeit auch
persönliche Erfolge erzielen. Das Nachdenken wird auf Reflexe
reduziert, die schriftliche Kommunikation beschränkt sich auf das
Format von wenigen Zeichen.
Die persönliche Auswahl von Inhalten, zum Beispiel Musik, wird
überlagert durch ein Überangebot an Reizen und einen diffusen Nebel,
Regen oder Fluss von Informationen und Meinungen, wobei kaum eine
Pause entsteht. Der Unterschied zwischen Information und Meinung, der
durch genaueres Nachdenken möglich wäre, wird nicht mehr wahrgenommen.
Die Kommunikation ist reduziert, sie ist unreflektiert, rein
funktional durch Stimmungssymbole oder Daumen rauf und runter, nur
affirmativ oder ablehnend, kurze Standortansage, Terminbestätigung,
ein paar Grußfloskeln, klick, weiter.
Wichtig ist der Austausch von Bildern, Webadressen, Programmhinweisen.
Das Nachdenken über Inhalte und Zusammenhänge ist ausgeschaltet. Zum
Denken ist keine Zeit, und in der Oberflächlichkeit verschwinden alle
tiefer greifenden Themen. So ist es möglich, dass man den Klimawandel
immer noch leugnen kann, ein Virus wird zur globalen Gefahr
aufgebauscht, und ein Krieg wird wie ein sportliches Ereignis
behandelt. Das alles ist möglich, weil sich die Jugend im Durchschnitt
mehr als sechs Stunden täglich mit dem Handy beschäftigt.
Das, was hier kurz beschrieben ist, man könnte auch Bücher damit
füllen, ist ein globales Phänomen, und es bedeutet, dass ein großer
Teil der Menschen das Denken verlernt hat. Sie sind außerhalb von
Schule, Studium und Beruf nicht mehr in der Lage, über eine Frage,
Entscheidung oder Antwort konzentriert nachzudenken. Das lässt sich
überall da feststellen, wo Denken gefragt ist: Politik, Kultur,
Kreativität, Mathematik, wissenschaftliche Zusammenhänge und eigene
Ideen.
In den Internetforen, wo es eine Kommentarfunktion gibt, häufen sich
dumme Bemerkungen, die erkennen lassen, dass die anonymen Absender die
Sache nicht erfasst oder nicht gedanklich verarbeitet haben, sondern
einfach nur einen Kommentar abgeben, der ihr Ego bestätigt und dabei
die anderen abwertet. Auf den Plattformen schaukeln sich unbedachte
Äußerungen hoch, bis hin zu den bekannten Schimpf-Kaskaden.
Ich muss gestehen, dass ich mich in dieser Szene nicht wirklich
auskenne, weil ich sie meide. Doch das Ergebnis ist inzwischen auf
einer ganz anderen Ebene zu beobachten: Die Menschen haben das Denken
über ihre eigene Situation und über Politik verlernt, sie reagieren
und bleiben oberflächlich, egal um welche Themen es sich handelt. Sie
sind unkritisch gegenüber Propaganda und Meinungsmache. Sie können
nicht mehr in historischen Zusammenhängen denken, nicht einmal über
Dinge, die zu ihren Lebzeiten geschehen sind. Sie lassen sich von
Medien und Narrativen manipulieren und merken es nicht. Sie
unterscheiden nicht zwischen Moral und Annehmlichkeit, nicht zwischen
Kunst und Mode, nicht zwischen einem echten Anliegen und dem spontanen
Anklicken einer Präferenz.
Tiefer gehende Gedanken und Ansichten entstehen, wenn man sich in
einem Gespräch, in kleiner Runde, ernsthaft auseinandersetzt und
gegenteilige Meinungen austauscht. Das findet nicht mehr statt, weil
jeder ständig mit seinem Handy beschäftigt ist oder auf ein Signal
wartet, das aus einem anderen Raum, von einer nicht anwesenden Person
kommt.
Das macht Konzentration unmöglich. Ohne Konzentration kein Nachdenken.
Ohne Nachdenken keine profunde Meinung. Das Resultat ist eine
unqualifizierte Mehrheitsmeinung, die wie ein Strudel nach unten
zieht.
Alle wichtigen Themen und Entscheidungen verlangen den Einsatz von
Intelligenz und ernsthafter Diskussion möglichst vieler Menschen. Nur
so ist Demokratie praktizierbar. Es müsste so sein, dass erfahrene
oder besser informierte Personen eine Mehrheit überzeugen können. Das
geht nicht schnell, sollte aber möglich sein, denn sonst wird die
Kommunikationsfähigkeit der Menschen und die Sprache, die wir über
tausende Jahre entwickelt haben, nicht mehr zum Vorteil und zum
Fortschritt, sondern zum Gelaber genutzt. Nachdenken ist erforderlich,
und zwar in einer Dimension von Stunden und nicht von Sekunden. Genau
das haben die meisten verlernt.
Das Ergebnis ist überall dort zu beobachten, wo Politik gemacht werden
soll, wo es an vernünftigen Entscheidungen mangelt und an der
Beharrlichkeit, sie durchzusetzen. Es mangelt auch an einer kritischen
Wahl von Repräsentanten, die durch ernsthaftes Nachdenken und
Argumentieren andere überzeugt haben und so in einer Partei und im
Parlament nach oben kommen. Es funktioniert umgekehrt: Erst der
Aufstieg durch Konformismus und Protektion von oben, dann ergibt sich
die Möglichkeit, inhaltlich etwas beizutragen.
Die Bekanntheit in den Medien bestimmen Journalistinnen und
Journalisten. Sie sollten die freie Kommunikation intelligent
unterstützen und das Publikum zum Denken anregen, aber sie zitieren
lieber Kurztexte aus dem Internet, wie sie auf X, früher Twitter,
Facebook oder in WhatsApp-Gruppen verbreitet werden. Diese Kanäle
sollten für Politikerinnen und Journalisten irrelevant sein, sie sind
private Unterhaltung und so etwas wie eine digitale Gerüchteküche.
Die Realität ist, dass die großen Medien keinen Beitrag mehr zur
Aufklärung und Anregung leisten, sondern an erster Stelle nur den
Konsens zwischen Geldgebern, Mächtigen, also der Regierung, ihrem
Medium und dem Publikum herstellen. Das geschieht mit den Methoden der
Propaganda: Ständige Wiederholung von Behauptungen ohne Beleg, und
dazu Unterdrückung aller anderen Ansichten.
Widerstand leisten nur die freien Foren im Internet, die mit wenig
Geld öffentliche und leicht zugängliche Kommunikation herstellen. Dort
kann man die Ergebnisse unabhängigen Denkens erfahren und — wenn man
sich die Zeit nimmt — selber kreativ werden, nachdenken und zu Wort
kommen.
Das Wichtigste ist aber, zuerst die Quellen der Desinformation und
Oberflächlichkeit abzuschalten.
Radio und Fernsehen aus! Facebook abmelden. X dem Donald Trump
überlassen. Und keine Angst vor Langeweile! Wer Augen und Ohren
offenhält, das Leben um sich herum wahrnimmt und zu denken beginnt,
kennt keine Langeweile.
Ich schalte aus, also denke ich.
Ich denke, also bin ich.
Ich schalte aus, also bin ich.