a.anderer
unread,Feb 22, 2024, 5:00:54 AM2/22/24You do not have permission to delete messages in this group
Either email addresses are anonymous for this group or you need the view member email addresses permission to view the original message
to
Zwei-plus-vier-Vertrag: Deutschland hat ihn gebrochen – will Russland
ihn jetzt kündigen?
Von Dagmar Henn
Auf den ersten Blick wirkt es wie eine Schnapsidee. Den
Zwei-plus-vier-Vertrag aufkündigen, der 1990 die Grundlage für den
Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten war (das Ganze eine
Wiedervereinigung zu nennen, widerstrebt mir)? Es sind doch schon bald
34 Jahre vergangen, eine ganze Generation, wie soll das überhaupt
gehen? Und worauf zielt das Ganze, nur auf eine Schlagzeile, oder
steckt mehr dahinter?
Dieser Vertrag, der einmal all die Bestimmungen der
Vier-Mächte-Abkommen aufhob, ist jedenfalls lange genug her, dass man
seinen Text nicht mehr jederzeit im Kopf hat. Aber es ist einfach
genug, ihn zu finden. Und ich gebe zu, bei der Lektüre stolpert man
sehr schnell über einige Stellen, gerade, wenn man die Debatte um die
Taurus-Marschflugkörper beziehungsweise deren Lieferung in die Ukraine
durch Deutschland im Ohr hat, und das, was die Berliner Zeitung in
diesem Zusammenhang leise eingestand:
"Der Kanzler erklärte im Oktober, dass Deutschland Taurus vorerst
nicht liefern werde. Dahinter steht die Befürchtung, die Flugkörper
könnten russisches Territorium treffen und Russland könnte darin einen
Angriff mit deutscher Beteiligung sehen. Weitere Bedenken sind, dass
der Taurus-Einsatz die Anwesenheit deutscher Spezialisten im
Kriegsgebiet erforderlich machen könnte, was die Berliner Regierung
bislang zu vermeiden sucht."
Das ist selbstverständlich nur die halbe Wahrheit, weil erstens die
Aussage von russischer Seite bereits steht, dass das als Beteiligung
gesehen würde, und zweitens all das andere Gerät, das schon längst in
die Ukraine geliefert wurde, Patriots, Iris etc., mit genau dem
gleichen Problem behaftet ist. Die von der Berliner Zeitung für die
Zukunft befürchtete "Anwesenheit deutscher Spezialisten" ist schon
längst Wirklichkeit.
Aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend sind vielmehr
etwa einige Stellen, die sich in besagtem Vertrag finden lassen. In
der Präambel beispielsweise (obwohl Präambeln als Absichtserklärung
und nicht Teil des Vertragstexts nur die Interpretation des Textes
selbst beeinflussen):
"ENTSCHLOSSEN, in Übereinstimmung mit ihren Verpflichtungen aus der
Charta der Vereinten Nationen freundschaftliche, auf der Achtung vor
dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker
beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere
geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen,
EINGEDENK der Prinzipien der in Helsinki unterzeichneten Schlußakte
der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa,
IN ANERKENNUNG, daß diese Prinzipien feste Grundlagen für den Aufbau
einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in Europa geschaffen
haben,
ENTSCHLOSSEN, die Sicherheitsinteressen eines jeden zu
berücksichtigen,
ÜBERZEUGT von der Notwendigkeit, Gegensätze endgültig zu überwinden
und die Zusammenarbeit in Europa fortzuentwickeln"
Angesichts der Gegenwart klingt das schon wie eine romantische
Fantasie, oder? Wie oft war in den letzten Monaten und Jahren zu
hören, dass "Russland verlieren muss", oder dass man "kriegsbereit"
werden müsse? Die Sicherheitsinteressen eines jeden berücksichtigen,
Gegensätze endgültig überwinden, davon ist nicht mehr viel übrig.
Stattdessen wird jede Phrase, jedes Schreckensbild aus den Zeiten des
Kalten Krieges hervorgegraben, auch wenn es nicht einmal mehr die
Rechtfertigung des Systemgegensatzes gibt – macht nichts, dann nehmen
wir halt Transrechte.
Oder betrachten wir Artikel 2, der nun wirklich Bestandteil des
Vertrages ist (und ich versichere, danach ist auch Schluss mit langen
Zitaten):
"Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen
Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, daß von
deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des
vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der
Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu
stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten,
verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik
Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß
das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es
sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der
Vereinten Nationen."
Die Sache mit den Bomben auf Belgrad damals, das war doch ein
eindeutiger Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen. Es gab
dann eine Klage beim Bundesverfassungsgericht, weil die Vorbereitung
der Führung eines Angriffskrieges damals eben nach dem Text des
Grundgesetzes untersagt war. Das Verfassungsgericht wies die Klage ab,
weil ja nur von der Vorbereitung und nicht von der Führung eines
Angriffskrieges die Rede war.
Es ist eines der grundsätzlichen politischen Probleme des heutigen
Deutschland, dass man sich nach Kräften weigert, jemals die Position
des Gegenübers einzunehmen. Auch wenn das einer der wichtigsten
Schritte ist, die man selbst im privaten Umgang beherrschen sollte,
vom Umgang zwischen Völkern und Staaten ganz zu schweigen.
Das zumindest sollte man begreifen können: Wenn aus russischer Sicht
der Kiewer Krieg gegen die Bevölkerung des Donbass ab 2014 ein
versuchter Genozid war, was schwer zu bestreiten ist, wenn man die
Ereignisse von Odessa gesehen hat, dann hat Deutschland mit seiner
kritiklosen Unterstützung des Kiewer Regimes einen Genozid gefördert.
Die Frage, wie dieser Krieg zu bewerten ist, liegt übrigens gerade
(auf Betreiben der Ukraine, was für diese sehr nach hinten losgehen
könnte) beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Und dass dort
dieser eine Punkt der ukrainischen Klage nicht abgewiesen wurde, in
dem Kiew forderte, Russland die Behauptung zu untersagen, Kiew habe im
Donbass einen Genozid begangen, schafft nun die Gelegenheit, genau
diese Frage in epischer Breite zu klären.
Das, was 2014 begann, war ein Bürgerkrieg, der vor allem durch den
ständigen Beschuss der Städte des Donbass geprägt war. Zu Beginn hieß
es Kiewer Kampfflugzeuge, Raketenwerfer und Panzer gegen Milizen mit
Kalaschnikows. Berlin hat das immer wieder abgesegnet. Mehr noch,
Ex-Kanzlerin Merkel hat längst bestätigt, dass Deutschland als eine
der drei Garantiemächte der Minsker Abkommen, die im Februar 2015
geschlossen wurden, diese nur gefördert hat, um Zeit für Kiew zu
schinden.
"Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden,
das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören."
Es hätte viele, so viele Möglichkeiten gegeben, um all das zu stoppen,
was zwischen 2014 und 2022 geschehen ist. Für Deutschland. Es hätte
noch nicht einmal Geld gekostet. Über all die Jahre hinweg war
Deutschland mindestens der zweitgrößte Geber der Bandera-Ukraine, und
es gibt genug Momente, an denen man sich fragen musste, ob nun die
Amerikaner oder die Deutschen die größeren Kriegstreiber in der
Ukraine sind. "Das friedliche Zusammenleben der Völker." Alleine eine
ordnungsgemäße Berichterstattung über den 2. Mai 2014 in Odessa hätte
genügt. Das hätte womöglich die Bomben, die Granaten verhindert, die
darauf folgten. Weil das der Augenblick war, in dem nach Kiew
signalisiert wurde: "Ihr dürft alles." Carte blanche.
Das friedliche Zusammenleben der Völker, das setzt auch
wechselseitigen Respekt voraus. Muss man hier noch die Zitate
wiederholen, in denen von "den Russen" die Rede ist? Aussagen, die vor
einigen Jahren noch, in diesem Fall zutreffenderweise, als
Volksverhetzung hätten verfolgt werden müssen, werden mittlerweile
unbeanstandet von den täglichen Nachrichtensendungen frei Haus
geliefert.
Das Problem dabei ist nur: mit der obigen Formulierung des Artikels 2
des Zwei-plus-vier-Vertrags hat sich das damals künftige Deutschland
verpflichtet, "dass vom deutschen Boden nur Frieden ausgehen wird".
Das ist ungefähr so, als würde ich meinem Nachbarn notariell
beglaubigt zusichern, dass ich ihn immer freundlich behandeln werde.
Die deutsche Politik handelt seit Jahren so, als wäre der Text dieses
Vertrags nur eine Sonntagspredigt, die man schon beim Frühschoppen
danach wieder vergisst. Aber es ist ein Vertrag. Und der Unterschied
zwischen einem Vertrag und einer Sonntagspredigt ist nun einmal, dass
der Bruch eines Vertrags höchst irdische Konsequenzen hat.
In der wirklichen Welt will die Mehrheit des deutschen Parlaments
gerade beschließen, an eine in jeder denkbaren Hinsicht zweifelhafte
ukrainische Regierung, der dank der abgesagten Wahlen demnächst sogar
das formelle Minimum demokratischer Legitimität abgeht, von
Mordanschlägen, Todeslisten, Parteiverboten, politischen Gefangenen
ganz zu schweigen (den Mord an Gonzalo Lira nicht zu vergessen),
deutsche Raketen zu liefern, die von ukrainischem Gebiet aus selbst
Moskau erreichen könnten. Deutsche Raketen auf Moskau als Ergebnis des
Zwei-plus-vier-Vertrags? Das kann nicht in Ordnung sein.
Der Umgang mit den Minsker Abkommen dürfte übrigens gut dazu
beigetragen haben, dass ein derartiger Schritt, wie ihn die
Ankündigung einer solchen Aufkündigung darstellt, aus russischer Sicht
Sinn macht. Diese Abkommen waren damals vom UN-Sicherheitsrat
übernommen worden, was bedeutet, sie wurden mit der höchsten
völkerrechtlichen Qualität versehen. Bindend für alle Beteiligten. Und
auch wenn die unmittelbaren Vertragsparteien nur die Donbassrepubliken
und Kiew waren, bedeutet die Stellung Deutschlands als Garantiemacht
durchaus eine Verpflichtung, zur Umsetzung dieses Völkerrechts
beizutragen.
Statt dessen wurde schon in der Berichterstattung über den Inhalt
dieses Abkommens gelogen, dass sich die Balken bogen. Mehr noch, es
wurden, mindestens unter der Beteiligung Deutschlands, durch die EU
Sanktionen gegen Russland verhängt, weil es die Minsker Abkommen nicht
umsetze. Dabei war der erste Schritt, nach einer Waffenruhe und dem
Rückzug des schweren Geräts von der Kontaktlinie, die Verabschiedung
einer Verfassungsänderung im Parlament von Kiew, die den Status der
russischen Sprache wieder herstellt und einer Föderalisierung der
Ukraine den Weg bereitet. Nicht einmal der Rückzug des schweren Geräts
wurde von ukrainischer Seite eingehalten. Über Jahre hinweg durften
nicht nur die Milizen, sondern auch die Zivilbevölkerung ukrainischen
Beschuss genießen, auf den keine Antwort erfolgen durfte. Tote, immer
wieder Tote und Zerstörung, acht Jahre lang. Die deutsche Reaktion
darauf? Neue Vorhaltungen gegen Russland und neue Lügen.
Wer immer die russischen Reaktionen auf internationale Krisen
beobachtet hat, weiß, dass die Wiederherstellung des Völkerrechts
einer der zentralen Punkte in der Außenpolitik des Landes ist. Während
der Westen seine "regelbasierte Weltordnung" vor sich herträgt, um
noch das letzte Blutvergießen zu rechtfertigen, aber nie zu sagen,
worin sich diese Regeln nun vom geltenden Völkerrecht unterscheiden,
kann man auf russischer Seite, gleich, wie man zu den getroffenen
Entscheidungen steht, immer einen Bezug zu den Vorgaben des
Völkerrechts finden. Man mag darüber diskutieren, wie die einzelnen
Bestimmungen interpretiert werden, und dabei völlig anderer Meinung
sein, aber es ist nie ein Handeln im leeren Raum, für das dann
irgendwelche unbekannten "Regeln" aus dem Hut gezaubert werden. Und es
ist oft, wie zum Beispiel im Falle des israelischen Genozids in Gaza,
ein geradezu schmerzhaft langsames und vorsichtiges Vorgehen, weil die
Geltung des Rechts als ein höheres Gut behandelt wird als die
langfristig vernünftigere Lösung, auch wenn dies dazu zwingt,
Schrecken wie derzeit in Gaza zu ertragen.
Wenn man davon ausgeht, dass genau das die russische Haltung ist, das
Völkerrecht zu stärken; dass diese Haltung auch die Grundlage für das
ganze Beziehungsgeflecht in BRICS bildet und damit für eine künftige,
gleichere Welt, dann muss diese Haltung auch in Bezug auf das
Verhältnis zu Deutschland gelten. Und wenn Deutschland mit seinem
Vorgehen im Ukraine-Konflikt und Russland gegenüber das Völkerrecht
ignoriert und bricht, was es mehrfach getan hat, und sich auch noch
dafür preist, andere hintergangen zu haben, dann ist es nur
konsequent, das als einen Bruch des Zwei-plus-vier-Vertrags zu
behandeln und dementsprechend zu agieren.
Ob das praktische Konsequenzen hat und wenn ja, welche, muss sich noch
zeigen. Aber es genügt, sich schon eine einzige Bundestagsdebatte
anzuhören, um Klarheit darüber zu bekommen, dass das "friedliche
Zusammenleben der Völker" für das heutige Deutschland längst ein
Fremdwort ist. Wenn man das Völkerrecht wirklich ernst nimmt, dann
muss der Verstoß gegen diesen Artikel 2 zumindest klar als Bruch des
Vertrags benannt werden.