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Der Bär ist ein beliebtes Symboltier, man denke an Bern oder auch an
Berlin, vor allem aber auch für Russland. Dumm nur, dass der Bär ein
sympathisches Tier ist, geht er doch, ähnlich wie der Mensch, oft auf
zwei Beinen, und er ist ein Allesfresser, auch wie der Mensch, und
gefährlich für den Mensch ist er nicht, es sei denn, er selber fühle
sich bedroht. Nichts destotrotz gelingt es den Cartoonisten durchaus,
Russland auch als Bär negativ zu zeichnen. (Cartoon aus den baltischrn
Staaten)
Zehn Mythen über Russland – und die etwas andere Realität …
16. Februar 2024 Von: Stefano di Lorenzo in Allgemein, Medienkritik,
Politik
(Red.) Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass man in den europäischen
Medien echt negative Stories über Russland lesen kann. Dass dort zig
Millionen Menschen durchaus zufrieden ihr Leben leben, passt nicht ins
Bild des Westens, der für seine machtpolitisch motivierte
Russlandfeindlichkeit ja Begründungen braucht. Stefano di Lorenzo,
gebürtiger Italiener mit Sprachstudium in Deutschland, hat eben ein
Jahr lang in Moskau gelebt und ärgert sich – zu Recht! – über all die
üblen Geschichten, die man im Westen über Russland sehen, hören und
lesen kann. Und er ist gerade wieder unterwegs – erneut nach Moskau,
denn das Leben hat ihm dort durchaus zugesagt.(cm)
Heute sind sogenannte Faktenchecker in Mode. Eine ihrer Hauptaufgaben
besteht darin, die europäische und amerikanische Öffentlichkeit
ununterbrochen darüber aufzuklären, dass Russland in der Unwahrheit
lebt, in der totalen Lüge. Die Wahrheit sei in Russland unmöglich und
werde sogar bestraft. Wir Westler hingegen können stolz darauf sein,
dass wir uns bewusst für den Weg der Wahrheit entschieden haben. Und
eben darin unterscheiden wir uns vom Rest der Welt, seien es Russen,
Chinesen, Araber oder Iraner. Das sind zwar offensichtlich
Vereinfachungen auf kindlichem Niveau, was dabei aber nicht stört,
dass solche Narrativen tagein tagaus vor unseren Augen gespielt werden
und dass eine Mehrheit der Leute auch fest daran glaubt.
Doch selbst wir im Westen, die einzigen wahren Verehrer der Wahrheit
auf der ganzen Welt, verbreiten Mythen und Halbwahrheiten über andere
Länder, die sich nicht gerade wie Komplimente anhören. Hier wollen wir
eine Reihe von Mythen, Klischees und Unwahrheiten anschauen, die
täglich über Russland verbreitet werden, ohne dass westliche Experten
und Besserwisser aller Art ihre Glaubwürdigkeit einbüßen oder ihre
Gehälter eingestellt werden. In einer rationalen Diskussion sollte der
Hinweis auf diese und andere Ungenauigkeiten nicht gleich mit dem
Vorwurf einer angeblichen Kremlfreundlichkeit begrüßt werden. Denn wie
Aristoteles schon sagte, liegt die Wahrheit oft in der Mitte. Etwas,
was für uns im Westen immer schwieriger zu verstehen scheint.
Die Geschichte der Klischees über Russland ist lang. Und das Thema ist
wichtig: Auch die amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs hat ihm
kürzlich einen Artikel gewidmet, ein ehemaliger russischer
Kulturminister vor einigen Jahren sogar ein Buch. In einer Zeit, die
Lichtjahre von unserer Ära des (falschen) Triumphs der politischen
Korrektheit entfernt zu sein scheint, nannte der deutsche Ex-Kanzler
Helmut Schmidt bekanntlich die Sowjetunion „Obervolta mit
Atomraketen“. Eine herablassende Anspielung auf das bettelarme
afrikanische Land Obervolta, das heute als Burkina Faso bekannt ist.
Eine vor einigen Jahren veröffentlichte Geschichte Russlands, die von
einem angesehenen ehemaligen BBC-Journalisten und
Moskau-Korrespondenten, Martin Sixsmith, geschrieben wurde, trug den
Titel „Russland: Der wilde Osten“. Diese und viele andere Klischees
über Russland leben auch heute noch weiter. Offensichtlich gilt die
politische Korrektheit, der Katechismus unserer Zeit, nicht für
Russland.
Man muss Russland nicht lieben und pro-russisch sein, aber es ist
notwendig, ein wahrheitsgetreues Bild von ihm zu haben — nicht
zuletzt, um Probleme und Missverständnisse zu vermeiden. Auch Foreign
Affairs schrieb: „Der Mythos, den die Amerikaner von Russland haben,
ist auch eine Falle, die dazu führt, dass politische
Entscheidungsträger den Kreml falsch verstehen und Gelegenheiten
verpassen, das Regime zu schwächen oder Kompromisse zu finden. Um
gefährliche Fehlinterpretationen zu minimieren, muss die US-Führung
härter daran arbeiten, sich von diesen Mythen und Archetypen zu lösen.
Ein besseres Verständnis der eigenen Mythen der Vereinigten Staaten —
und der russischen — würde den US-Politikern mehr Flexibilität
verleihen, strategisches Einfühlungsvermögen fördern und künftige
Veränderungen in der russischen Politik vorwegnehmen“.
Also schauen wir jetzt, welches die gängigsten Mythen über Russland
sind.
Mythos Nr. 1:
Die Russen sind von der Wahrheit und der Welt völlig isoliert, sie
haben keinen Zugang zu wahrheitsgemäßen Informationen jeglicher Art.
Eine logische Folge dieser Annahme ist: Wenn sie nur die Wahrheit,
unsere Wahrheit, kennen würden, würden die Russen Buße tun. Natürlich
gibt es heute in Russland eine Zensur, wie es in einem Land, das sich
im Krieg befindet, die Regel ist — siehe die Ukraine, wo die Medien
gleichgeschaltet worden sind. Aber in Russland gibt es auch nicht nur
das Staatsfernsehen, das von westlichen Beobachtern gerne so
betrachtet wird, als wäre es das einzige Informationsmedium in
Russland. Heute hat jeder ein Telefon, und Russland hat eine der
höchsten Internetzugangsraten der Welt. Viele westliche Medien- und
Social-Media-Seiten sind zwar blockiert und nur mit einem VPN
zugänglich, einem in Russland zunehmend beliebten Dienst, mit dem man
das Land des Internetzugangs wechseln kann. Aber eben nicht alles ist
in Russland blockiert. Die Webseite der BBC zum Beispiel ja, die Seite
der CNN, der New York Times oder der ARD nicht. Übrig bleiben
WhatsApp, Telegram und YouTube, die in keiner Weise eingeschränkt sind
und über die man auf alle Informationen und Kanäle zugreifen kann, die
man sich wünschen könnte.
Mythos Nummer 2:
In Russland wird alles von einem einzigen Mann entschieden.
Russland ist zweifelsohne ein autoritäres System. Aber Putins Macht
ist nicht unbegrenzt. Selbst die britische Denkfabrik Chatham House
hat darüber geschrieben: „Es ist verlockend zu glauben, dass Wladimir
Putin alle wichtigen Entscheidungen in Russland allein trifft, dass
Politiker und Bürokraten Putins Befehle in einem System, das als
Machtvertikale bekannt ist, ohne Fehler ausführen und dass politische
Institutionen wie die nationale Legislative und die regionalen
Behörden lediglich dazu dienen, Putins Wünsche umzusetzen“. Man kann
dem Chatham House kaum vorwerfen, pro-russische Sympathien zu hegen.
Kurz gesagt, auch Russland hat ein komplexes Regierungssystem, in dem
etliche Organe versuchen, ein Gleichgewicht und einen Kompromiss
zwischen verschiedenen politischen Kräften zu finden. Putin fungiert
dabei als eine Art Überwacher. Die Funktionsweise der russischen
Politik auf eine Psychoanalyse Putins zu reduzieren, so faszinierend
sie auch sein mag, ist Unsinn und Zeitverschwendung.
Wie Foreign Affairs auch schrieb: „Der Mythos der Vereinigten Staaten
über Russland — dass Russland eine böse und ehrgeizige Tyrannei ist —
hat einen gewissen innenpolitischen Nutzen. Um nach innen gerichtete
Amerikaner für die Außenwelt zu interessieren, muss Washington einen
einzigen allmächtigen Bösewicht heraufbeschwören. Die Amerikaner
wollen glauben, dass sie gegen einen Einzelnen kämpfen, der getötet
werden kann, und nicht gegen ein ganzes Land, das unterworfen werden
muss. In einer Krise nach der anderen werden Vergleiche mit Hitler
herangezogen, um die demokratieliebenden, aber selbstgefälligen
Amerikaner zum Handeln zu bewegen. Putin ist einfach der jüngste in
einer langen Reihe autokratischer Führer — Saddam Hussein, Slobodan
Milosevic, Muammar al-Qaddafi und Bashar al-Assad, um nur einige zu
nennen —, die als alleinige Verhinderer von Demokratie und Fortschritt
dargestellt werden“.
Mythos Nr. 3:
Russland ist ein armes Land, das nichts kann.
In Europa und Amerika scheint immer noch der Mythos von einem Russland
mit einer Dritte-Welt-Wirtschaft weit verbreitet zu sein, einem Land,
in dem verzweifelte Menschen bereit sind, alles, was sie besitzen, für
ein Stück Brot oder einen gebrauchten Mercedes zu verkaufen. Das
Bruttoinlandsprodukt Russlands soll dem Italiens entsprechen, heißt es
oft, und die Bevölkerung Russlands ist mindestens doppelt so groß wie
die Italiens. Die wirtschaftliche Realität hängt jedoch sehr stark vom
Kosten- und Preisniveau in einem Land ab. Wenn die Löhne doppelt so
hoch sind, die Preise aber dreimal so hoch, wer lebt dann besser?
Deshalb wird das Bruttoinlandsprodukt gerne in Kaufkraftparität
betrachtet. Legt man dieses Kriterium zugrunde, so konkurriert
Russland heute mit Deutschland — nach den verschiedenen Berechnungen
des IWF, der Weltbank und der CIA — um den Platz der fünftgrößten
Volkswirtschaft der Welt. Betrachtet man hingegen das
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, so rangiert Russland auf Platz 55.
Es muss auch gesagt werden, dass in einem so großen Gebiet wie
Russland die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung
zwangsläufig sehr groß sind. Und das Bruttoinlandsprodukt allein ist
immer noch ein unvollkommenes Maß für den Entwicklungsstand eines
Landes. Nach dem vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen
berechneten Index der menschlichen Entwicklung, der nicht nur das
Einkommen pro Kopf, sondern auch die Lebenserwartung und das
Bildungsniveau berücksichtigt, gehört Russland zur Gruppe der Länder
mit einem sehr hohen Index der menschlichen Entwicklung.
Mythos Nummer 4:
Russland will Europa angreifen.
Die Ukraine kämpft, um Europa und unsere Werte zu verteidigen, so hört
man es jeden zweiten Tag. Russland sei also eine bösartige und
rückschrittliche Macht, die den Fortschritt und die Freiheit hasse,
die wir im Westen und nur wir im Westen genießen. Daher könne Russland
nur eine Bedrohung für Europa sein, das in seinem unendlichen Hunger
nach Macht und Territorium gar nicht anders könne, als Europa zu
bedrohen und vielleicht sogar in Europa einzumarschieren. Die
französische Zeitschrift Le Monde Diplomatique schrieb vor einigen
Wochen über den angeblichen „Imperialismus“ Russlands. Der legendäre
russische Eroberungsimperialismus habe nichts furchtbar Russisches an
sich, sondern sei ein Prozess der Zentralisierung und Konsolidierung
einer Nation. Ähnliche Prozesse konnte man in allen europäischen
Staaten im Laufe der Jahrhunderte beobachten.
Wenn Russland ein Problem hat, dann ist es die Demographie. Die
Geburtenrate ist niedrig, es gibt nicht genug Männer. Wenn der heutige
demographische Trend so weitergeht, wird Russlands Problem nicht sein,
neue Gebiete einzuverleiben, sondern sein Territorium mit genug Leuten
zu besiedeln.
Mythos Nummer 5:
Russland will die Sowjetunion wiederaufbauen.
Ein Korollar, eine logische Ableitung aus dem vorherigen Mythos. Putin
wird oft zitiert, wenn er den Zusammenbruch der Sowjetunion als die
größte geopolitische Tragödie des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Daher
sei es Putins und Russlands Wille, das verlorene Imperium
wiederherzustellen. Das würde natürlich eine Invasion der baltischen
Staaten Litauen, Lettland und Estland und die Rückeroberung des
gesamten sowjetischen Raums und seiner Satelliten bedeuten. Und nicht
nur das: Russland wolle den liberalen Kapitalismus abschaffen und die
Planwirtschaft wieder einführen.
Die Sowjetunion war ein historisches Experiment, das durch mehrere
Umstände begünstigt wurde, vor allem durch den Zusammenbruch des
Zarenreichs während des Ersten Weltkriegs und nicht zuletzt durch die
großzügige Finanzhilfe der damaligen deutschen Regierung für die
bolschewistischen Revolutionäre. (Auch die Schweiz hat ihren Beitrag
geleistet, indem sie geholfen hat, den im Schweizer Exil lebenden
Lenin in einem versiegelten Güterwagen nach Russland zu schmuggeln.
Red.) Nachdem der bolschewistische Kommunismus überraschend den Ersten
Weltkrieg und den Bürgerkrieg überlebte und triumphierend aus dem
Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war, wurde er innerhalb zweier
Generationen von den „animalischen Geistern“ der wirtschaftlichen
Bedürfnisse des alltäglichen Lebens auf den Kopf gestellt. Insgesamt
dauerte das sowjetische Experiment nicht einmal 75 Jahre. Heute mögen
viele Russen eine Art jugendliche Nostalgie für die imperiale Pracht
der Sowjetära empfinden, aber nur wenige haben Nostalgie für die
wirtschaftliche Realität jener Zeit. Die Wählerunterstützung für die
Kommunistische Partei ist gering und nimmt von Jahr zu Jahr ab.
Mythos Nummer 6:
Vor dem Maidan kontrollierte Russland die Ukraine.
Die Maidan-Revolution — mit großzügiger „Hilfe“ aus Europa und den USA
— markierte einen entscheidenden Wendepunkt nicht nur in der
Geschichte der Ukraine, sondern in der Geschichte Europas. Für viele
in der Ukraine war die Revolution der eigentliche Moment der Geburt
der Nation. Die autobiografische Erzählung der Ukraine sah die
Einführung des Diskurses eines russischen Kolonialismus in der
Ukraine. Andere, nicht nur in der vom Feuer der Revolution entflammten
Ukraine, sondern auch in Europa, sprachen von einem tausendjährigen
Krieg (sic!) zwischen Russland und der Ukraine. Die russische
Kontrolle der Ukraine soll bis zum Sturz des ukrainischen Präsidenten
Janukowitsch gedauert haben. Die Ukraine hat jedoch mindestens seit
1991, als sie mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Staat
anerkannt wurde, unabhängig von Russland gehandelt. Zwischen 1991 und
2013 gab es mehrere Differenzen und Streit zwischen Russland und der
Ukraine. Die Ukraine (oder genauer gesagt, die ukrainischen
Regierungen), in der die Mehrheit der Bevölkerung Russisch sprach,
entschied sich bewusst für eine Politik der Ukrainisierung, die als
„Rückkehr zur Muttersprache“ präsentiert wurde. Bereits in den 1990er
Jahren war von einem möglichen NATO-Beitritt der Ukraine die Rede. Im
Jahr 2004 fand die erste antirussische Revolution, die so genannte
Orange Revolution, statt. Der Sieger, der pro-amerikanische
Juschtschenko, regierte fünf Jahre lang, von 2005 bis 2010, und trug
in seiner antirussischen Funktion zur unaufhaltsamen Annäherung der
Ukraine an die Europäische Union und die NATO bei. Einer seiner
letzten Amtshandlungen vor der Übergabe an den siegreichen
Janukowitsch im Jahr 2010 war ein Dekret, mit dem die ukrainischen
Nationalisten und Nazi-Kollaborateure Stepan Bandera und Roman
Schuchewitsch zu Nationalhelden ernannt wurden. Janukowitsch selbst
kann kaum als prorussischer Präsident bezeichnet werden, geschweige
denn als Marionette Moskaus. Denn selbst Janukowitsch hatte sich bis
kurz vor dem Putsch von 2014 für die Integration der Ukraine in die
Europäische Union eingesetzt.
Mythos Nummer 7:
Russland versteht nur die Sprache der Gewalt.
Die Aufregung um das Interview des amerikanischen Journalisten Tucker
Carlson mit dem russischen Präsidenten Putin hat die Frage neu
aufgeworfen, ob man mit Russland reden kann. Im Westen ist man zu der
Überzeugung gelangt, dass jede Form des Dialogs mit Russland
zwangsläufig unmöglich sein muss. Russland sei als autoritäres und
illiberales Regime bar jeder Vernunft und verstehe nur die Sprache der
Gewalt. Doch die monatelangen Verhandlungen, die dem Einmarsch in die
Ukraine im Februar 2022 vorausgingen, belegen das Gegenteil zu
belegen. Russland suchte die diplomatische Lösung. Der Westen wollte
aber mit Putin nicht verhandeln. Auch die Minsker Vereinbarungen, die
Russland unterzeichnete, sorgten zumindest dafür, dass die Intensität
des Konflikts im Donbass sieben Jahre lang stark abnahm. Man denke
auch an die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine in den
ersten Tagen unmittelbar nach der Invasion, als eine Einigung zwischen
den beiden Ländern bereits in greifbarer Nähe war: Die Ukraine hätte
ihre Gebiete — mit Ausnahme der Krim und wahrscheinlich Teilen des
Donbass — im Gegenzug für Neutralität behalten können. Leider
scheiterten diese Vereinbarungen nicht zuletzt an der Einmischung des
Westens, und nicht wegen eines Russlands, das beschlossen hatte, auf
Kosten der Diplomatie alles auf den Krieg zu setzen.
Mythos Nummer 8:
Russland leugnet die Existenz der ukrainischen Nation.
Im August 2021 veröffentlichte der russische Präsident Putin einen
langen historischen Essay mit dem Titel „Zur historischen Einheit von
Russen und Ukrainern“. Wenn Putin sagte, dass Russen und Ukrainer ein
Volk seien, bedeutete das nach Ansicht von Kritikern, dass er die
Existenz des ukrainischen Volkes völlig leugnete. Dies erscheint
jedoch als eine erzwungene Interpretation. Das Narrativ, dass Russen
und Ukrainer ein Volk seien, muss nicht bedeuten, dass es keine
Ukrainer gibt. Es bedeutet, dass Russen und Ukrainer gemeinsame
Ursprünge und sehr enge familiäre, soziale, historische und kulturelle
Bindungen haben. Eine Tatsache, die für jeden, der ein wenig über
Russland, die Ukraine und ihre Geschichte weiß, unbestreitbar scheint.
Bis vor hundert Jahren nannten zum Beispiel die Ukrainer selbst ihre
Sprache „ruska mowa“, „rusische Sprache“, mit nur einem „s“ also. Die
russische und die ukrainische Identitäten waren also fluide, nicht
starre Kategorien eines urvölkischen Geistes der Nationen.
In den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine wird die
ukrainische Sprache auch heute noch als Fremdsprache unterrichtet. Die
Russen sind sich der Besonderheiten der ukrainischen Identität sehr
bewusst, und niemand hat die Absicht, sie auszuradieren. Und die
ukrainische Identität bleibt in jedem Fall ein komplexes Phänomen: Das
„Ukrainertum“ von L’wiw ist nicht dasselbe wie das „Ukrainertum“ in
Odessa oder Charkiw.
Mythos Nummer 9:
Russland ist ein Land mit patriarchalischer und sexistischer Kultur,
Frauen werden diskriminiert und leiden unausstehlich darunter.
In den letzten Jahren sind westliche Medien nie müde geworden, das
Klischee vom russischen Präsidenten Putin als unverbesserlichem Macho
zu wiederholen. Das Symbol eines von Männern dominierten Landes und
einer rückschrittlichen Kultur, die allergisch auf Feminismus
reagiert. Zwar scheint die Politik in Russland vor allem eine
Männerdomäne zu sein. Doch ist es falsch, dies zu verallgemeinern und
von einer weit verbreiteten Diskriminierung von Frauen in Russland zu
sprechen. Auch am Arbeitsplatz. In Deutschland und in vielen anderen
westlichen Ländern scheint das Thema Frauen in Führungspositionen
heute eines der drängendsten zu sein. In Russland ist das kein
Problem. Laut einer Studie des amerikanischen Beratungsunternehmens
Grant Thornton International gab es in Russland schon 2015 mehr Frauen
in Führungspositionen als in jedem anderen Land der Welt, der Anteil
der Frauen betrug 45%. Unter den westlichen Ländern lag Finnland mit
40% an erster Stelle. Amerika kam auf 22%, Deutschland auf 15%.
Seit der bolschewistischen Revolution wurden Männer und Frauen in
Russland als gleichberechtigt angesehen, Frauen wurden ermutigt, sich
zu emanzipieren und wie die Männer in den Fabriken zu arbeiten oder
Ingenieur zu werden!
Allerdings muss man zugeben, dass vielen Frauen in Russland ihr Land
noch nicht feministisch genug ist. Anscheinend würden viele es lieber
sehen, beruflich oder gesellschaftlich den Männern noch
gleichgestellter zu sein, aber weiterhin als Frauen gesehen zu werden,
das heißt im Alltag verwöhnt und umworben, z. B. wenn es darum geht,
für ein Abendessen oder eine Auslandsreise zu bezahlen.
Mythos Nummer 10:
Russen hassen den Westen.
Zum Abschluss noch einer der hartnäckigsten Mythen. Der heutige
Konflikt in der Ukraine zwischen Russland und dem Westen sei das
Ergebnis des angeborenen Hasses Russlands auf Freiheit und Demokratie,
deren ultimativer Ausdruck und Verkörperung der Westen sei. Das böse
Russland sei also ein Feind der Freiheit, eines der Grundprinzipien
unserer Zivilisation. Sicherlich hat die antiwestliche Rhetorik in den
letzten zwei Jahren zugenommen, Russland ist sich bewusst, dass es in
der Ukraine nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen ein Bündnis
westlicher Staaten kämpft. Doch die antiwestliche Rhetorik in Russland
ist immer noch weit weg von der gegenwärtig stark verbreiteten
antirussischen Rhetorik im Westen, die in den letzten Jahren wahre
McCarthy’sche Züge angenommen hat. Bis in die letzte Zeit des Krieges
in der Ukraine bestanden Putin und viele andere russische Politiker
und Experten darauf, westliche Politiker als „unsere westlichen
Partner“ zu bezeichnen. Nicht ohne eine gewisse Ironie, aber dennoch
ein interessantes Phänomen, das eine Offenheit für den Dialog zum
Ausdruck brachte. Sicherlich nicht die Art, in der sich der Feind
einer Zivilisation äußern würde! Der Konflikt zwischen dem Westen und
Russland ist kein Konflikt der Zivilisationen. Viele Russen bewundern
den Westen und lieben die europäische und amerikanische Kultur immer
noch. Auch wenn sie vielleicht angefangen haben, den Westen weniger zu
respektieren. Denn Respekt als Gefühl muss immer auf einer gewissen
Gegenseitigkeit beruhen.
(Red.) Siehe dazu auch «Achtung! Hinter diesem Bär steckt Putin!» von
Christian Müller, geschrieben im Jahr 2018 und publiziert auf
Infosperber, wobei dort, warum auch immer, jetzt die Bilder fehlen.
Immer noch zu sehen ist ein Video «Mascha und der Bär».
PS vom Freitag, 16. Februar 2024, 20 Uhr: Wie man hat lesen können,
ist der russische Oppositionelle Aleksei Navalny in der Haft
verstorben. Und natürlich weiss US-Präsident Joe Biden bereits, dass
Putin ihn hat ermorden lassen: Siehe die NYT.
Als Navalny vor ein paar Jahren vergiftet wurde, hat Putin erlaubt,
ihn nach Deutschland in eine Spezialklinik zu fliegen, um ihn zu
retten, was dann auch gelang. Hält Biden Putin wirklich für so dumm,
Navalny ausgerechnet kurz vor den Wahlen umzubringen? Ähnliche
Kommentare wird es aber auch in anderen Medien geben. Dass Navalny
jener Mann war, der öffentlich sagte, die muslimischen Einwanderer
seien wie Kakerlaken und gegen diese sei es empfehlenswert, die
Pistole einzusetzen, wird wohl niemand mehr erwähnen (siehe hier).
(cm)