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Femrichter

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Dirk Jung

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Oct 6, 1999, 3:00:00 AM10/6/99
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Hallo!

Bei der Lektüre von Schnitzlers "Traumnovelle" bin ich über den Begriff
"Femrichter" gestolpert. Ein Mann mit jener Berufsbezeichnung tritt dort
zweimal auf, und ich wüsste gerne, was ein solcher Richter tut. Die mir
zugänglichen Lexika berichteten, wenn sie überhaupt einen Eintrag
hatten, über mittelalterliche Rechtspraktiken, aber ich kann mir nicht
vorstellen, dass das Mittelalter in Wien bis zur Jahrhundertwende
gedauert hat. Daher meine Frage an Euch: Was tut (bzw. tat) ein
Femrichter, insbesondere im Wien der Jahrhundertwende?

Tschüss, Dirk

P. S.: Zu dem hier immer wieder aktuellen Thema Fugenelemente habe ich
in der "Traumnovelle" auch etwas Interessantes gefunden. Der Held trägt
nämlich eine "Arztentasche" (!) mit sich herum.

dws...@bellsouth.net

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Oct 6, 1999, 3:00:00 AM10/6/99
to
Hi Dirk:

> Bei der Lektüre von Schnitzlers "Traumnovelle" bin ich über den Begriff

> "Femrichter" gestolpert. [ . . . ] ich kann mir nicht


> vorstellen, dass das Mittelalter in Wien bis zur Jahrhundertwende
> gedauert hat. Daher meine Frage an Euch: Was tut (bzw. tat) ein
> Femrichter, insbesondere im Wien der Jahrhundertwende?

Ganz praezis kann ich die Frage leider nicht beantworten; bei Websters
lese ich beim Eintrag "Vehmgericht [sic], dass "this system provided
great scope for the spirit of private revenge, malice, and interested
motives, and many judicial murders were perpetrated . . . "
Interessanterweise gibt Duden Englisch-Deutsch "kangaroo court" als
zweite Definition an. Da Websters auch behauptet, "the last tribunal was
held at Zell in 1568," ist es wohl moeglich, dass im Wien der
Jahrhunderwende ein Femrichter mit so etwas wie einem "kangaroo court"
zu tun hatte. Dass es aber als regelrechte Berufsbezeichnung auftritt,
wundert, da kangaroo courts alles andere als die normale Gerichtspraxis
vertreten.

doug

BTW, zu

> aber ich kann mir nicht
> vorstellen, dass das Mittelalter in Wien bis zur Jahrhundertwende
> gedauert hat

kann ich sagen, dass es in gewissem Sinne wohl *noch* bei uns hier in
den USA seinen Unfug treibt . . . ;-)

Dirk Jung

unread,
Oct 6, 1999, 3:00:00 AM10/6/99
to
dws...@bellsouth.net wrote:

...


> Interessanterweise gibt Duden Englisch-Deutsch "kangaroo court" als
> zweite Definition an.

Das ergibt gleich die nächste Frage, Doug (du hast es so gewollt!):

Was ist ein "kangaroo court"? Der oberste australische Gerichtshof? Das
Berufungsgericht der "Animal Farm"?

> BTW, zu
>
> > aber ich kann mir nicht
> > vorstellen, dass das Mittelalter in Wien bis zur Jahrhundertwende
> > gedauert hat
>
> kann ich sagen, dass es in gewissem Sinne wohl *noch* bei uns hier in
> den USA seinen Unfug treibt . . . ;-)

Das hast *DU* jetzt gesagt, aber das lass ich einfach mal stehen :-)

Tschüss, Dirk

Jaakob Kind

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Oct 6, 1999, 3:00:00 AM10/6/99
to
dws...@bellsouth.net wrote:
>
> Hi Dirk:
>
> > Bei der Lektüre von Schnitzlers "Traumnovelle" bin ich über den Begriff
> > "Femrichter" gestolpert. [ . . . ] ich kann mir nicht

> > vorstellen, dass das Mittelalter in Wien bis zur Jahrhundertwende
> > gedauert hat. Daher meine Frage an Euch: Was tut (bzw. tat) ein
> > Femrichter, insbesondere im Wien der Jahrhundertwende?
>
> Ganz praezis kann ich die Frage leider nicht beantworten; bei Websters
> lese ich beim Eintrag "Vehmgericht [sic], dass "this system provided
> great scope for the spirit of private revenge, malice, and interested
> motives, and many judicial murders were perpetrated . . . "
> Interessanterweise gibt Duden Englisch-Deutsch "kangaroo court" als
> zweite Definition an. Da Websters auch behauptet, "the last tribunal was
> held at Zell in 1568," ist es wohl moeglich, dass im Wien der
> Jahrhunderwende ein Femrichter mit so etwas wie einem "kangaroo court"
> zu tun hatte. Dass es aber als regelrechte Berufsbezeichnung auftritt,
> wundert, da kangaroo courts alles andere als die normale Gerichtspraxis
> vertreten.
>
Ich kannte Femgerichte oder Feme bisher nur im Zusammenhang mit
Neonazis, die Abweichler "vor Gericht" stellten und dann ermordeten bzw.
"das Urteil vollstreckten". Von daher scheint "kangaroo court" fuer
diese Bedeutung nicht schlecht zu sein. Mein Oxford ALD definiert: an
illegal court formed by a group of prisoners, workers on strike, etc to
settle disputes among themselves.

Was Schnitzler gemeint hat, weiss ich natuerlich nicht, da ich die
"Traumnovelle" nicht kenne. Ich habe aber letztens "Eyes Wide Shut"
gesehen (soll ja recht werknah), und da gibt es einen "Prozess", der
stark nach "kangaroo court" aussieht...

Jaakob

dws...@bellsouth.net

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Oct 6, 1999, 3:00:00 AM10/6/99
to
Dirk:


> Das ergibt gleich die nächste Frage, Doug (du hast es so gewollt!):

"The meter's running" = Rechnung folgt :-) $$$$

> Was ist ein "kangaroo court"? Der oberste australische Gerichtshof? Das
> Berufungsgericht der "Animal Farm"?

"Kangaroo court (said to be so named because its justice progresses by
leaps and bounds): an unauthorized, irregular court usually disregarding
normal legal procedure as an irregular court in a frontier region or a
mock court set up by prison inmates."

Die Wendung kommt ziemlich oft im Englischen vor, d.h., das ist kein
ungewoehnlicher Ausdruck oder gar terminus technicus.

Aber im Wien der Jahrhundertwende?

Zu "Feme" sage das Duden Universalwoerterbuch auch:

> geheime gerichtsähnliche Versammlung, die über die Ermordung von politischen Gegnern u. Verrätern in den eigenen Reihen entscheidet.

Das koennte ich mir in Wien wohl vorstellen, besonders im Wien der
Jahrhundertwende. Aber Femrichter als Berufsbezeichnung? Will Schnitzler
nun vielleicht sagen, dass dieser Mann, mmm, *nebenbei* auch als
Femrichter fungiert, d.h. geheim? Passt das in die Erzaehlung?

> > kann ich sagen, dass es in gewissem Sinne wohl *noch* bei uns hier in
> > den USA seinen Unfug treibt . . . ;-)
> Das hast *DU* jetzt gesagt, aber das lass ich einfach mal stehen :-)

Man *darf* sich selber anprangern, ohne "politically incorrect" zu sein.
;-)

doug

Klaus Bailly

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Oct 8, 1999, 3:00:00 AM10/8/99
to
Dirk Jung <ka...@uni-paderborn.de> schrieb:

> Was tut (bzw. tat) ein
> Femrichter, insbesondere im Wien der Jahrhundertwende?
>

> Tschüss, Dirk
>
> P. S.: Zu dem hier immer wieder aktuellen Thema Fugenelemente habe ich
> in der "Traumnovelle" auch etwas Interessantes gefunden. Der Held trägt
> nämlich eine "Arztentasche" (!) mit sich herum.

Hallo Dirk,

besagter "Femrichter im roten Talar" tritt in Schnitzlers "Traumnovelle"
auf, als er im Magazin des Kostümverleihers heimlich ein intimes Souper mit
dessen Tochter abhält, die ihrerseits ein "Pierettenkostüm" trägt. Als
Fridolin ihm am nächsten Morgen beim Verlassen des Hauses wieder begegnet,
ist er ganz normal in Frack und Überzieher gekleidet. Folglich scheint es
mir eindeutig so zu sein, dass die Titulierung als "Femrichter"
ausschließlich die Kostümierung meint und der Mann nicht etwa im Wien um
1900 tatsächlich die Tätigkeit eines mittelalterlichen Femrichters ausübt.

Übrigens trägt Fridolin, zumindest in meiner Ausgabe der "Traumnovelle",
keine "Arztentasche", sondern eine "Arztenstasche".

Gruß
Klaus

--
Klaus Bailly * Körnerstr. 28 * D-42659 Solingen
mailto: kba...@wtal.de


Dirk Jung

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Oct 11, 1999, 3:00:00 AM10/11/99
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Klaus Bailly wrote:

>... Folglich scheint es


> mir eindeutig so zu sein, dass die Titulierung als "Femrichter"
> ausschließlich die Kostümierung meint und der Mann nicht etwa im Wien um
> 1900 tatsächlich die Tätigkeit eines mittelalterlichen Femrichters ausübt.

Ja, nach nochmaligem Nachlesen bei Schnitzler hast du wohl recht. Asche
auf mein Haupt...

> Übrigens trägt Fridolin, zumindest in meiner Ausgabe der "Traumnovelle",
> keine "Arztentasche", sondern eine "Arztenstasche".

Sogar noch ein "s" dabei...

Tschüss, Dirk

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