Wenn ich nach 'trotz' und 'wegen' den Genitiv unterrichte und die
TN dann ankommen und berichten, sie hätten das aber mit dem Dativ
gehört, dann sollte ich darauf eine tragfähige Antwort haben.
Das einerseits. Eine 'gute Grammatik' wird erwähnen, dass der
Dativ zumindest in der gesprochenen Sprache gängig ist. Es macht
wenig Sinn, auf grammatischen Regularitäten zu bestehen, an die
sich keiner hält. Eine Grammatik ist keine Straßenverkehrsordnung,
und 'Bußgelder' für Regelverstöße werden nur im Schulbetrieb in Form
von nicht erteilten Zugangsberechtigungen erhoben, wobei aber auch
andere Fächer als Deutsch ein Wörtchen mitreden. Für Bewerbungs-
anschreiben, durch die sich ebenfalls Türen öffnen oder schließen
können, gibt's Lohnschreiber und Ratgeber und weitere Dienstleister.
Und wer in einem ausgesprochenen Schreibberuf seine Brötchen verdient,
oder wer öffentlich das Wort ergreift, sollte sein Handwerk beherrschen.
Beim Sprachen-Unterrichten wird entsprechend dem erreichten Level wie je didaktisch reduziert. Es werden bei weitem nicht alle Regularitäten vorge-
führt, auf keiner Stufe. Für den Sprachunterricht sind Lernergrammatiken
ein unverzichtbares Werkzeug, und die sind auf der jeweiligen Stufe erst
einmal der Maßstab für richtig oder falsch. Aber jede Lernergrammatik
bildet ein Durchgangsstadium, außer bei denen, die über ein bestimmtes
Level an Spachfertigkeit nicht hinausgelangen.
Was das Nachschlagen angeht: Ich bin inzwischen altersbedingt in vielem
wesentlich unsicherer als noch vor 10 Jahren. Die Frage ist, was ich
beim Nachschlagen erfahren will: Will ich wissen, was bei einem
bestimmten Formulierungsproblem sprachüblich ist, und zusätzlich eine
stilistische Einordnung nach Standard- oder Umgangssprache (oder noch
weiter oben oder unten), aufgrund von erhobenen Belegen oder will ich
getreu einer normativen Betrachtungsweise eine Empfehlung von
'Experten', denen ich aufgrund ihrer anerkannten Autorität vertraue?
Das schließt sich nicht gegenseitig aus, und wenn beide Seiten ihren
Job gut erledigen, werden sie zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Die
Duden-Grammatik mit ihrem deskriptiven Selbstverständnis verweist immer
darauf, was nach ihren Befunden als standardsprachlich einzuordnen wäre.
Diese Ergebnisse kann ich im DaF-Unterricht zur Norm machen, und das tue
ich auch. Manche verunsichert jedoch der Verweis auf andere, vor allem
'niedriger' bewertete stilistische Möglichkeiten, oder sie lehnen sie
emotional ab und sowas wollen sie in einer Beschreibung der deutschen
Sprache am liebsten gar nicht haben. Für die muss man dann vielleicht
eine um alle Anstößigkeiten, Jargons, Umgangssprache und Regionalismen
bereinigte Form von Grammatik als jugendfreien Auszug aus dem Gesamttext
anbieten, so wie in der amerikanischen Popmusik als 'non-explicit' bei
den 'lyrics' üblich.
Natürlich arbeite ich auf der Grundlage von gedruckten Grammatiken,
warum sonst zitiere ich sie immer wieder. Sie sind mein tägliches Brot.
Ich lerne ihre Einsatzmöglichkeiten kennen. Ich bin dabei, mir ein
Urteil über sie zu bilden. Es gibt besser und schlechter einsetzbare.
Meinen Kollegen beim Unterrichten ist das egal, sie unterrichten, was
sie im Lehrbuch finden und sind an sprachlichen Problemen wenig interessiert. Im Unterricht selbst muss ich auftretende Fragen oft
spontan beantworten, nicht immer weiß ich sofort die 'gute' Antwort.
Aber ich trainiere, auch hier in desd, und ich werde langsam besser.
Beim Nachlesen zu Hause sehe ich vielleicht, dass meine Erklärung falsch
war. Wenn es wichtig ist, stelle ich das am nächsten Tag richtig.
Es gibt ein paar neuralgische Punkte, bei denen ich an der sprachlichen
Realität der Lebensumwelt vorbei unterrichte. Praktisch alle sagen hier
im Alltag immer wieder 'ich geh nach Aldi', der Standard verlangt aber
'ich gehe zu Aldi', also eine andere Präposition und die vollständige
Verbendung. Die TN haben bereits ein Gefühl dafür, dass alltagssprachlich
ein paar Dinge anders laufen, als sie im Unterricht lernen. Bei den
Ortsangaben ist es besonders schwer, auf korrekten Lösungen zu bestehen:
ich gehe/fahre zu Klaus, zu Lidl, zur Polizei, zum Jobcenter, nach
Bottrop, in die Türkei, in die Stadt, nach Polen, zur Schule, in die
xyz-Schule, aufs Gymnasium, auf den Markt, zum Anwalt, ins Krankenhaus,
zum Krankenhaus, zur Post (auf die Post), auf den Zug usw. Da kommen
drei Probleme zusammen: Genus des Nomens, mit oder ohne Artikel, welche Präposition (mit ggf. welcher Nebenbedeutung)? Nimmt man dann noch die
statischen Ortsergänzungen mit 'ich bin da und da' hinzu, hat man wieder
andere Präpositionen und einen anderen Kasus. Das ist für die TN
frustrierend. Einzige Hoffnung: Durch vieles Hören und Nachplappern
schleift sich das irgendwann ein. Nur wann? Die TN haben zu wenig authentische Sprachkontakte, und wenn sie ihr Dschungeldeutsch auf die
Menschheit loslassen, werden sie nicht korrigiert. Das sind etwa ganz
praktische Probleme, stattdessen unterhalten wir uns hier über Gender-
Fragen (muss man nicht sagen 'zum Arzt oder zur Ärztin oder in die
allgemeinmedizinische Praxis gehen?') und über sich heftig aufrollende
wenn nicht sogar wie Popcorn wegploppende Fußnägel beim hier tagtäglich
zu hörenden Ruhrgebiets-OT 'ich geh nach Karstadt'.
Gruß Ralf Joerres