michel thomas
unread,Feb 1, 2020, 5:12:04 PM2/1/20You do not have permission to delete messages in this group
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Die Kurklinik
K.‘s Kinder Anton und Aida versuchten wie verrückt, irgendeinem
herumirrenden Patienten den Rollator wegzunehmen, um damit durch die Gänge
zu rollern. Der Vater wollte dies verhindern, indem er den Kindern
hinterherrannte,
während seine Frau, die Stöpsel ihres i-Pods in den Ohren, ein endloses
Befragungsformular über die Lebensgewohnheiten ihres Mannes ausfüllen
musste, weil er es aufgrund seiner Müdigkeit nicht hinkriegte.
Der Vater rannte also mit aller letzter Kraft auf den Patienten los, um
ihn vor den Kindern zu erreichen, aber diese erwiesen sich als schneller.
Und schon hingen sie mit ihrem ganzen Gewicht am Rollator. Der
Patient, erschrocken, klammerte sich an den Rollator. Die Kinder zogen
daran.
Nun war es wie ein Jahrmarkt-Tauziehen, die Kinder auf der einen,
der Patient auf der anderen Seite.
Dem Patienten quollen die Adern auf den eingefallenen Schläfen, zog er
auch so stark er
konnte, die Kinder zogen stärker. Alle drei bewegten sich ziehend, zerrend
und schreiend auf den müde wankenden Vater zu, der, in seinem
zerknitterten Sakko - vom vergeblichen Liegen des Mittags auf drei
zusammengeschobenen Kunststoffstühlen, der Schlaf hatte sich natürlich
nicht einstellen wollen - aussah, wie der Herr Jesus ausgesehen haben mag,
nach seinem Gang über das Wasser.
Geschickt wich er zu Seite, stolperte vorwärts, um nach acht oder zehn
weiteren Versuchen, seinen Gang aufrecht zu halten, endgültig auf den
plötzlich frei gestoßenen Rollator zu stürzen, wobei er sich beide
Daumen brach.
"Caesar, Caesar - in seinem Kolosseum in Rom." sagte er zu sich, und dann
wurde er gleich von zwei Pflegern abgeführt.
Die Kinder lachten zufrieden. Der Patient saß später mit ihnen
und seiner Frau auf Hockern, kleinen, weißen Würfeln aus Plastik, an
einem der quadratischen Tische und zusammen spielten sie
Mensch-ärgere-dich-nicht.
"Hat /der/ das Mensch-ärgere-dich-nicht erfunden ?" fragte die kleine Aida
und zeigte mit dem Finger auf das Bild eines Mannes auf der
Spieleschachtel aus Pappe, der sich mit einer Hand die Haare raufte.
"Nein.", sagte die Mutter, und strich sich eine Strähne aus der Stirn,
"Nein,
/der/ hat es bestimmt nicht erfunden."
- Auf Station -
Die Klinik, die, von Seiten- und Querflügeln und schmalen Gängen
durchzogen, von außen betrachtet durch die modernistische Bauweise wie
ein untergegangener, auf dem Meeresgrund liegender Ozeanriese aussah,
schon allein wegen all der Balkonkästen mit verdorrten Balkonpflanzen
aller Art, war bekannt dafür, dass hier jeder sein eigenes Zimmer
erhielt, so er es denn wirklich wollte.
K.‘s Daumen schmerzten noch, beide Hände in Gips, so war sein Leben in
diesen Mauern zu einer Pflanze geworden, auf die wohl niemand einen
Pfifferling mehr gesetzt hätte.
"So, bitteschön, der Herr, Ihr Zimmer. Ihr Gepäck wird später zu Ihnen
hochgebracht, wenn es fertig durchleuchtet ist."
Das Zimmer hatte die Nummer 1005, der Türgriff aus gerundetem Edelstahlrohr
ließ sich nur schwer herunterdrücken, konnte K. doch nur seinen Ellenbogen
dazu gebrauchen.
"In der Ellenbogengesellschaft, da haben sie alle gebrochene Daumen", dachte
er, als er gegen die immense Kraft einer Türschließfeder die Tür
aufdrückte. Gleich nachdem er den winzigen weiß gestrichenen Raum
betreten hatte, knallte die Tür hinter ihm wieder zu. Einzig das an der
Wand stehende Bett zog seinen Blick noch auf sich, und schon hatte er sich,
noch beschuht, auf das Bett geworfen und war einige Minuten später endlich
entschlummert.
Ihm war, als sei er erst vor Sekunden eingeschlafen, da riss ihn ein
kräftiger Ruck wieder hoch. Und noch einer: Das ganze Bett bewegte sich
Ruck für Ruck auf die Wand zu, in der es anscheinend verschwand. Schnell
begriff er, dass dieses Bett eigentlich ein Doppelbett war, und dass jemand
auf der anderen Seite der Wand, der den hälftigen Anteil an dem Bett inne
hatte, ruckweise daran zog, um es ganz allein zu besitzen. Das Bett war
schon fast
im Nebenzimmer verschwunden, da kam ihm eine Idee: er stellte seinen
Fuß in die Lücke zwischen Bettpfosten und Wand, und nun konnte der
Nachbar daran ziehen wie er wollte - zur Gänze würde er es jetzt nicht
mehr in Besitz nehmen können, und ihm verblieben immerhin fast zwanzig
Zentimeter Bettbreite, die er sofort eingenommen hätte, wäre es ihm
nur gelungen, mit seinem Fuß aus dem Schuh herauszukommen.
"Herr K., Ihr Koffer!", klopfte es an der Tür.
- Die Verwaltung -
Seit drei Wochen hatte man K., der - gefangen in seinem Schuh - nunmehr
auf der Erde lag, nirgends vermisst. Frühstück, Mittag- und Abendessen
hatte das Personal unter sich aufgeteilt, wie immer, und der Alltag
hatte alle fest im Griff.
Klemm von der Kurbetriebsverwaltung hielt einen Brief der
Postbeamtenkrankenkasse in der Hand, und vor ihm stand ehemalige
Stabsoberarzt Friedrichs, dem er eröffnete, ein gewisser K. sei wohl
Patient im Hause, und man müsse ihn noch heute entlassen, da sein Budget
kassenseitig schon seit drei Tagen aufgebraucht sei.
Als man K. in seinem Zimmer fand, wussten alle Beteiligten sofort, dass man
K. nicht so einfach würde loswerden können. Besonders nicht als gesund
entlassen, da er ja nicht mehr lebte. So beschloss man, um den guten Ruf
des Hauses zu wahren, den toten K. in seinem Zimmer zu beerdigen, also
einzumauern, und Gras über die Sache wachsen zu lassen. K.‘s Frau und die
Kinder konnten ihn ruhig suchen, sie würden ihn ja nicht mehr finden.
Überdies konnte ja K. ganz einfach aus der Klinik entkommen sein, denn
immerhin hatte ihn hier so gut wie niemand gesehen.
In der Kurbetriebsverwaltung schrieb man derweil in etwas mehr als drei
Minuten unter Verwendung eines Office-Paketes K. eine Rechnung für die drei
überzähligen Tage, die sich gewaschen hatte und durchaus bezahlt werden
musste.
- Die stummen Kinder -
Klemm stand am Fenster seines Büros im fünften Stock der Klinik. Seiner
Klinik. Wie viele Zimmer hatten sie schon verloren an solche Patienten
wie diesen K.? Manche Korridore besaßen nur noch sehr vereinzelt Türen.
Die verschwundenen Türen waren so geschickt zugemauert und die Wand
anschließend so perfekt mit der im ganzen Hause üblichen scheuer- und
abriebunempfindlichen Kunststofftapete verkleidet worden, dass man sich
schon wunderte, wenn man eins der verbliebenen kleinen Zimmer betrat,
und sich fragte, was sich hinter den langen, türlosen Mauern wohl noch
verbergen würde.
Klemm sah runter auf den Parkplatz, wo vier Jungs Fangen spielten. Der eine,
hinter dem sie her waren, war kleiner als die anderen. Endlich hatten
sie den kleinen
Jungen an die Mauer gedrängt, die den Parkplatz begrenzte. Klemm öffnete
das Fenster, das das fahle Sonnenlicht reflektiert hatte, um besser sehen
zu können, und lehnte sich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett. Ihm
fiel auf, dass die Jungs nichts sagten, kein Wort kam über ihre Lippen.
Einer der drei größeren schlug nun auf den kleinen ein, der daraufhin
noch tapfer einen Fluchtversuch unternahm, der bewirkte, dass nun auch die
beiden anderen auf ihn einprügelten. Bis auf das leises Stöhnen bei
empfangenen Schlägen und die Atemgeräusche aller Beteiligten - kein
Schrei, kein Wort.
Konnte es sein, dass hier drei Stumme einen weiteren Stummen
verprügelten? Klemm dachte nach und erinnerte sich dunkel, dass es wohl
eine logopädische Abteilung in der Klinik gab, vor Zeiten. Aber ihm war
so, als habe man diese längst aufgelöst. Und Stumme, was war mit denen?
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als nun einer der drei großen Jungs
ein seltsames, langes Messer zog und damit dem kleinen vor den Augen
herumfuchtelte. Klemm drehte sich um und griff nach dem Mobilteil seines
Telefons. Schnell wählte er den Notruf, aber alle Plätze waren im Moment
leider belegt. Dazu spielten sie die Titelmusik einer alten amerikanischen
Krimiserie, in der ein glatzköpfiger Polizist, der permanent kleine
Lutscher
lutschte, die Hauptrolle spielte.
"Entzückend, Babe... ", dachte Klemm und schloss das Fenster.
- Das MRT -
Walter, der Hausmeister und Mädchen für alles, sollte eine der großen
Industriewaschmaschinen zu einem behelfsmäßigen MRT umbauen. Und wenn
ihm dies auch nur halbwegs zufriedenstellend gelungen wäre, hätte er
dennoch kein Lob Klemms erheischen können, so schrecklich hässlich wie
er war, mit seinem zerzausten Bart, dem fast zahnlosen Mund und dem
löchrigen, mit Flecken übersähten grauen Kittel. Mit seinen 54 Jahren
noch immer Praktikant, war er aber stets ebenso optimistisch wie
schlecht gelaunt an jegliche Aufgabe herangegangen, vom Zumauern von
Zimmertüren über das Putzen des von periodisch wiederkehrenden
Überschwemmungen heimgesuchten Kellers bis zur Modifizierung der
gängigsten Medizintechnik. Nun war es also der Ersatz des maroden MRTs
durch diese Waschmaschine.
„Hauptsache, es dreht sich was, und man kann eine Bahre
hineinschieben.“, hatte Klemm verlangt. „Das Ergebnis der Untersuchung
soll von der Rolle gedruckt aus einem Schlitz links oben kommen. Also in
etwa da, wo normalerweise das Waschpulver reinkommt.
„Soll der Patient sich mitdrehen oder nicht?“, fragte Walter.
Klemm dachte nach, ob sich in dem alten MRT die Patienten irgendwie
drehten. Wohl kaum, denn sie waren auf der Bahre festgeschnallt. Doch in
dieser fixierten Position hätten sie sich durchaus mitdrehen können,
wenn sich etwas gedreht hätte. Aber alle sich drehenden Teile des MRTs
waren kunstvoll hinter Verkleidungen versteckt, denn wenn der Patient
den großen, um ihn herum rotierenden Elektromagneten gesehen hätte,
würde ihn bodenlose Angst ergriffen haben.
„Ich weiß nicht. Machen Sie halt. Wir werden sehen.“
Anne, die kleine Brünette aus dem Zwischengeschoss, näherte sich Walter,
und tippte ihm, der mit dem Kopf in der Maschine steckte, auf die
Schulter. Walter zog seinen Kopf aus der Trommel, er wusste ja, was nun
wieder passiert war: Fäkalienrohr gebrochen und Keller überschwemmt.
Anne, die immer als erste alle Neuigkeiten erfuhr, und ihr fast schon
zum Ritual gewordenes Verhalten, dem Walter dann auf die Schulter zu
klopfen...
Die Überschwemmung des Kellers mit Fäkalien hatte Priorität vor allem
anderen. So musste auch jetzt wieder der Bau des MRTs auf unbestimmte
Zeit unterbrochen und statt dessen der Keller mit dem Eimer ausgeschöpft
werden. Zuvor musste das Rohr provisorisch geflickt werden, und bis das
getan war, durfte niemand im Hause die sanitären Anlagen benutzen. Aber
wer hielt sich schon auf Dauer daran?
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