Eine Nacherzählung
Der tapfere Soldat
Einmal fiel mir ein Märchen ein, nur unvollständig - will sagen, das
muss ich mal gelesen haben. Ich weiß nicht mehr, wann und wo - und ich
kann es auch nicht gut erzählen. Einmal - das ist viele, viele Jahre her
- habe ich es in einem Brief an einen Maulwurf (oder eine Maulwürfin) zu
schildern versucht. Sie hat nichts darauf geantwortet. Es ging ungefähr so:
Es war einmal ein tapferer Soldat. Als der Krieg zu Ende war und er
heimkehren durfte, traf er in seiner Heimat ein schönes, kluges Mädchen
und verliebte sich sehr in es. Sie schien oft traurig. Er begann, ihr
den Hof zu machen, und anfangs schien es ihm, als machte sie ihm
Hoffnung. Er schrieb ihr lustige Geschichten, um sie aufzumuntern. Doch
blieb sie immer ein wenig schnippisch. Er schrieb ihr Gedichte und
schickte ihr Blumen, und manchmal schenkte sie ihm ein huldvolles
Lächeln. Aber eines Abends trat sie auf den Balkon an dem hohen Turm, in
dem sie wohnte, und rief zu ihm hinab: "Was willst Du von mir? Du bist
doch nur ein dummer, einfacher, einfältiger Soldat. Was hast Du denn,
was kannst Du denn? Was willst Du mir bieten? Warum sollte ich dich
lieben oder gar heiraten?"
"Ach Liebste!" rief der Soldat zu ihr hinauf, "Ich liebe dich so
aufrichtig. Und ich will alles für dich tun, dich in Ehren halten, dir
treu sein und mich bilden ... und ich werde ein Handwerk erlernen und ..."
Sie sah lange und wortlos in der Dämmerung zu ihm hinunter, und
schließlich rief sie: "Höre, Soldat, wenn du ein Jahr lang unter meinem
Fenster Wache hältst, Tag und Nacht, und nicht einen Tag versäumst, wenn
du immer da unten für mich da bist ... dann werde ich dich heiraten!
Aber so lange wirst du mich nicht sehen und kein einziges Wort von mir
hören!"
Da wurde der Soldat froh und glücklich, er willigte ein und bereitete
sich vor. Er wußte, es würde eine harte Prüfung sein, aber er wollte sie
tapfer auf sich nehmen. Denn er war ja ein tapferer Soldat.
Also hielt er Wache, Tag und Nacht, bei Sonne, Wind, Regen und Sturm,
Schnee und Hagel, unverdrossen. Freunde brachten ihm zu essen und zu
trinken, denn er durfte ja keinen Moment von der Stelle weichen. Im
Frühjahr ging es ihm gut. Im Sommer litt er, denn es gab keinen
Schatten, aber er ließ sich nicht entmutigen. Jeden Abend sah er das
Licht im Fenster seiner Prinzessin, und manchmal bemerkte er, wie sie
heimlich hinter dem Vorhang hinuntersah, um zu prüfen, ob er noch da sei.
Es kam der Herbst, und es stürmte, und dem Soldaten ging es nicht mehr
gut, er wurde krank und stapfte mühsam durch die welken Blätter. Sie
waren feucht und gaben kein warmes Nachtlager. Aber er ließ sich nicht
beirren, hielt Wache Tag und Nacht, und manchmal blickte er hinauf, ob
seine Angebetete wohl nach ihm sah. Er überstand seine Krankheit,
vielleicht gab ihm die Hoffnung Kraft dazu. Und dann kam die schlimmste
Zeit, der Winter, er fror erbärmlich und konnte sich nur mit letzter Not
am Leben halten. Er schritt auf und ab, morgens, mittags, abends, die
ganze Nacht, und drohte bald zu erfrieren. Aber er überstand den Winter,
und ein neues Frühjahr kam, die ersten Blumen sprießten und die Sonne
wärmte ihn am Tag und die Nächte wurden milder. Und er zählte die Tage
und Nächte, wie das ganze Jahr schon, doch nun immer ungeduldiger. Und
es kam der letzte Tag, die letzte Nacht. Er sah hinauf zu ihrem Fenster,
bemerkte den Lichtschein und sah den Schatten ihres hübschen Köpfchens,
wie sie nach ihm Ausschau hielt. Es ging ihm wieder gut, er hatte Kräfte
gesammelt, und die Stunden dieser letzten Nacht vergingen wie im Fluge.
Und dann, im Morgengrauen, als seine Angebetete noch schlief, drehte er
sich um und ging weg. Er hinterließ keine Botschaft, und das Mädchen sah
ihn nie wieder.
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Johannes Leckebusch - AR3
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