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Kein Text ist so gut, dass man ihn sich nicht mehr vornehmen müsste

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O.K. Kult

unread,
Mar 12, 2019, 1:52:36 PM3/12/19
to
CÄSAR VIERZEHN IST FREI

»Gimmirdaigeld, gimmirdaigeld, deine Kette, deine Uhr, gimmirdaigeld,
gimmirdaigeld, deine Jacke, deine Schuhe, gimmirdaigeld, gimmirdaigeld,
gib mir alles, was du hast, und ich zieh dich ab zum Spaß ...
Wir kommen aus Freiburg, representen unsere Stadt, unsere Straßen,
unsere Viertel und die Homies aus dem Block. Wir leben in Freiburg,
neben Türken, Albanern, Arabern, Afrikanern, Zigeunern, Russen und
Bosniern. Wir rappen von Freiburg, weil das Leben hier hart ist. Jeder
gegen jeden, kein Vertrauen, wie bei H-Junkies. Fickst du mit Freiburg,
wirst du platt gemacht. Fünf aufs Maul, du Napf, von allen Seiten der
Stadt. Freiburg. (Don't play with these kids ...) Freiburg ... Freiburg
... (Don't play with these kids ...).«

Zitat aus dem Rap: »GimmirdaigeldFreiburg«, der »Rapkillaz« (Ren da
Gemini), deren Wiege in Freiburg-Weingarten stand, einem sozialen
Brennpunkt.

Damals gab es noch keine GPS-Überwachung im Taxigewerbe und
Schwarzfahrten (von uns im Alemannischen „Gettis“ genannt) waren eher
die Regel als die Ausnahme. Die ganze Kommunikation spielte sich noch
per Sprechfunk und nicht lautlos über Textnachrichten auf Displays ab.
Damals war noch Leben in der Bude. Mhm ... Eigentlich auch nur bedingt,
denn wenn es stimmt, dass Taxifahrer vom Trinkgeld leben, dann steuerte
an jenem Tag das Taxi »Cäsar Vierzehn« eine Leiche. Ich hatte mal wieder
die goldene Arschkarte gezogen. Als erstes Ahmed, Samir und Latif im
Asylbewerberheim abholen und auf Rechnung der Stadt Freiburg zur Schule
bringen. Danach Frau Jost bei der »Kita für Demenzkranke«,St. Johann, in
der Kirchstraße abliefern.

»Sind sie der neue Fußpfleger?«
»Nein, Frau Jost! Ich bin nicht der neue Fußpfleger. Ich bin der
Taxifahrer.«
»Ah, haben Sie sich jetzt doch für das entschieden?«
»Ja, ich fahre lieber Taxi als Zehennägel zu schneiden.“
»Wohin fahren wir denn?"
»Wir fahren zur Tagespflege.«
»Meine Mutter war Hebamme!«

Das erzählte sie mir auf jeder Fahrt.

»Ich weiß, Frau Jost. Ich weiß!«
»Das ist ein verantwortungsvoller Beruf!«
»Ich weiß.«

»Ich weiß! Ich weiß! Ich weiß! Nichts wissen Sie. Nichts! Nichts!
Nichts! wissen Sie!«

Frau Jost wurde aggressiv. Zum Glück bogen wir schon in die Kirchstraße
ein. Ich lieferte meinen Fahrgast ab und drückte den Funkknopf:

»Cäsar Vierzehn ist frei.«
»Cäsar Vierzehn?«
»Vierzehn hört.«
»Hol bitte Uwe!«

Uwe, der Kappenklatscher ... Noch so ein Härtefall! Uwe schraubte in der
Caritas- Werkstatt morgens irgendwelche Teile zusammen, die er dann
nachmittags wieder auseinandernahm. Die Arbeit war ihm wichtig. Er litt
unter der krankhaften Angst, unpünktlich zu sein, und fragte alle
zwanzig Sekunden nach der Uhrzeit. Zwischen den Fragen drehte er ständig
seine Baseballkappe um 180 Grad und schlug sich dann mit der flachen
Hand kräftig drauf. Das nervte ungemein, besonders, wenn man davor schon
das Vergnügen mit Frau Jost hatte. Ich durfte also wieder mal Uwe in der
Caritas-Werkstatt abliefern.

»Wie viel Uhr ist es?«, fragte er mich zum fünften Mal.
»Kurz vor Acht!«
Drehung ... KLATSCH!
»Wie viel?«
»Acht.«
Drehung ... KLATSCH!
»Wie viel Uhr ist es?«
»Eine Minute nach Acht!«
Drehung ... KLATSCH!
»Wie viel?«

Ich hatte genug!

»Verdammt noch mal, Uwe, du kommst auf jeden Fall viel zu spät. Du wirst
sicher gefeuert! Die schmeißen dich gnadenlos raus! Den Job bist du los.«

Uwe schluckte und sah mich entsetzt, mit weit aufgerissenen Augen an.
Dann ging es los: Drehung ... KLATSCH! Drehung ... KLATSCH! Drehung ...
KLATSCH! Drehung ... Uwe überlegte es sich anders, rationalisierte die
ganze Aktion und beschränkte sich abrupt nur noch aufs Kappenklatschen.
Bis zur Ankunft an der Caritas-Werkstatt verstand ich vom Funkverkehr
kein einziges Wort mehr. Dort angekommen, riss Uwe die Tür auf, hechtete
panisch aus dem Auto und hetzte im Schweinsgalopp zu seinem
Arbeitsplatz. Ich atmete tief auf. Zu früh!

»Cäsar Vierzehn ist frei!«
»Cäsar Vierzehn?«
»Vierzehn hört.«
»Weddigenstraße 5, Kindler. Bitte behilflich sein!«, dröhnte es aus der
Büchse der Pandora Ausgerechnet Kindler, der Mann mit dem hoffnungslos
fortgeschrittenen Krebs, der sogar mit Rollator kaum noch laufen konnte.
Fahrzeit von der Weddigenstraße bis zur »Tubi« - der Tumorbiologie -
fünf Minuten. Zeitaufwand insgesamt eine gute halbe Stunde. So paradox
es klingt, die Tatsache, dass Herr Kindler ein sehr sympathischer und
tapferer Mann war, kam erschwerend hinzu. Seinen rapiden Verfall zu
verfolgen, ließ weder mich noch die meisten meiner Kollegen kalt. »Cäsar
Vierzehn, kam der Auftrag an?« Ich bestätigte seufzend und fuhr los, in
der Hoffnung, dass es nach dieser Horror-Serie nur noch besser werden
könnte. Ich bog in die Weddigenstraße ein und stellte erfreut fest, dass
direkt vor dem Eingang der Nummer 5 ein Platz frei war. Ich klingelte
bei Kindler und als sich nach einer gefühlten Viertelstunde der
Türsummer endlich meldete, stieß ich die Tür auf und ging in den zweiten
Stock hinauf, um den Rollator zu holen und gleichzeitig Herrn Kindler
die Treppe hinunter zu helfen. Der Mann sah grauenhaft aus.Seine fahle
Gesichtsfarbe ließ mich zusammenzucken. Letztens war bei einem Kollegen
ein Dialysepatient im Fahrzeug gestorben, und vor so etwas hatte ich
einen Riesenbammel.

»Hallo Herr Kindler, wollen wir wieder mal?«
Herr Kindler versuchte ein Lächeln.
»Von wollen kann leider keine Rede sein.«

Er hatte ja völlig recht! Ich schwieg. Wir verstanden uns auch ohne
Worte. Das Schweigen auf der Fahrt bis zur Tubi hatte nichts
Beklemmendes. Ich hatte eher den Eindruck, dass wir es beide als
angenehm empfanden. Ich begleitete Herrn Kindler bis zur Anmeldung und
rauchte noch eine vor dem Eingang der Tumorbiologie. Danach ging ich zu
meinem Taxi und meldetet der Zentrale:

„Cäsar Vierzehn ist frei!“

Das hätte ich besser sein lassen!

Der nächste Auftrag war vom Feinsten, er führte mich in den Stadtteil
Weingarten, ins »Gipsy«. Im Gipsy wurde »Sperrstunde« als die Stunde
definiert, in der man die Eingangstür absperrte, um ungestört bis in den
späten Vormittag zocken zu können. Es ging oft um hohe Geldbeträge, und
die brisante Mischung der Zocker aus Zigeunern, Italienern, Russen und
Albanern sorgte dafür, dass nie Langeweile aufkam. Jeden zweiten Tag gab
es eine ordentliche Schlägerei, und ich hatte schon öfter einen der
üblen Verdächtigen mit einem Blutwurstgesicht und gebrochenem Nasenbein
in die Klinik gefahren, damit er nach »seinem heftigen Sturz« verarztet
werden konnte. Rico, der von sich selbst behauptete, der schönste
Zigeuner Deutschlands zu sein, hatte zwar kein frisch gebrochenes
Nasenbein, aber dafür einen gewaltigen Glimmer im Gesicht. Das
bedeutete: langwieriges, zähes Feilschen um den Fahrpreis - Fahrstrecke
fünfhundert Meter Luftlinie. Eine Viertelstunde später, nachdem das
geregelt war (Fünf Euro, wie immer), trank er erst in aller Seelenruhe
sein Bier aus, bevor er endlich zum Taxi torkelte und äußerst
zeitraubend einstieg. Ich fuhr los und wich im letzten Moment einem
mitten auf der Straße liegenden, leeren Einkaufswagen aus. Durch das
plötzliche Manöver übersah ich dabei fast einen halb nackten von oben
bis unten tätowierten Radler, der mir, »Kurwa!, Kurwa!« brüllend den
Stinkefinger zeigte. Da ich Ricos Aufforderung: »Ramm den Dinelo!«, nach
kurzem Zögern ignorierte, richtete sich seine Aggressivität gegen mich.
Doch das war noch nicht das Schlimmste, er fing an zu würgen, und ich
musste damit rechnen, dass der Gau eines Taxifahrers drohte. Ich hielt
am Straßenrand an und öffnete an seiner Seite das Fenster.

»Kotz mir bloß nicht ins Auto, Rico!«
»Ich kotsch dir gleich in dein ... scheiß Aldi-Hemd, du Wichser!«

Das reichte! Die Fahrt war zu Ende. Ich ging zu Ricos Seite, öffnete die
Tür und zog den schönsten Zigeuner Deutschlands, der zum Glück so voll
war, dass er nicht wirklich gefährlich werden konnte, am Kragen aus dem
Auto. Und schon wieder hieß es: „Cäsar Vierzehn ist frei!“

Leider!

Auftrag Nummer sechs: »Hol gleich die Doppeldrei für Sigi«, war auch
kaum besser. Sigi, genauer gesagt: Siegfried Brauner, hatte den
passenden Nachnamen. Für uns Fahrer war er der »Hochhaus-Nazi«.

»Zentrale für Cäsar Vierzehn!«
»Zentrale hört.«
»Muss das sein? Einkaufen für den Hochhaus ...«
»Bitte die Funkdisziplin einhalten. Keine Diskussion!«

Was blieb mir also übrig?

Ich kurvte zurück, zum Einkaufszentrum in der Krozinger Straße, stellte
mein Taxi ab, schlug auf die Glocke und ging in den Lidl. Dort kaufte
ich drei Flaschen Sidi Brahim, Sigis üblichen, algerischen Rotwein und
im Tabakladen nebenan, drei Schachteln Gauloises ohne Filter. Sigi war
lange in der Fremdenlegion gewesen und schien sich vorwiegend von Sidi
Brahim und Gauloises, »der Doppeldrei«, zu ernähren. Immerhin verdankte
er der Legion eine ordentliche Rente. Jeder in dem Hochhaus kannte Sigi
als einen extremen Rassisten und Nazi, aber der Kerl war fast so breit
wie hoch, und hoch war er knapp zwei Meter. Er musste geduckt und leicht
seitwärts durch den Eingang seines Wohnklos gehen. In der Kombination
mit seiner Vergangenheit sicherte ihm seine furchteinflößende
Erscheinung das Überleben auf feindlichem Territorium. Wenn er im Aufzug
stand, warteten seine ausländischen Nachbarn auf den anderen.

Ich hatte also die Doppeldrei für den Hochhaus-Nazi besorgt und so fuhr
ich die hundertfünfzig Meter bis zum Haus Nr. 78. Im Erdgeschoß nahm ich
von den zwei Aufzügen den rechten. Schon wieder ein schwerer Fehler! In
dem versifften Aufzug, mit der flehenden Bitte unter dem Logo der Antifa
an der einen Wand: »Liebe Ausländer, lasst uns nicht mit diesen
Deutschen allein« und der nicht zu widerlegenden Behauptung an einer
anderen: »Ficken macht Freude!«, stank es nach Pisse. Das kostete Sigi
fünf Euro Zuschlag auf den Fahrpreis. Im zwanzigsten Stockwerk stieg ich
aus und klingelte bei »Reichsbürger Brauner«.

»Ah, zur Abwechslung mal wieder ein altdeutscher Taxifahrer!
Nicht nur alt, sondern tatsächlich auch noch deutsch. Hahaha!«

»Sehr lustig, Sigi. Wirklich lustig!«

»Euer Itzig am Funk, hat mir doch letztens tatsächlich Kunta Kinte
geschickt, obwohl er genau weiß, dass ich den Kerl nicht ausstehen kann.«

»Dajan ist ganz okay!«

»Blödsinn! Ich bin völlig sicher, dass mich der Angebrannte beschissen
hat. Was kriegst du von mir?«

»39,40.«

»Was!? Da war ja sogar Othello billiger.«

»Seit wann fährt der denn auch bei uns? Egal, du vergisst die Wartezeit,
Sigi. Wir müssen ja auf die Glocke hauen, bevor wir in den Lidl gehen.
Die hatten nur eine Kasse offen, und vor mir waren etliche Ausländer.
Wie viel die auf unsere Kosten in ihre Einkaufswagen laden, weißt du ja
selber.«

»Da ist allerdings was dran. Scheiß Kanaken!«

Sigi zahlte, rundete großzügig auf - von 39,40 Euro auf 39,50 - und das
erste nennenswerte Trinkgeld, in Form des Zuschlags, von dem der geizige
Kerl keine Ahnung hatte, rückte meine Weingarten-Tour wieder etwas mehr
in den grünen Bereich. Bedauerlicherweise nur ganz kurz!

Das Elend ging weiter. Ich sollte im
Multikulturellen-Begegnungszentrum-Weingarten Fahrgäste aufnehmen. Es
war mühsam genug den fünf Negern klarzumachen, dass ich maximal vier
Personen mitnehmen könne, auch wenn einer von ihnen bereit wäre, auf dem
Schoß eines anderen zu sitzen. Als sie aber noch die Bedingung stellten,
ich solle auch an jeder roten Ampel die Uhr stoppen, bis die wieder
freie Fahrt geben würde, platzte mir der Kragen. Ich ließ sie stehen,
drückte den Funkknopf und meldete der Zentrale:

»Fehlfahrt!«.

Zum Ausgleich durfte ich gleich wieder Ahmed, Samir und Latif an der
Mooswald-Schule abholen. Im Anschluss, in der Tubi, Herrn Kindler, der
seinen Chemo-Cocktail geschlabbert hatte. Herr Kindler war fürchterlich
wacklig und sah beschissen aus. Wieder einmal fragte ich mich, warum er
sich noch der Tortur einer ambulanten Chemo aussetzte. Nachdem ich
Kindler und seinen Rollator wieder in den zweiten Stock geschleppt
hatte, war ich völlig platt - reif für eine Pause. Ich meldete mich vom
Funk ab und holte mir einen Becher Kaffee. Nach der Pause folgten noch
ein paar kurze Fahrten im Innenstadtbereich, über die es nichts zu
berichten gibt und drei schnelle Gettis, über die ich nichts Näheres
berichten will.

Zwei Stunden später lehnte ich mich, schon auf Feierabend eingestellt,
an mein Taxi und genoss die milde Herbstsonne. Wir hatten einen
Altweibersommer wie im Bilderbuch. Typisch für Freiburg, das an solchen
Tagen seine Schokoladenseite zeigte. Ich verspürte nicht die geringste
Lust den Funkauftrag: »Hotel Colombi, für Rosenbaum«, auszuführen, zumal
die Gäste des Fünfsternehotels für ihre Arroganz und ihren Geiz,
berüchtigt waren.

Mein Fahrgast, Mitte Siebzig, eine Dame, Designerschuhe (vermutlich
Sergio Rossi), elegantes, sehr geschmackvolles Kostüm, Louis
Vuitton-Täschchen und silbergraues Haar, dessen Farbe und Schnitt sofort
verrieten, dass dort ein Meister seines Faches am Werke gewesen war,
erfüllte meine Erwartungen voll. Als ich ihr etwas unkonzentriert die
Beifahrertür öffnete, sagte sie sehr kühl und distanziert, in
ausgezeichnetem, fast akzentfreiem Deutsch:

»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich gerne hinten sitzen.«
»Ganz wie Sie wünschen.«
»Zum ... Judenfriedhof, bitte.«

Die Fahrt zum Judenfriedhof, in der Elsässerstraße, verlief schweigend.
Für mich war die Acht-Euro-Dreißig-Fahrt schon abgehakt, doch die Dame
bat mich zu warten. Ich meldete der Zentrale: »Stadtfahrt«, stieg aus
und zündete mir eine Zigarette an. Nach zwei weiteren, kam mein Fahrgast
zurück. »In die Belfortstraße 26, bitte.«

Damit war auch bis zu diesem Fahrtziel alles gesprochen. Bei der
Belfortstraße 26 handelte es sich um ein unscheinbares, sogar ein wenig
heruntergekommenes Mehrfamilienhaus, direkt gegenüber der
Universitätsbibliothek Ich fragte mich noch, was ein Fahrgast vom
teuersten Hotel der Stadt in diesem alten Kasten wollte, als die Dame
schon selbst die Tür öffnete und mit einem Fotoapparat in der Hand
ausstieg. Sie ließ mir nicht viel Zeit zum Nachdenken, schoss nur drei
oder vier Bilder und kam dann gleich zurück.

»Zum Colombi?«
»Nein, ich fliege morgen zurück und möchte noch einige Eindrücke vom
gegenwärtigen Freiburg mitnehmen.«

Aha, Madame geruhen doch mit den unteren Chargen zu parlieren.

»Schwerpunkt Innenstadt?«
»Beginnen wir mit dem Platz Der Alten Synagoge, und dann sehen wir weiter.«

Ich schaute verstohlen auf den Ticker: € 48,70, IMMERHIN!, setzte den
Blinker und bog nach links ab, in den Werderring, zum Platz Der Alten
Synagoge, Entfernung einhundert Meter Luftlinie.

»Soll ich hier halten?«
»Nein danke! Fahren Sie einfach weiter.«

Das wunderte mich nicht, am Platz Der Alten Synagoge gab es eigentlich
nichts zu sehen. Die Synagoge brannte in der »Reichskristallnacht« bis
auf die Grundmauern runter. Ich fuhr weiter in die Bertoldstraße,
Richtung Bertoldsbrunnen.

»Hier beginnt die Fußgängerzone, sozusagen die Shoppingmall Freiburgs,
weiter geht’s nicht. Ich muss jetzt rechts abbiegen.«
»Dann tun Sie das doch.«

Herzlichen Dank!
Also tuckerten wir, mit der vorgeschriebenen Schrittgeschwindigkeit, die
Universitätsstraße entlang, Richtung Martinstor. Kurz vor der Einmündung
in die frühere Adolf-Hitler-Straße fragte mich mein Fahrgast:

»Wie heißt diese Straße ...?«
Offensichtlich suchte mein Fahrgast nach dem passenden Wort.
»Momentan«, schlug ich vor.
»Ja. Momentan.«
Ich hielt an und ließ die Straßenbahn durch.
»Kaiser-Joseph-Straße.«
»Danke.«

Die Straßenbahn war vorbei. Wir fuhren durch das Martinstor, und ich
ordnete mich links, in Richtung Schloßbergring ein. Die übliche Route,
weiter durch das Schwabentor, in die Konviktstraße, mit ihren
sehenswerten Fachwerkhäusern. Dann fuhr ich über die Schoferstraße zum
historischen Kaufhaus. Fotomotive ohne Ende, doch mein Fahrgast schwieg
und bat mich auch nicht irgendwo anzuhalten. Nicht einmal auf dem
Münsterplatz, wo eine Gruppe Japaner das Münster um die Wette knipste
und Touristen aus aller Herren Länder umher schwärmten. Die vielen
Fußgänger verlangten meine volle Konzentration, sodass ich sogar die im
Fond sitzende Dame vergaß.

Erst in der Mozartstraße, die ich routinemäßig wegen ihrer prächtigen
Kastanienbäume (damals im schönsten Herbstkleid) und reizvollen, alten
Villen angesteuert hatte, als sie sagte: »Freiburg soll ja heute eine
multikulturelle, weltoffene, sehr tolerante Stadt sein« wurde mir wieder
bewusst, dass die Fahrt recht lukrativ zu werden versprach. Der
Taxameter stand bei: € 72,20.

»In der Tat, eine multikulturelle, weltoffene sehr tolerante Stadt, so
sagt man«, bestätigte ich. Inzwischen waren wir an der Kreuzung
Hauptstraße angekommen, in unmittelbarer Nähe der »Sonnhalde«.

Rauf auf den Sonnenhügel! Hoch zu denen, die einen Platz an der Sonne
erobert haben. Zeit alle Register zu ziehen.
«Würde Sie eine dezente Musik stören?«
«Nein!«
Ich legte meine Stadtfahrt-CD ein und begann die Sonnhalde zu erklimmen.
Sie wurde ihrem Namen gerecht. Ideale Bedingungen, da es auf den Abend
zu ging, konnte ich meinem Fahrgast einen Sonnenuntergang der Güteklasse
1A bieten. Im Hintergrund sang leise die Groove Armada:

I never really felt quite the same,
Since I've lost what I had to gain
No one to blame, no one to blame ...

Und so fuhren wir schweigend die Sonnhalde entlang. Vorbei an dem noch
verhältnismäßig schlichten, hinter einer hohen Hecke verborgenen, von
zwei wild bellenden Deutschen Schäferhunden bewachten Haus des
Chefredakteurs unseres einzigen, aber dafür vorbildlich tendenziösen,
liberalen Blattes. Vorbei an mittelprächtigen Villen diverser Manager
und Geschäftsleute, von denen einige im Stadtrat saßen, bis hin zu jenem
Prunkbau, nahe der Wendeplatte, wo die Argusaugen zahlreicher
Videokameras argwöhnisch die Umgebung beobachteten. Dem schönsten Platz
an der Sonne, mit erstklassiger Fernsicht und einem überwältigenden
Blick auf das weltoffene Freiburg.

... Seems to me, can't turn back the hands of time
Oh it seems to me, can't turn back the hands of time
Seems to me, my history was left behind

»Halten Sie bitte an, ich möchte aussteigen.«

Na also!
Mein Fahrgast stieg aus, ging einige Schritte und schaute in Gedanken
versunken auf die Stadt hinunter. Der Fotoapparat blieb auch diesmal auf
dem Rücksitz liegen, trotz des beeindruckenden Abendrots im Hintergrund
und der untergehenden Sonne, eine Handbreit über den Tannen des
Schwarzwalds. Die Dame schien mehr als nur die Kamera vergessen zu
haben. Endlich konnte ich mir die heiß ersehnte Zigarette gönnen. Nach
einer Weile glitt nahezu geräuschlos ein schwerer Bentley heran.
Schwarz, mit dunkel getönten Scheiben. Die Videokameras schwenkten
nervös sichernd hin und her. Das riesige Tor zum Hof der festungsartigen
Villa öffnete sich - fast geräuschlos, wodurch der Vorgang etwas
Unwirkliches, beinahe Mystisches bekam.

»Sesam öffne dich!«, kommentierte die Dame, die unbemerkt neben mich
getreten war, leicht lächelnd. Wir sahen uns an. Zum ersten Mal nicht
nur flüchtig. Zum ersten Mal mit direktem Augenkontakt. Ein Moment des
gegenseitigen Verstehens. Ein Moment! Mit den Worten: »Würden Sie mich
jetzt bitte zum Hotel zurückfahren?«, zerriss die Dame das dünne Band
zwischen uns.

»Selbstverständlich!«

Für die Abfahrt vom Sonnenhügel wählte ich die Wintererstraße, am
Caritas-Schulungscenter und der katholischen Akademie vorbei. Vor dem
„Colombi“ angekommen, zahlte die Dame in bar. Wider Erwarten gab sie ein
großzügiges Trinkgeld. Ich durfte sie ins Foyer begleiten, wo sie mir
die Hand reichte und sich mit einem knappen: »Danke! Auf Wiedersehen!«,
aber flankiert von einem sehr warmen Lächeln verabschiedete.

»Cäsar Vierzehn, Cäsar Vierzehn!«.

Ich ignorierte das ungeduldige Rufen des Funkers, zündete mir eine
Zigarette an und dachte über meinen Fahrgast nach.

»Cäsar Vierzehn! Cäsar Vierzehn! C-Ä-S-A-R V-I-E-R-Z-E-H-N!«

Ein paar tiefe Züge später, schnippte ich den heiß gerauchten
Glimmstängel fort, stieg wieder in mein Taxi und meldete der Zentrale:
»Cäsar Vierzehn ist frei.«

© 2006 by kap, überarbeitet 2019


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Gruss
O.K. Kult
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