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Unsere Mauern brechen, unsere Herzen nicht

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Klaus Rindfrey

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May 18, 2004, 5:15:10 PM5/18/04
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Unsere Mauern brechen, unsere Herzen nicht

Die Deutschen eignen sich die Geschichte des Bombenkriegs an


Deutschland ist auch immer dort ideologisch praesent, wo ihm noch die
unverhohlenste, fast naive Gegnerschaft entgegenschlaegt. Waehrend der
Autor des deutschen Weihnachtsbestsellers /Der Brand/, Joerg
Friedrich, mit seinem Buch "vor allem in Grossbritannien auf vermintes
Gelaende" (/Spiegel/ 49/02) stiess, regte sich dort auf dem
linksliberalen Parkett sofort Zustimmung zu dessen Thesen. Waehrend
die grossen liberalen und konservativen Blaetter daran Anstoss nahmen,
dass Friedrich eine Opfer-Aufrechnung von Ausmassen betreibe und
insbesondere Winston Churchill als Ideologe des Vernichtungskrieges in
die Naehe von Kriegsverbrechern stelle, blies das britische
Friedenslager zum Angriff auf das nationale Geschichtsverstaendnis.
Der /Guardian/, eine Mischung aus /taz/ und /FR/, ein
globalisierungskritisches Schmierenblatt, das in den fruehen 90er
Jahren die deutsche Journaille durch teilweise plump gefaelschte
Bilder und Berichte ueber den serbischen Genozid an Bosniern noch
ueberholte - der /Guardian/ also konstatierte im Zusammenhang mit der
Diskussion ueber /Der Brand/: "Das letzte gesellschaftlich akzeptierte
Vorurteil sind antideutsche Gefuehle." Gleichzeitig sah auch der
deutsche Botschafter in London, Thomas Mattusek, Handlungsbedarf. Am
7.12.02 gab er - natuerlich dem /Guardian/ - ein Interview und
verkuendete, das Deutschlandbild in Grossbritannien sei so sehr vom NS
bestimmt, dass in England aufhaeltige Deutsche mit Vorliebe als Nazis
gemobbt, ja sogar taetlich angegriffen wuerden. Der /Guardian/
resuemierte am 10.12.: "Nicht Deutschland ist der Gefangene seiner
Vergangenheit - wir sind es, die Briten." Aber diese selbstkritische
Erkenntnis einer Minderheit vermochte nichts gegen die verstockte
Haltung der Briten auszurichten: "Gleichwohl laufen die Versuche von
Deutschen, sich gegen die Diskriminierung zu wehren, gewoehnlich ins
Leere. Wer Nazi-Witze nicht komisch findet, hat eben - typisch deutsch
- keinen Sinn fuer Humor. Zudem, so das Killer-Argument, haetten die
Deutschen schliesslich beide Weltkriege angefangen." (/Spiegel/ 51/02)
Gegen Killer-Argumente dieser Art richtet sich Joerg Friedrichs
Buch. Ein Buch, dessen erste Auflage bereits als ausverkauft gemeldet
wurde, nachdem es gerade einmal zwei Wochen im Handel erhaeltlich
war. Eine wahre Feuilleton-Lawine rueckte es in den Vordergrund des
Interesses im depressiven Monat November, z.B. indem ihm die seltene
Ehre widerfuhr, in der /Bild/-Zeitung vorabgedruckt zu werden. Ende
Dezember waren schon 100.000 Exemplare verkauft.


Psychische Energie in depressiver Zeit

Wenn die Briten sich auch noch so verstockt verweigern und damit in
Gefahr geraten, als Ewiggestrige in Europa abgehaengt zu werden,
lassen sich die Deutschen nicht verdriessen und gehen ihrerseits
voran: Sie treten jedes Jahr einen weiteren mutigen Schritt heraus aus
dem Gefaengnis der Vergangenheit.

Bereits 1997 hatte der inzwischen verstorbene Schriftsteller W.G.
Sebald die These aufgestellt, "dass es uns nicht gelungen ist, die
Schrecken des Luftkriegs durch historische oder literarische
Darstellungen ins oeffentliche Bewusstsein zu heben." (/NZZ/, 8.12.02)
Das Wirtschaftswunder haette sich "aus einem Strom psychischer
Energie" gespeist, "dessen Quellen das von allen gehuetete Geheimnis
der in die Grundfesten unseres Staatswesens eingemauerten Leichen" sei
(ebd.). /Der Brand/ scheint das Buch zur rechten Zeit zu sein, denn es
reiht sich nicht nur ein in die seit 10 Jahren ansteigende Flut
aggressiver Beschaeftigung mit den Leiden und Beschaedigungen, die dem
deutschen Kollektiv waehrend des Krieges widerfahren seien. Es gibt
darueber hinaus, Sebalds Forderung einloesend, in Zeiten der
Depression Auskunft darueber, wohin psychische Energie - aus
unzensierter Wiederaneignung nationaler Opfergeschichte gewonnen - zu
lenken sei. Man blickt immerhin auf ein seltsames Jahr zurueck. Es
begann mit sich ueberschlagenden Bekenntnissen zur Wahrung des
Weltfriedens, die sich gegen den Afghanistan-Krieg richteten, in denen
Massaker, Flaechenbombardements, ja die Ausloeschung der
Zivilbevoelkerung geradezu beschworen wurden. Es setzte sich fort in
der nationalen Aussprache ueber Guenther Grass' /Krebsgang/ und die
wenige Monate spaeter sich anschliessende Fernseh-Version, /Die grosse
Flucht/. Einig war man sich, dass es sich hier um ein verdraengtes
Kapitel deutscher Geschichte handele, das man nicht den Rechten
ueberlassen duerfe. Das sei nur moeglich, wenn man den eigenen
Schmerz, das eigene Leid endlich an sich heran lasse. Im Sommer folgte
die kollektive Zelebrierung eines ostzonalen Hochwassers, das binnen
weniger Tage von der "grossen Flut" zur "Jahrtausend-Flut" angestiegen
war. Auch dieses Mal wurde rhetorisch der Untergang, die Katastrophe,
das Inferno gar beschworen, um dem sandsackschleppenden Heimatschutz
die existentielle Wuerde nationaler Rettung zu verleihen. Die
Ereignisse kulminierten, als die Bundesregierung, und mit ihr die
Mehrheit der Bevoelkerung, die Konsequenzen aus Ground Zero zog und
Regierende und Regierte sich, anders als noch im Fruehjahr, im offenen
Widerstand gegen die Vereinigten Staaten von Amerika
zusammenfanden. Zum Jahresende schliesslich, an dem die psychische
Energie der Deutschen durch keine Wohlstandspolster mehr im Zaum zu
halten ist, wird als Vorspiel zur Enthemmung ein Kapitel
Menschheitsgeschichte in deutscher Lesart vorgelegt, das Buch zum
Bombenkrieg, auf das offensichtlich alle instaendig gewartet haben.

Etwas absolut Neues, so verkuendet uns das Feuilleton, ein
verdraengtes Kapitel deutscher Geschichte werde erstmals
aufgeschlagen. Nach 57 Jahren duerfe man endlich offen ueber den
Bombenkrieg sprechen. Gerade so, als haette nicht bereits in den 60er
Jahren David Irvings Dauerseller /Der Untergang Dresdens/ vorgelegen,
als haette nicht schon in den 50er Jahren Gerd Gaisers
Jagdfliegerroman /Die sterbende Jagd/ in Grossauflagen vom heroischen
Kampf gegen eine britische Bomber-Uebermacht gekuendet, und als haette
nicht Walter Kempowski mit seinem /Echolot/ seit ueber einem Jahrzehnt
jedes Verstehen, Entscheiden, Beurteilen, Reflektieren ausser Kraft
gesetzt, weil umstandslos nebeneinander der Frontsoldat, die
ausgebombte Mutter, der Ostarbeiter und der Blockwart, nur noch nach
dem Gesichtspunkt der Gleichzeitigkeit, deutsche Alltagsgeschichte
erzaehlen duerfen. Im deutschen Kollektivgedaechtnis, das derartige
Buecher gar nicht zu kennen brauchte, gab es seit 1945 eigentlich nur
ein uebergeordnetes Thema, wenn es um den zweiten Weltkrieg ging. Der
Historiker Goetz Aly, Jahrgang 1947, bringt es auf den Punkt: "Ich
habe, lange bevor ich ueberhaupt den Namen Auschwitz kannte, gelernt,
dass in Dresden 200.000 Menschen unter alliierten Bomben umgekommen
seien und die ganze Stadt zerstoert wurde. Ich habe bestimmt bis zu
meinem zwoelften Lebensjahr nie etwas anderes gehoert ueber den
zweiten Weltkrieg als das." (/NZZ/,7.12.02) Joerg Friedrich reicht
deutsche oral history ueber Dresden bei weitem nicht aus, er will ein
gutes Stueck weiter vorstossen im Kampf gegen ein ueber die Deutschen
verhaengtes Tabu: "Gucken Sie in irgendein Schulbuch, ob diese
Millenniumhandlung, diese Jahrtausendliquidierung der 160 Staedte da
auch nur mit einem Halbsatz auftaucht. Da steht drin, dass Dresden
ueberfluessigerweise bombardiert wurde. War ja schon so spaet, im
Februar 45. Waere es zwei Jahre vorher gewesen, koennte man ja
darueber reden. Die Dresden-Debatte versperrt den ganzen Blick auf den
Bombenkrieg." (/Titel Thesen Temperamente/, 17.11.02)


Heulen wie ein Schlosshund

Was waere eigentlich noch zu sagen zum Bombenkrieg gegen Deutschland?
Es gibt eine relativ gesicherte Opferzahl 400.000 bis 500.000 Tote.
Jede Stadt hat in ihrer Lokalgeschichte der Zerstoerung und ihres
Ausmasses gedacht und Strassenzug fuer Strassenzug, Haus fuer Haus die
Kriegszerstoerungen dokumentiert. Was fehlte noch? Das Gefuehl, die
Teilnahme, die kollektive Erinnerung, das Recht gar, trauern zu
duerfen ueber das Unglueck der Eltern und Grosseltern, die alles
verloren haben, damals. Und wirklich, auf dem menschelnden Sektor, der
immer schon allein der Aufrechnung vorbehalten war, hat es Verbote
gegeben, in der BRD wie in der DDR. Die zerbombten Staedte wurden eher
als ein Menetekel fuer Verblendung und Masslosigkeit ins offizielle
Gespraech gebracht, als Mahnung zu Wiederaufbau und demokratischer
Gesinnung, denn fuer eine Selbstinszenierung als Opfergemeinschaft,
von der auch die deutsche Zivilverwaltung immer schon wusste, dass
Klage und Racheschwur nicht auseinanderzuhalten waeren. So endete etwa
die DEFA-Verfilmung des /Untertans/ von Heinrich Mann aus dem Jahr
1951 mit dem mahnenden Bild einer zerbombten Stadt und darin
geschaeftig herumwuselnden Truemmerfrauen. Die gleiche Funktion hatte
die Einblendung zertruemmerter deutscher Innenstaedte in
Fernsehdokumentationen der BRD aus den 70er und 80er Jahren, die sich
nicht mit dem Bombenkrieg, sondern mit den deutschen Verbrechen
befassten und sich erfreulich didaktisch darum muehten, Ursache und
Wirkung ins Verhaeltnis zu setzen. Solche Verarbeitung ueberlagerte
die alltagsgeschichtlichen Bemuehungen eines Kempowskis, konnte aber
nie darueber hinwegtaeuschen, dass gegen die offizielle
Erklaerungsversion ganz andere Beduerfnisse zaeh weiter lebten: sich
als Opfer fuehlen zu duerfen, wie ein Schlosshund zu heulen, sein
ganzes Elend als deutsches Elend der feindlichen Welt und den
gefuehlskalten Paedagogen ins Gesicht zu schleudern. Diesem Beduerfnis
war in der DDR bereits staatsoffiziell, in der BRD spaeter durch eine
staatliche Vorfeldorganisation durchaus Rechnung getragen worden. Die
DDR hatte sich stets die Dresden-Tuere offen gehalten, und so standen
die Truemmer der Frauenkirche, die man ja leicht haette wegraeumen
koennen, ganz wie seit 1991 die neue Wache in Berlin, als Mahnmal
gegen Krieg und Gewaltherrschaft, also in Wirklichkeit als Erinnerung
an den "alliierten Bombenterror", wie es staatsoffiziell hiess, und
wie man es von Goebbels' Propagandamaschine uebernommen hatte. Im
Westen hat die Friedensbewegung der fruehen 80er Jahre den Bann
gebrochen, als sie zum gemeinsamen Erleben ungeheurer Schauer
angesichts von Tod und Vernichtung einlud und fuer jede deutsche
Grossstadt eine Art Videoinstallation herstellte, die die Wirkung
einer Bombe von der Groesse der Hiroshima-Bombe veranschaulichte.


Wenn die Sprache birst

/Der Brand/, laut /Spiegel/ ein "brilliant geschriebenes, packendes
Buch" (49/2), zeugt Martin Walser in /Focus/ 50/02 zufolge von "hoher
Erzaehlkompetenz (...). Durch diese Sprache ist das gegenseitige
Vernichtungswueten fuer unsere Teilnahme zugaenglich." Die /FAZ/
(30.11.02) schliesslich konstatiert: "Indem die Sprache birst, wird
sie anschaulich (...) Jeder seiner Saetze hat eine Tendenz zum
Schrei. Fast sechzig Jahre nach Kriegsende geht es nicht mehr darum,
Schuld festzustellen. Es geht um die Feststellung des Schmerzes."

Ein Buch, das sich wie ein Gegenentwurf zu Goldhagens "Hitlers willige
Vollstrecker" liest, das ein deutsches Volksbuch sein will, das man
"Bomber Commands hilflose Opfer" nennen koennte, verlangt nach
adaequater Sprache. Die Sprache, die birst, die Sprache des Schmerzes
wanzt sich ran, expressionistisch aufgeplustert, existentiell
verallgemeinernd, in abgehacktem Lapidar-Sound Betroffenheit
ausloesend, dieser Sound, der zur masslosen Uebertreibung passt und
jede Luege pseudopoetisch verpackt. Dieses inbruenstige Gelaerme will
mehr als die Kriegsschuld scheinbar gleichmaessig auf Deutsche und
West-Alliierte verteilen: Deutscher Schmerz steht ueber allem und ruft
nach Konsequenz. /Die etwa 40.000 Gefallenen der Juliangriffe 1943
sind neben denen Dresdens, Tokios, Hiroshimas und Nagasakis Chiffren
des Aeussersten, was Waffengewalt der Kreatur zufuegt. Nicht wegen der
Stroeme vergossenen Blutes, sondern der Art wegen, in der Lebewesen
von der Welt getilgt wurden mit einem toedlichen Hauch./
(J. Friedrich: /Der Brand/, S. 193 - auch die folgenden kursiv
gesetzten Zitate stammen aus dem Buch) Man koennte einwenden, dass
doch allein in der Stadt Leningrad waehrend der deutschen Blockade,
die eine Hungerblockade war, mehr als eine Million Menschen zugrunde
gegangen sind, oder dass der toedliche Hauch doch von Zyklon B
verbreitet wurde - aber die Einebnung genau solcher Unterschiede bis
hin zur Leugnung ist Ziel und Vorsatz. Wer Bombenkrieg ueber
Deutschland sagt, meint Heimat und das Bekenntnis zur Heimat in
existentieller Bedrohung, diese innigste Verbindung, die Landschaft
und Genre eingehen koennen, ist Friedrichs Botschaft. /'Weit
schweiften unsere Augen ueber die gruenwellige Bucht, die blaeulichen
Huegel Usedoms und Wollins, ueber die zahlreichen Schiffe, die mit uns
auf der Reede lagen.' Unter Dreck, Strohsack an Strohsack, warteten
alte ostpreussische Bauern, Kriegsversehrte und 'eine Frau, offenbar
leicht geistesgestoert, die immerfort drei oder vier Toene in leiser
Unentwegtheit vor sich hin sang'. Rechts und links dampften kleinere
Fluechtlingsschiffe auf Swinemuende zu, halb Ostpreussen lag auf dem
Wasser. Was schwamm, hatte Leute geladen./ (S. 171f.) Heimatliebe in
Deutschland kann sich nicht beschraenken auf die behagliche
Betrachtung von Landschaften. Es liegt keine Behaglichkeit in ihr,
spaetestens seit 1933, und wo es den einen ein Graus ist, dass noch
der gruenste Huegel darueber hinwegluegt, wie endgueltig die Idylle
zerschlagen ist, treibt es den Mehrheitsdeutschen angesichts der
geschichtstraechtigen Bindung von Landschaft und Vernichtung wohlige
Schauer ueber den Ruecken. Deutscher Heimat-Expressionismus bedient
sich daher konsequent des Volksempfaengers: /Nach Sueden zu,
gegenueber der franzoesischen Grenze, verdickte sich der Wall und
flocht die nahen Doerfer ein in seine Wehr./ (S. 136)

Friedrich hat durch sein ganzes Buch saeuberlich die Spuren gelegt,
die eine wahrhaft furchterregende Wiederaneignung deutscher Wehr- und
Leidensgeschichte im Namen der Aufrechnung ergeben. Was immer die
Deutschen mit ihren Opfern angerichtet haben, Bomber Commands Taten
stellen alles in den Schatten: /Bewegliche Kunst, Archivalien und
Buecher begeben sich auf die Flucht, zuerst hinter entlegene feste
Mauern, zuletzt in tiefes Felsengestein. Anders waere fast alle Kultur
zerstoert. Die Bibliotheken haben im Stein das meiste gerettet vor der
im uebrigen groessten Buecherverbrennung in geschichtlicher Zeit./
(S. 515) Und wie den Buechern geschah es einer ganzen Zivilisation:
/Deutschland wurde von Bomber Command und zwei US-Flotten verwuestet
wie noch keine Zivilisation davor./ (S. 120) Wo eine Zivilisation
ausgerottet wird, ist der Auschwitz-Vergleich statthaft und
unvermeidlich: /Die Leichenbergung entspricht der
Toetungsprozedur. Der Ausgerottete erhaelt kein eigenes Grab, erhaelt
keinen eigenen Tod, weil ihm kein Lebensrecht gehoerte. Es wurde ihm
ausgezogen wie eine Jacke./ (S. 432)

Wenn diese groesste Luege schamlos ausgesprochen werden kann, ohne
dass sie einem der zahlreichen Rezensenten auch nur aufgefallen waere,
gehen die kleinen revisionistischen Luegen jederzeit durch: /Tiefe
Bewegung loeste in Bielefeld das Bombardement aus, welches die Anstalt
fuer geistesgestoerte Kinder in Bethel traf. Der Einschlag in den
Schlafsaal toetete zwoelf kranke Kinder. Pastor von Bodelschwingh, der
Anstaltleiter, kaempfte um eben die Zeit fuer das Leben seiner
Schuetzlinge, das als lebensunwert von den NS-Gesundheitsbehoerden
ausgemerzt werden sollte. Bodelschwingh draengte die Euthanasie in
seinem Asyl zurueck, nicht aber Bomber Command. Dessen Bomben schlugen
ein zweites Mal ein und toeteten Pfleger und Kinder./ (S. 210) Keine
Rede davon, was in den 80er Jahren noch zum Skandal, und zwar zum
heilsamen Skandal fuehrte: Dass genau dieser Pastor Bodelschwingh, -
gegen tiefsten Selbstzweifel ankaempfend, wie es sich fuer einen
deutschen Pastor gehoert - dafuer gesorgt hat, dass das ihm
abgeforderte Kontingent behinderter Menschen selektiert und zur
Vernichtung uebergeben wurde. Kein Wort darueber, dass ihm nur deshalb
noch geistig behinderte Kinder blieben, weil die Euthanasie-Aktionen
ausgesetzt wurden, und zwar nicht auf den Druck eines preussisch
protestantischen Pastors hin, sondern ganz vorwiegend wegen des
Protests katholischer Geistlicher und ebenfalls vorwiegend
katholischer sueddeutscher Bauern und Kleinbuerger hin. Pastor
Bodelschwingh, Prototyp des moralisch leidenden Mitmachers, verkehrt
sich in einen deutschen Widerstandkaempfer gegen die Fortsetzung der
Euthanasie durch britische Bombergeschwader. Wie sehr es Friedrich mit
dem Nazi-Regime haelt, wird schon dadurch deutlich, dass er sich nicht
entbloedet festzustellen: /Die NSDAP organisierte eine pompoese
Beisetzung und geisselte den "Kindermord von Bethel"./ (ebd.)

Die da Vollzugshelfer bei der Ausrottung der deutschen Zivilisation
waren, die britischen Bomberpiloten, erscheinen als privilegierte
Kindermoerder, denen auch dann Kombattantenschutz gegolten habe, wenn
sie aus einem brennenden Flugzeug ueber Deutschland abgesprungen
waren. /Der Soldat bleibt Rechtsperson, auch wenn er getoetet werden
kann. Dies darf nur so lange geschehen, wie er selber toetet. Legt er
die Waffe nieder, geniesst er Pardon. Das hat sich im
deutsch-russischen Krieg oft anders verhalten, aber letztlich endete
auch dieser Krieg in Gefangenenlagern. Die Heilbronner Kinder konnten
die Waffen nicht niederlegen, weil sie keine in der Hand hielten,
erhielten darum auch kein Pardon - und wie haette man sie auch
gefangen nehmen sollen? (...) Die Rechte der Bomberpiloten regelte die
Genfer Konvention, sprang er mit dem Fallschirm ab, war er
gefangenzunehmen./ (S. 432) So tiefes Verstaendnis fuer ueber 200
Lynchmorde an gefangenen Bomberbesatzungen - die Friedrich an anderer
Stelle keineswegs verschweigt - hat es bislang nur im Volksmund
gegeben, sie oeffentlich auszusprechen, war zwei Generationen von
Deutschen weitgehend verwehrt. Man erinnert sich zwar der Empoerung
ueber die Hinrichtungen einiger deutscher Lynchmoerder 1945-47,
schriftlich festgehalten durfte diese aber nicht werden. Die Empoerung
wurde bis jetzt aus dem oeffentlichen in das private Gespraech
verbannt.


Die Verbindung zum Mittelalter

Das Geschrei ueber die Toten sekundiert Friedrich mit der
beschwoerenden Anrufung zerstoerter Altbausubstanz und
architektonischer Kostbarkeiten. In einer Mischung aus Werbebroschuere
des lokalen Fremdenverkehrsamts und bewegter Klage ueber Zerstoerung
und Verschwinden von Kulturwerken feiert Friedrich die Staedte als
Organismen aus Material und Geschichte. /Land/ heisst absichtsvoll
lapidar ein Abschnitt, der sich in Wirklichkeit mit der Aufzaehlung
deutscher Staedte und ihrer Bombardierungsgeschichte befasst. Das
Motto zu /Land - Die Verbindung zum Mittelalter ist nun auch
abgebrochen/ (S. 177) stammt von Ernst Juenger. Friedrich hat es sehr
gezielt ausgewaehlt, denn er faehrt fort: /In den Staedten siedeln die
Lebendigen wie die Vorangegangenen, die ihre Gehaeuse hinterlassen
haben, ihre Dome, Altaere, Schriften, Papiere. Sie bebildern und
beschriften die Orte als Orte eines Geschehens. Vergangenheit
ueberliefert ihre Schauplaetze, darauf stehen die Gegenwaertigen und
sehen sich in einer Reihe. Geschichte ist Stein, Papier und
Erzaehlung, mithin ueberwiegend brennbar. Braende, Zerstoerung, Raub
und Massaker sind die Kreuzwege der Stadtgeschichten. Alle Staedte
waren zumindest einmal zerstoert worden, aber nicht mit einem Mal
alle./ (S. 177) Die Verbindung zur Vergangenheit reicht bei Friedrich
zumeist weit zurueck ins Mittelalter. Die unendliche Aufzaehlung
zerstoerter Kirchen, Altaere, Glocken, Handschriften verweist allzu
deutlich auf einen Geschichtsmythos, der unmittelbar auf die deutsche
Romantik rekurriert. Ausgeblendet bleibt das wenige, was in deutschen
Staedten auf einen anderen Weg verwiesen haette, der nicht zum Brand
gefuehrt haette, aber auch nicht zur liebevollen Konservierung des
Mittelalters. Das waeren vor allem Hinweise auf selbstbewusste Buerger
freier Staedte, in denen nicht immer der Dom oder die
Staufer-Zwingburg alles in den Schatten stellt, sondern die etwa durch
ein praechtiges Rathaus dominiert werden, wie etwa in Augsburg oder
Luebeck, freie Reichstadt die eine, Hansestadt die andere. Das
Aufkommen merkantiler Interessen, buergerlicher Prachtentfaltung,
demokratischer Umgangsformen gegen die Dominanz von Kirche und Kaiser
interessiert nicht, wo /die Gegenwaertigen in einer Reihe/ stehen
sollen mit den /Vorangegangenen/, wo also eine Einheit aus Geschichte,
Landschaft und Volk gesucht wird. Das Auftreten handfester
Eigeninteressen und die Aufloesung des Reichs im Gefolge der
napoleonischen Erneuerung fuehrten bekanntlich nicht zu buergerlichem
Selbstbewusstsein und buergerlicher Revolution, sondern muendeten in
eine hocheffektive Form von Modernisierung und Industrialisierung, die
unter staatlicher Regie von einem aufs Private und Oekonomische
zurechtgestutzten Buergertum durchgefuehrt wurde. Oekonomischer
Aufstieg und nationale Einheit Deutschlands waren ueberwoelbt von
einem romantisch erneuerten Reichsgedanken, mit dem sich die Nation
ein Zusammengehoerigkeitsgefuehl dekretierte, dem jede politische
Erneuerung Indiz fuer Fremdbestimmung und Verfall war. Nirgends stand
Eskapade und Eigennutz so sehr unter Verdacht wie in Deutschland, war
oeffentliches Wirken als dauerndes Arrangement der
Partikularinteressen gerade wegen des undramatischen und unblutigen
Prozederes des Interessenausgleichs so suspekt. Entsprechend erging es
den Staedten, die an der Peripherie zwar modernisiert, im Zentrum nach
Moeglichkeit aber soviel geheimnisumwittertes Mittelalter behalten
sollten wie irgend moeglich. Stand bereits die Vollendung des Koelner
Doms Mitte des 19. Jahrhunderts im Zeichen eines Nationalgefuehls, das
den Anschluss ans Mittelalter um so enger schmieden wollte, je
offensichtlicher oekonomische und gesellschaftliche Dynamik nach etwas
ganz anderem verlangten, so ueberladen und verzopft praesentierten
sich seither Zweckbauten mit ihren historisierenden Fassaden als
unendliche Fortsetzung vormoderner Architektur, die von alter
Zunftherrlichkeit mitten in der Periode der grossen Industrien
kuendete oder dem Arbeiterschliessfach etwas feudalen Barock ankleben
wollte. Diese Zivilisation, die sich Staedte baute, die sie als
Buerger nicht selbstbewusst bewohnen wollte und konnte, die nicht aus
Freude an der Schoenheit Altes konservierte, sondern aus Angst vor
Veraenderung, die am Alten vielmehr Mystik, Weihrauch und autoritaere
Fuehrung schaetzte, hielt alles bereit, was ihr schlimmes Ende
irgendwann einmal besiegeln wuerde.


Mission impossible

Die Ueberhoehung der Stadt als organischen Geschichtsbehaelter,
Museumsdorf und Bollwerk gegen das, wofuer sie historisch steht, fuer
die buergerliche Emanzipation, korrespondierte stets aufs Engste mit
alteingesessener Aggression gegen die anderen, weiter entwickelteren
/politischen/ Zivilisationen. Diese anderen, das waren und sind
diejenigen, die man als Sieger, Besatzer und gescheiterte Umerzieher
erdulden musste, jene, die sich heute noch mit den Deutschen ihre
Nazi-Scherze erlauben und im deutschen Fussball einen Wiedergaenger
der Wehrmacht erkennen wollen. Es sind die, denen man uebel nimmt,
dass sie einen dauernd daran erinnern, dass Deutschland zwei
Weltkriege angezettelt hat, und die nicht nur stolz darauf sind, die
Deutschen besiegt zu haben, sondern sich erfrechen, die nationale
Ueberlegenheit ihres politischen Vergesellschaftungsmodells zu
betonen.

Fuer Joerg Friedrich ist einfach jeder Bombenkrieg gegen eine
Zivilbevoelkerung ein Verbrechen, das man aechten muesse. Natuerlich
unterschlaegt er nicht, wer mit dieser Art der Kriegsfuehrung begonnen
hatte. Ihm ist es allerdings darum zu tun, die Englaender und auch die
Amerikaner dafuer anzuklagen, dass sie ab Erringung der Lufthoheit
ueber Deutschland, 1943, den Bombenkrieg gegen die Deutschen Staedte
nicht etwa ausgesetzt, sondern dauernd weiter intensiviert und die
Zahl der Opfer und die Hoehe der Schaeden enorm gesteigert
hatten. Friedrich hat recht, wenn er darauf hinweist, dass die
Angriffe zumeist direkt den Stadtzentren galten und eine genaue
Unterscheidung zwischen Wohngebiet und Industrieanlage vielfach gar
nicht beabsichtigt war. Die Englaender haben allen Ernstes versucht,
die Voraussetzungen fuer eine moeglichst baldige Landung auf dem
Kontinent durch eine voellige Demoralisierung des Gegners zu
erreichen, ein Vorsatz, der dem deutschen in der sogenannten
Luftschlacht um England aehnelt. Und doch stellt Friedrich jede
Wahrheit auf den Kopf, wenn er die Bevoelkerungen Deutschlands und
Englands unterschiedslos als Durchhaltegemeinschaften bezeichnet. In
Grossbritannien entwickelte sich nicht zuletzt angesichts der
Niederlagen in Frankreich, der Demuetigung von Duenkirchen und der
gescheiterten Norwegen-Expedition 1940 eine Frontmoral, die durch den
Luftkrieg nicht zu knacken war. Fuer Friedrich und seine Fans ein
klarer Fall: /Die Zivilgesellschaft weiss, dass sie das Ziel ist und
sich dem gegnerischen Willen beugen soll. Mit den britischen Staedten
steht sie im Wettbewerb der Leidensfaehigkeit. Bombenkrieg prueft den
nationalen Zusammenhalt./ (S. 465) Den zentralen Unterschied,
dessentwegen das Konzept moral bombing ueberhaupt erfunden wurde,
laesst Friedrich verblassen. Die Englaender haben erfahren muessen,
dass ihre Politik des Appeasements, die ja nicht nur vom konservativen
Premier Chamberlain betrieben, sondern von der oppositionellen Labour
Party mitgetragen wurde in jeder Hinsicht gescheitert war. Nicht nur
wog der moralische Makel schwer, die Tschechoslowakei einfach
ausgeliefert zu haben, es wurde durch  den epochalen persoenlichen
Beitrag Winston Churchills im Fruehjahr1940 endlich Konsens, was in
einer Klassengesellschaft nur unter existentieller Bedrohung erkannt
werden kann: Dass es etwas zu verteidigen gibt, fuer Proleten und
Nutzniesser des Systems gleichermassen, dass jeder Streit ueber den
Zugang zu gesellschaftlichem Reichtum auszusetzen sei - fuer die Zeit
danach. Erst Churchills Grossbritannien konnte der Welt mitteilen, was
sich Roosevelt mangels oeffentlicher Zustimmung noch lange nicht
auszusprechen traute, was in der Sowjetunion im Gefolge des
Hitler-Stalin-Paktes ausgesetzt war und in Frankreich zur Niederlage
gefuehrt hatte: dass gegen die faschistische Barbarei der damals schon
aeusserst beschaedigte Rest buergerlicher Zivilisation in Anschlag zu
bringen sei, dass es sich tatsaechlich lohnte, fuer seinen Erhalt zu
kaempfen. Wenn die englische Gesellschaft angesichts der deutschen
Bombenanschlaege zusammengerueckt ist und trotzigen Durchhaltewillen
bekundete, dann eben nicht, wie Friedrich und andere Deutsche es
nahelegen, weil sie wegen des taeglichen Bombenterrors gar nicht
anders konnte; der Widerstand der britischen Zivilbevoelkerung
verdankte sich der Mobilisierung einer gesellschaftlichen Moral, die
man schlicht und einfach antifaschistisch zu nennen hat. In
Deutschland dagegen haetten eigentlich ganz andere Reaktionen auf die
Bombardierungen erfolgen muessen, haette es dort ein ganz ordinaeres
Beduerfnis nach Zivilgesellschaft gegeben. Waere es wirklich so
gewesen, wie linke und rechte Ideologen behaupten, dass die Deutschen
in ihrer Mehrheit wie gelaehmt im Zeichen des Naziterrors, den sie
nicht wuenschten, erstarrt waeren, dann haetten die Bomben gegen die
Durchhaltemoral ganz anders einschlagen muessen, als die deutschen
Bomben in London. Dann waeren die Industriearbeiter aus den Staedten
geflohen, dann waere es moeglicherweise zu chaotische Fluchtbewegungen
im ganzen Land gekommen. Das schwebte den Englaendern vor, in
Millionen abgeworfenen Flugblaettern haben sie die deutsche
Zivilbevoelkerung darauf hingewiesen, dass alle Industriestaedte
Kriegsschauplatz seien, und die Zivilbevoelkerung gut daran taete, sie
zu verlassen. Daraus wurde nichts, das Nazi-Regime hatte kaum Probleme
mit Absentismus. Statt dessen wurde, Friedrich beschreibt es mit
Bewunderung, ein kollektives Luftschutzsystem organisiert, das nicht
nur die Zahl der Toten relativ niedrig hielt, sondern auch
ermoeglichte, unter unvorstellbaren Bedingungen unter der Erde zu
vegetieren, um tagsueber unverdrossen fuer den Endsieg weiter zu
arbeiten. /Die Partei zeigt in dem Solidarwerk Flagge; es wurde die
"zweite Machtergreifung" genannt. Die Macht ueber die Noete kittet
Volk und Regime erst recht aneinander./ (S. 437) Einer
Bunkergesellschaft, deren Moral noch 1944 aus der Losung "Unsere
Mauern brechen, unsere Herzen nicht" (/Tagesspiegel/, 22.12.02)
bestand, konnte Bomber Harris nicht beikommen, das /moral bombing/ ist
an der /German moral/ gescheitert. Aber haette er nachlassen sollen,
als er es wissen musste, Anfang 1944 etwa? England wollte die Invasion
vorbereiten und den eigenen Jungs und den verbuendeten Amerikanern bei
Landung und Eroberung Deutschlands keine allzu hohen Verluste
zumuten. England wusste zudem ab 1943 immer Genaueres ueber die
unfassbaren Greuel, die die Deutschen angerichtet hatten. Auch wenn
man sich bis Ende 1944 der Tatsache des Holocaust weitgehend
verschloss, aus der Sowjetunion erfuhr man nach Stalingrad, in welchem
Zustand zurueckerobertes Gebiet sich befand. Mitleidlosigkeit
gegenueber einer "Zivilbevoelkerung", aus deren Mitte heraus ja nicht
nur die Barbaren gekommen waren, die auf dem Rueckzug moeglichst alles
vernichteten, sondern aus der eben auch all die Energie zum
Weitermorden und der Staat, der es organisierte, hervorging, war mit
kriegsentscheidend. Da nutzen die Kinder von Bethel nichts, die
genauso unschuldig sind wie alle anderen Kinder auch, da vermag das
erschuetternde Einzelschicksal nichts auszurichten, ausser den Boden
fuer Kitsch, Luege und Betroffenheit fuer die falsche Sache zu
bereiten und Erkenntnisse wie dieses etwa: /Die Ortseinwohner
kaempften um ihr Ueberleben. Aber bekaempften niemanden, waren dazu
weder willens noch geruestet, und es existierte bis dahin auch kein
Kriegsbrauch, der sie einer Waffengewalt aussetzte./ (S. 63)


Das Buch zur rechten Zeit

Was den Friedrich zu seinem Buch und die Deutschen zur grossen
nationalen Aussprache treibt, ist nur allzu verwandt mit jener Moral,
der nicht einmal mit Bomben beizukommen war. Jetzt, wo sie wieder
duerfen, fuehlen sie sich wieder eins mit ihrer Geschichte, ihren
Staedten, ihren Opfern, ihrem Weg eben. Mit Joerg Friedrich bezwecken
die Deutschen, den letzten Rest feindlicher Lufthoheit ueber deutsche
Selbstvergewisserung zurueckzudraengen, den aggressiven Schlag zu
landen gegen ein Geschichtsverstaendnis, das heute noch in manchen
Laendern und in Millionen Koepfen von der deutschen Tat bestimmt ist,
und es zugunsten der Gegenerzaehlung vom deutschen Leid zu
neutralisieren. Der Aufstand gegen Gesittung und Zivilisation bestimmt
nicht nur Joerg Friedrichs Geschichtsbild, es ist auch die praktische
Handlungsanweisung endlich mit einer Aneignung zu beginnen: /Die
taktische Aneignung der Geschichte ist eine leere Klage, auch wenn sie
schon Goethe fuehrte. Der Aneigner ist Subjekt und darum subjektiv. Es
gibt auch eine nichtangeeignete Geschichte, wie die des grossen
Brandes. Auch das ist ein subjektives Nicht-wollen. Den Unwillen
zweier Generationen erklaert die Zeit. Es war nicht die Zeit
dafuer. Doch die Zeit, das, was wechselt, wechselt auch die Aneignung
der vergangenen Zeit./ (S. 218) Das ist kein Deutsch, und der Autor
ahnt mehr als dass er wuesste, was sein Gestammel will: die Aneignung
der deutschen Leidensgeschichte fuer neue unerhoerte Taten. Wo
Friedrich den Auftrag nur verschwommen formuliert, wissen Leser und
Feuilleton muehelos anzuknuepfen.

Der ewig Zu-Kurz-Gekommene, Walter Kempowski, dem zunaechst Guenther
Grass mit dem /Krebsgang/ die Schau gestohlen hat und jetzt, kaum ein
Jahr spaeter, Joerg Friedrich, meint: "Aber dringt das wirklich in die
Tiefe? Gehen die Menschen, die dieses Buch oder andere Buecher gelesen
haben, danach zu dem alten Fluechtling im Nachbarhaus, der Haus und
Hof im Osten verloren hat? Zu der Kriegerwitwe, die ihren Mann
verloren hat und ihre beiden Soehne? Gehen die Menschen, die keine
Erinnerungen an den Bombenkrieg mehr haben, ins Altersheim und fragen
nach?" (/Welt/, 12.12.02) Genau das ist es nicht: Mitgefuehl
miteinander hatten die Deutschen noch nie, ein kollektives Gefuehl
gegen die anderen aber sehr wohl. Kempowski geht im gleichen Interview
daher schon einmal den entscheidenden Schritt weiter: "Die Leser
nehmen es zur Kenntnis, wundern sich ueber das barbarische Tun, ganze
Staedte auszuradieren, erinnern sich vielleicht an eigene
Erlebnisse. Aber irgendwelche politischen oder gesellschaftlichen
Folgen wird das Buch nicht haben." Da ist sie, schon drohend
aufgebaut, die ewige Klage ueber Vergeblichkeit in der Aneignung der
eigenen Geschichte wegen unterbleibender Folgen.

Indes, der oeffentliche Auftritt Joerg Friedrichs im ueberfuellten
Veranstaltungssaal der Berliner Urania beweist es, Deutsche
Geschichtsaneignung auf der Hoehe der Zeit ist wieder moeglich: "Ein
Trauma. Das Wort faellt oft an diesem Abend. Zum Beispiel von dem 1926
in Hamburg geborenen Zuhoerer, der eigens fuer den Vortrag und die
Diskussion angereist ist. Er hatte die Bombardierung Heilbronns erlebt
und bei der Bergung der Leichen mitgearbeitet - eine Erfahrung, die
ihn bis heute nicht loslaesst. 'Der Afghanistan-Krieg hat mir
klargemacht, dass sich wiederholt, was ich vor mehr als 50 Jahren
erlebt hatte.' Durch Afghanistan hatte er ueberhaupt erst gemerkt,
'dass ich auf einem Trauma sitze'". (/Tagesspiegel/, 27.11.2002) Die
/Welt/ (23.11.02) hat zur Vorsicht eine ausgewiesene Linke, 68erin und
Feministin, Cora Stephan, beauftragt, Volkes Stimme auf essayistisches
Niveau zu heben. Unmittelbar am traumatisierten Hamburger anknuepfend
geht sie in die Vollen: "Ist Deutschland mit der Beschreibung der
anderen Seite der Medaille exkulpiert? Wer kaeme darauf. Aber hat sich
die Welt nun mit einem historischen Flankenschutz fuer Gerhard
Schroeders 'deutschen Weg' auseinander zu setzen, mit
Geschichtsrelativierung, ja Revanchismus; ist hier eine weitere
Spielart des deutschen Antiamerikanismus zu verzeichnen?
Debattenbeitraege dieser Art sind vorhersehbar. Und es stimmt: Das
Buch erscheint zur rechten Zeit. Im von Hitler-Deutschland
angezettelten Zweiten Weltkrieg haben fast alle ihre Unschuld
verloren. Die unbestreitbare Schuld der Deutschen hat es ihren
Nachbarn lange Zeit ermoeglicht, ueber die eigne Verstrickung
hinwegzusehen. Jetzt aber bricht die eigene Lebensluege auf. Die
Debatte ueber eigene Voelker- und Menschenrechtsverletzungen, auf der
junge Historiker in Polen oder Tschechien insistieren, zeigt das. Die
Gruende dafuer liegen gewiss nicht in einem die Deutschen entlastenden
Relativismus. Sie liegen in der Notwendigkeit, Europa ein gemeinsames
Fundament zu geben." Gegen wen sich dieses deutsche Europa richten
wird, vermeldet die /FAZ/ am 17.11.02 unter der von Friedrichs Sprache
inspirierten Ueberschrift "Aschenreste": "Denn es vereint sich das
lange als notwendig erachtete Schweigen ueber den Schrecken und die
Schuldfrage des Bombenkriegs mit einem neuen, aus der Skepsis
gegenueber Amerika erwachsenden Selbstbewusstsein in Deutschland. Dass
Praesident Bush zu den groessten Bewunderern Churchills zaehlt, passt
da perfekt ins Bild. Dass es zudem Walt Disneys Zeichentrickfilm
/Victory Through Air Power/ gewesen sein soll, mit dem der britische
Premier den zaudernden Roosevelt 1943 auf der Konferenz von Quebec
fuer seine Bombenkriegsstrategie gewann, laesst Churchills Bild und
Amerikas Klischee zu einer daemonischen Fratze verschmelzen." Was die
Zeitung fuer Deutschland fertig bringt, gelingt der Zeitung fuer
Aegypten allemal. Der Schriftleiter der aegyptischen Tageszeitung /Al
Ahram/ und Uebersetzer der Rommel-Memoiren ins Arabische, Anis Masour,
schrieb ueber Friedrichs /Brand/: "Der Historiker entschuldigt die
Greueltaten Hitlers nicht. Er will lediglich zeigen, dass Churchill
schlimmer war als Hitler, ohne dass man ihn dafuer gehaengt
haette. Dieses Buch aber liefert die Begruendung fuer eine
Verurteilung ihn zu haengen, zu verbrennen, so wie sie es mit den
Deutschen gemacht haben." (Undatiertes Zitat aus /Welt/, 19.12.02) Nun
steht ja alles dafuer, dass der Churchill-Fan Bush mit Walt Disney im
Handgepaeck nicht nur im Irak ein den Menschen freundlicheres Regime
herbeizwingen wird und dadurch nicht zuletzt auch den Anis Masours der
djihadistischen Welt eine etwas leisere Gangart abnoetigen
koennte. Dieser Krieg, der wahrscheinlich ohne die von interessierter
Seite vorhergesagten Flaechenbombardements gegen die Zivilbevoelkerung
ausgehen wird, von der Bush recht gut weiss, dass sie keine deutsche
Wehrwolfsgemeinschaft ist, duerfte auch geeignet sein, dem Traum vom
deutschen Europa fuer absehbare Zeit einen Riegel
vorzuschieben. Sollten die Deutschen sich das aber keine Lehre sein
lassen und schon weil das Wohlstandspolster schmilzt genauso wie jeder
dahergelaufene Islamist weiter zuendeln und schliesslich aus Trotz
ueber das Scheitern ihres Weges in Europa und anderswo sich wieder
zusammenschliessen zur Durchhaltegemeinschaft der Opfer von
Ausrottung, sollten sie also tatsaechlich ihre daemonische Fratze
wieder praktisch zeigen wollen, dann kann man nur auf der schon vor 12
Jahren gepraegten Forderung, "Bomber Harris, do it again!", beharren
und hoffen, dass der naechste englische Premier kein Abonnent des
/Guardian/ ist.

Justus Wertmueller
(Bahamas 40/2003)

(<www.redaktion-bahamas.org>)

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