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Antideutsch ?

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Udo Winterstein

unread,
May 5, 2004, 2:32:37 AM5/5/04
to
Hallo Ihr,

http://www.im.nrw.de/sch/414.htm

erzählen die Quatsch mit Soße oder ist das wirklich eine innerlinke
Bewegung ?
Ich bitte um Verifizierung durch euch, da ich es ehrlich gesagt kaum
glauben kann.

--
Gruss


Udo

Klaus Rindfrey

unread,
May 6, 2004, 5:53:46 PM5/6/04
to
Udo Winterstein <udo_win...@yahoo.de> writes:


> http://www.im.nrw.de/sch/414.htm
>
> erzählen die Quatsch mit Soße oder ist das wirklich eine innerlinke
> Bewegung ?
> Ich bitte um Verifizierung durch euch, da ich es ehrlich gesagt kaum
> glauben kann.

Folgender Text (Autor: Volker Radke) mag helfen:


Antideutsch für Einsteiger

Antideutsche Positionen sind mit dem Ende der DDR als Reaktion auf die
neuen deutschen Verhältnisse entstanden. Sie wurden vor allem in
linken Zeitungen und Zeitschriften wie »konkret«, »junge welt«,
»jungle world«, »bahamas« und »17°C« von verschiedenen Autoren mit
disparaten theoretischen Orientierungen formuliert. Im folgenden fasse
ich die für mich wichtigsten Argumente und meine eigenen Überlegungen
zusammen. Wie lässt sich eine antideutsche Position begründen?


/Hin zu Auschwitz/

Eine Reihe von Historikern - etwa Reinhard Kühnl und Norbert Elias,
neuerdings Daniel Goldhagen und John Weiss, haben sich die Frage
gestellt, ob es so etwas wie einen deutschen Sonderweg gegeben hat,
der zu Auschwitz geführt hat. Hätten auch die Eliten in anderen
Nationen ihre Bevölkerung dazu motivieren können, einen industriellen
Massenmord auszuführen, oder existierten in Deutschland
Einzigartigkeiten, die seine Eliten und seine Bevölkerung für eine
solche Tat besonders prädestinieren? Die wichtigsten Argumente
verschiedener Wissenschaftler möchte ich hier kurz aufzählen:

- Die »verspätete Nation« Deutschland ist besonders stark von
Nationalismus geprägt, der in hohem Maße mit Antisemitismus verknüpft
ist. Die »Liebe« zu Deutschland war überaus häufig mit dem Haß auf
Juden verbunden, was bis zu Vernichtungswünschen reichte (etwa bei
Martin Luther (1) oder bei Johann Gottlieb Fichte (2))

- Die lange Kleinstaaterei und eine damit verbunden stärkere
Gefährdung durch mächtige Nachbarstaaten hat ein stärkeres
Bedrohungsgefühl durch die Außenwelt bzw. das Ausland hervorgerufen,
das sich v.a. in Krisensituationen bis zu Paranoia steigern
konnte. Eine solche Wahrnehmung der Welt kann sich in bei den Eliten
wie bei der Bevölkerung in »mentalen Traditionen« oder »mentalen
Dispositionen« niederschlagen, die die verursachende historische
Konstellation überleben, da sie auch auf andere Situationen übertragen
- also in der Tendenz generalisiert - werden und natürlich auch von
intelligent agierenden politischen und ökonomischen Eliten
instrumentalisiert werden können. Die »mentale Tradition« erhält eine
Eigendynamik, die natürlich nie zu etwas Überhistorischem werden kann
- unter anderenHerrschaftverhältnissen, einer anderen
Gesellschaftsformation etc. könnten sich diese Haltungen wieder
ändern. Dass dies jedoch bis heute nicht geschehen ist, zeigt sich
etwa in der wahnhaften Angst vieler Deutschen vor britischem
Rindfleisch, afrikanischen Flüchtlingen und Übernahmeversuchen
ausländischer Firmen.

- Die starke Verankerung »preußischer Tugenden« wie Gehorsam,
Pflichterfüllung etc. und die historisch gebildete militaristische
Gesinnung großer Teile der Bevölkerung ist auch von bürgerlichen
Historikern ausführlich dargestellt worden.

- Stark irrationale Tendenzen, etwa in der deutschen Romantik und im
deutschen Idealismus, sind Teil der deutschen Geistesgeschichte und
haben ihre Spuren im Denken der Nationalsozialisten (Politiker wie
Kapitalisten) hinterlassen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant,
etwa deutsche Heldensagen, die häufig in völliger Vernichtung enden
(z.B. das Nibelungenlied) zum einen mit Sagen aus anderen Ländern und
zum anderen mit dem tatsächlichen Verlauf des II. Weltkriegs zu
vergleichen: Untergangssehnsucht hat im deutschen Denken sicher eine
lange Tradition

- Die besondere Situation des deutschen Kapitals (kaum Kolonien, hohes
Wirtschaftswachstum, fehlende Absatzmärkte etc.) verursachten einen
starken Expansionsdrang verschiedener Kapitalfraktionen, ohne den es
sicher keinen der beiden Weltkriege gegeben hätte. Diese und andere
ökonomische Aspekte können den Faschismus auch in anderen Nationen wie
Italien und die Weltkriege sicher zum guten Teil erklären, reichen
aber nicht für den Judenmord aus, da sie auch andere Länder wie
Italien und Japan betreffen, die »nur« faschistisch, aber eben nicht
in dem Maße völkermörderisch waren wie Deutschland. Hierfür sind zum
einen die antisemitische Tradition in Deutschland und zum anderen ein
besonderes »deutsches« Verständnis von Kapitalismus, in dem die
Produktion (das »schaffende« Kapital) mit den nichtjüdischen Deutschen
und die Zirkulationssphäre (das »raffende« Kapital) mit den Juden
assoziiert wurden. Von der Auslöschung der Juden erwarteten die
Propagandisten dieser Ideologie den Sieg über die Schattenseiten des
Kapitalismus und konnten zahllose Deutsche für dieses »deutsche
Projekt« begeistern (vgl. Holger Schatz u. Andrea Woeldike, Freiheit
und Wahn deutscher Arbeit)

- Wichtig erscheint mir die Tatsache, dass Deutschland - im Gegensatz
zu den USA, England und Frankreich, keine erfolgreich bürgerliche
Revolution zustandegebracht hat. Der Adel war bis ins 3. Reich hinein
sehr einflussreich, und was noch wichtiger ist, die Freiheitswerte des
bürgerlichen Liberalismus konnten keine starke Verankerung in der
Bevölkerung finden. Einiges spricht für die These, »daß sich ein
selbstbewußtes, seinen Erfolg genießendes Bürgertum in Deutschland
einfach nie entwickelt hat. Erst hatten die Bürger Angst vor dem Adel
und vor der Krone, dann hatten sie auch schon Angst vor dem
Proletariat...« (Wolfgang Pohrt, Das Jahr danach, Seite 311). Zwar war
auch in Spanien die bürgerliche Emanzipation gescheitert, jedoch hatte
Spanien nicht die Macht, einen Weltkrieg zu entfesseln - man brachte
dort nur einen »normalen« Faschismus zustande. Ich halte es für
wahrscheinlich, dass die fehlende Verankerung bürgerlicher
Freiheitswerte die Entwicklung in der DDR wie auch anderer Länder
massgeblich beeinflusst hat. Es fällt schwer, sich einen Mussolini
oder Hitler in England oder Frankreich vorzustellen - die dortige
Bevölkerung hatte nicht das entsprechende Bewusstsein, sprich die
erforderliche Bereitschaft zur Unterwerfung, da hier eben bürgerliche
Freiheit- und Gleichheitsswerte im Bewusstsein von Bevölkerung und
Eliten eine größere Bedeutung hatten


/Zur Einzigartigkeit von Auschwitz/

»Um die volle Bedeutung dessen zu begreifen, was diese Männer taten,
müssen wir uns bewußtmachen, daß es sich keineswegs um Individuen
handelte, die eigene, besondere moralische Maßstäbe besaßen. Die
Bürokraten, die mit dem Vernichtungsprozeß befaßt waren, unterschieden
sich in ihrer moralischen Gesinnung nicht vom Rest der
Bevölkerung. Der deutsche Täter war kein besonderer Deutscher.« (Raul
Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, S.1079f.)

»Man muß den Tatsachen ins Auge sehen: Die deutsche Politik und Kultur
hatte sich bis zu einem Punkt entwickelt, an dem die meisten Deutschen
hätten werden können, was eine ungeheure Zahl ganz gewöhnlicher
Deutscher tatsächlich wurde: Hitlers willige Vollstrecker.« (Daniel
Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 531)

Bürokratisch geplanter, industrieller Massenmord in Verbindung mit dem
Versuch, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe auszurotten, ist in der
bisherigen Menschheitsgeschichte einzigartig. Man könnte durchaus den
amerikanischen Siedlern den Willen unterstellen, die Indianer
auszurotten, der Versuch wurde jedoch nicht mit industriellen
»Fließbandmethoden« unternommen, die damals erst entstanden, und, was
wichtiger ist, zum Ende es 19. Jahrhunderts wurde die Ermordung der
amerikanischen Ureinwohner freiwillig beendet - etwas, das die Nazis
nie getan hätten. Manchmal behaupten Gegner der
»Einzigartigkeitsthese«, dass die beiden Atombombenabwürfe der USA auf
Hiroshima und Nagasaki etwas Ähnliches darstellten, hier fehlt jedoch
der Aspekt des Ausrottungsversuchs - die US-amerikanische Regierung
hatte bestimmt nicht vor, alle Japaner zu töten; zudem sind die
Opferzahlen weitaus niedriger.. In den sowjetischen Gulags wiederum
ging es nicht um die »Ausrottung« einer bestimmten Gruppe, auch kann
man die dort verwandten Methoden kaum als »industriell« bezeichnen.

Weiterhin ist die Größe des »deutschen Projektes« eine neue Qualität:
Nach Goldhagen waren mehr als 100.000 Deutsche an der Ermordung der
Juden beteiligt. Die Deutschen suchten die Juden in ganz Europa, um
sie umzubringen (was nicht heißt, dass sie deshalb den Krieg
begannen), und gaben sich noch als die Niederlage längst feststand,
große Mühe, so viele Juden wie möglich zu töten (etwa auf den
»Todesmärschen«).

Eine Zeitlang hielt sich das Argument, man sei bei der Ermordung der
Juden streng rational und ohne immer streng nach Befehl vorgegangen.
Heute wissen jedoch alle, die es wissen wollen, dass dies nur für die
bürokratischen Planer des Judenmords - das klassische Beispiel hierfür
ist Eichmann - zutrifft. Die physischen Vollstrecker des Judenmordes -
SS, Wehrmacht und Polizeidienste sowie das Personal in KZ's und
Vernichtungslagern - sind in unendlich vielen Fällen extrem grausam
vorgegangen, ohne dazu genötigt worden zu sein. Sie taten dies also
oft freiwillig und töteten zahllose Menschen, die noch als
Arbeitskräfte hätten »verwertet« werden können, was auch die Grenzen
der ökonomischen Rationalität des Judenmordes zeigt.

Es gibt wenig, was eindeutiger sein kann als diese Argumente. Sie sind
historisch gut belegt, und ihnen wird - außer von Alt- und Neonazis -
nicht offen wiedersprochen. In dieser Schärfe und Zuspitzung sind sie
aber in öffentlichen Diskursen nicht zu finden.

Das ermöglichte es Politikern wie Joseph Fischer und Rudolf Scharping,
von einem »neuen Auschwitz« und von »Völkermord« im Kosovo zu reden
(übrigens in verblüffender Analogie zu 1939, als der deutsche Angriff
auf Polen gerechtfertigt werden musste (2a)). Sie wussten, dass sie
dies nicht den Tatsachen entsprach - bis heute hat man kein »KZ« im
Kosovo gefunden - aber einer Bevölkerung, die nach Befreiung von
diesem Teil der deutschen Geschichte suchte, konnten sie leicht für
ihre Zwecke instrumentalisieren. Fischer und Scharping ermöglichten es
den Deutschen, Auschwitz an das Ausland loszuwerden - ein Angebot, das
von der Bevölkerung, bis tief in linksalternative und pazifistische
Kreise hinein, gerne angenommen wurde.


/Nach dem II. Weltkrieg/

Wie bestraft man eine Nation, deren Angehörige zwei Weltkriege
begonnen haben, über 60 Millionen Menschen sowie die Verwüstung und
Ausplünderung eines ganzen Kontinents auf dem Gewissen haben, die die
extremste vorstellbare Form des Völkermordes begangen haben, und die
sich damit so weit von allen anderen »zivilisierten« Nationen entfernt
haben, dass Hoffnung auf eine Besserung der Täter nur auf eine
Verhöhnung der Opfer hinauslaufen kann?

In der DDR gab man sich redlich Mühe: man enteignete alle deutschen
Kapitalisten, derer man habhaft werden konnte, brachte einen Teil der
deutschen Industrieanlagen in die verwüstete Sowjetunion, bestrafte
die bekannten und erreichbaren Kriegsverbrecher und versuchte eine
Gesellschaftsordnung zu schaffen, die die Wiederholung des Faschismus
unmöglich machen würde. Dazu brauchte man die Bevölkerung, die deshalb
allzu schnell »entnazifiziert« wurde. Den DDR-Bürgern wurde das
Angebot gemacht, sich als Opfer des Faschismus zu fühlen, was den
vielen Mitläufern sicher moralische Erleichterung verschaffte, ihnen
jedoch die für die Beschäftigung mit den eigenen Taten und
Unterlassungen nötige Motivation nahm. Auch hielt man es nicht für
nötig, Reparationen an den Staat Israel (weil kein eigenständiger
Staat, sondern »imperialistische Speerspitze der USA«) zu zahlen,
sondern unterstützte jene arabischen Staaten, die Israel als ihren
Todfeind betrachteten (2b). Nach dem Ende der DDR stellte sich dann
heraus, dass die Mehrzahl der Zonenbewohner die DDR für die Strafe
gehalten hatte.

In der BRD begannen die Alliierten mit der Anklage und Verurteilung
der Kriegsverbrecher, brachen dieses jedoch vorzeitig ab, da die
politische Lage sich geändert hatte: Westdeutschland wurde in der
Systemauseinandersetzung mit dem kommunistischen Ostblock gebraucht,
so dass die alten faschistischen Eliten eine neue Chance
erhielten. Somit konnte die Mehrzahl der Nazi-Kapitalisten ihr durch
Massenmord, Plünderung und Arisierung erworbenes Vermögen behalten,
das dann zum Grundstock des westdeutschen Nachkriegsaufschwungs
wurde. Dieser Vorgang ist historisch wohl einzigartig: Eine Nation,
die einen ganzen Kontinent mit einem Angriffs- und Vernichtungskrieg
überzogen hat, wird von ihren Gegnern nicht bestraft, sondern vielmehr
wiederaufgebaut!

Wir wissen nicht, was dieser Schritt die Welt noch kosten wird. Wir
können jedoch ahnen, was der Wiederaufbau Deutschlands und die
Nichtverfolgung zahlloser Verbrechen im Bewusstsein der Deutschen
bewirkt hat. Statt Bestrafung der Täter und Entschädigung der Opfer
ließ man zu, dass mit dem durch Mord, Plünderung und Sklavenarbeit
akkumulierten Vermögen plus Marshallplan ein »Wirschaftswunder«
stattfand, das auch die Angehörigen zivilisierterer Nationen als
Deutschland auf dumme Gedanken gebracht hätte.

Was passiert mit Menschen, die für ihre Verbrechen nicht bestraft
werden, sondern im Gegenteil mit dem durch beispiellose Verbrechen
erworbenen Kapital noch weiterarbeiten können?

Meine These ist, dass hierdurch im Unbewussten (bei den überzeugten
Rechten auch im Bewusstsein) zahlreicher Deutscher Überzeugungen
installiert wurden die - in vielen Variationen - etwa folgenden Inhalt
haben: »Man kann diese Dinge (millionenfachen Mord, Weltkriege) tun
und wird dafür nur gering bestraft bzw. sogar belohnt«; »Da die
Bestrafung so milde ausfiel und wir heute wieder so gut dastehen, kann
das, was wir getan haben, nicht so schlimm gewesen sein«; »Wenn wir
nicht wirklich bestraft werden, dann deshalb, weil man uns im (etwa im
Bezug auf Juden, »Untermenschen«, die besondere »Größe« Deutschlands)
Grunde zustimmt«

Natürlich war die deutsche Teilung, der Verlust von Gebieten und die
Bestrafung zumindest eines Teils der Kriegsverbrecher ein Versuch der
Bestrafung, jedoch überwiegen bei weitem die Vorteile: Die
westdeutsche Íkonomie war am Ende des Krieges moderner und
leistungsfähiger als vor seinem Beginn, und auf dieser Basis sowie mit
Hilfe des Marshallplans konnte neu akkumuliert werden.

Bewusste und unbewusste Überzeugungen können unter bestimmten
Bedingungen zu konkretem Verhalten führen, unter anderen
nicht. Manchmal sind sie so gut versteckt, dass man sie kaum
findet. Vor 1989 waren weite Teile der Linken davon überzeugt, dass es
mit den Großmachtambitionen Deutschlands vorbei sei (3). Seit dem
Anschluss der DDR hat sich die deutsche Außenpolitik jedoch dramatisch
verändert. Wir können heute deutlich sehen, dass die bundesdeutschen
Eliten auf die Möglichkeit hingearbeitet haben, wieder Krieg führen zu
können. Sicher wusste Joschka Fischer etwa 1995 nicht, dass er dies
tat. Es erscheint jedoch wahrscheinlich, dass er mit seinem
schrittweisen Abfall vom Pazifismus (wegen Auschwitz haben deutsche
Soldaten in Jugoslawien nichts zu suchen) hin zum Bellizismus (wegen
Auschwitz müssen deutsche Soldaten in Jugoslawien eingreifen)
unbewussten »Programmen« folgte, die nicht nur in ihm, sondern auch in
vielen anderen Deutschen existieren und dabei nur so stark auf das
aktuelle Verhalten einwirken, wie es die Umstände gerade erlauben:
1995 war die Welt, insbesondere Europa, noch nicht soweit, deutsche
Soldaten in Kriegseinsätzen zu akzeptieren, und auch die eigene
Bevölkerung stand dem ablehnend gegenüber. Durch die schrittweise
Veränderung von SPD und Grünen konnte ein großer Teil der Bevölkerung
in die neuen Verhältnisse integriert und auf weiteres vorbereitet
werden. Auch die anderen NATO-Mitgliedsstaaten waren 1999 dazu bereit,
deutsche Soldaten als Kriegsteilnehmer zu akzeptieren. Dies hängt wohl
zum Teil damit zusammen, dass immer weniger Opfer des II. Weltkriegs
leben. Letzten Endes aber bleibt unklar, was die Welt dazu bewegt, die
Deutschen so schnell wieder »von der Leine zu lassen« (Wolfgang
Pohrt).


/Deutscher Nationalcharakter?/

Der Soziologe Wolfgang Pohrt stellte bereits 1990 Eigenschaften an
einer Vielzahl von befragten Deutschen fest, die für entschlossene
Eliten leicht auszunutzen sein dürften:

1 Es gibt nach wie vor starke autoritäre Dispositionen (Sehnsucht nach
einer starken Führungspersönlichkeit, Ablehnung von Freiheitswerten
etc.);

2 Es gibt eine starke Disposition zu pathischer Projektion: Eigene
negative Eigenschaften werden auf andere projiziert und als Bedrohung
empfunden, was zu paranoiden Wahrnehmungen etwa des Auslandes führt;

3 Die Fähigkeit, eigene Verbrechen und Missetaten unentwegt zu
erklären, zu entschuldigen und zu rationalisieren, ist stark
ausgeprägt - die Landsleute sind natürlich gut in Übung, da sie
u.a. zwei Weltkriege wegzurechtfertigen hatten. Man ist darauf
eingerichtet, so etwas bei Bedarf wieder tun zu können;

4 Laut Pohrt kann man zudem »auf eine antizivilisatorische,
antidemokratische Überzeugung schließen, deren unerhörte Einhelligkeit
ferner die ungebrochene Neigung zur freiwilligen Selbstgleichschaltung
verrät, den Hang, sich unbekümmert um die eigenen Erfahrungen und die
eigene Interessenlage zum Sprachrohr der jeweils gerade gängigen
Parolen zu machen« («Der Weg zur inneren Einheit«, S. 270)


/Was wird?/

Aus all dem folgt natürlich nicht, dass die Deutschen zielstrebig ein
neues Auschwitz bzw. neue Weltkriege vorbereiten. Aber: Wir wissen
nicht, wozu die Deutschen heute fähig wären, hätten sie die
Möglichkeit dazu. Schon jetzt wird deutlich, dass Deutschland

- innerhalb der EU die ökonomisch und politisch vorherrschende Macht ist;

- sich immer offener in Konkurrenz zu den USA setzt, jedoch v.a. im
militärischen Bereich noch nicht konkurrenzfähig ist. Osteuropa wird
zunehmend der Hinterhof Deutschlands, so wie Lateinamerika der
Hinterhof der USA ist;

- anscheinend seine nach dem I. Weltkrieg begonnene und unter Hitler
etwa in der Tschechoslowakei betriebene »Volksgruppenpolitik« wieder
aufgenommen hat. Dass Deutschland als erstes Land Anerkennung
Slowenien und Kroatien anerkannt hat, ist kein Zufall, sondern nur ein
herausragendes Beispiel von vielen für eine teils offene, teils
verdeckt betriebene Förderung von völkischen und Sezessionsbewegungen
besonders, aber nicht nur in Ost- und Südosteuropa. Jugoslawien war
das erste Opfer deutscher Bestrebungen, Nationalstaaten in völkisch
organisierte Kleinstaaten zu zerschlagen, andere werden vermutlich
folgen (4).

Darüber hinaus gehende Prognosen sind schwierig. Viel hängt vom
Verhalten des Auslands - v.a. den USA und den anderen europäischen
Staaten - ab. Vielleicht ist man wenigstens dort in der Lage, aus der
Geschichte zu lernen und diesmal rechtzeitig mit dem Appeasement
aufzuhören. Zweifellos hat die derzeitige Exportabhängigkeit
Deutschlands einen zivilisierenden Einfluss, zumindest was die
Ambitionen des deutschen Kapitals betrifft.

Auch kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass in Deutschland
irgendwann einmal nennenswerter Widerstand gegen erneute
Großmachtambitionen entstehen wird, jedoch geben die Erfahrungen der
Antikriegsbewegung während des Kosovokrieges nicht den mindesten
Anlass zu einer solchen Hoffnung.


/Grundsätzlich/

Dass die Deutschen nach dem Anschluss der DDR eine neue Chance
erhielten, zur Großmacht aufzusteigen, könnte die Vorbereitung einer
Katastrophe gewesen sein. Nach dem II. Weltkrieg war der kulturelle
und politische Zusammenhang Deutschland so delegitimiert, dass die
Alliierten einen Schlussstrich hätten ziehen müssen. Es wäre durchaus
möglich gewesen, etwa die deutschen Gebiete den Nachbarländern
zuzuschlagen, u.a. Polen, das seine Bevölkerung verloren hatte.

Deutschland ist das Land, das es nicht mehr geben dürfte.

Es gibt derzeit nicht die Chance einer Systemumwälzung hin zu einem
neuen, besseren Sozialismus. Es gibt aber die USA, die eine blutige
Geschichte hinter und wohl auch vor sich haben, bei deren Bevölkerung
und gesellschaftlich Herrschenden jedoch (Todesstrafe hin, Rassimus
her) zivilisatorische Grundwerte stärker verinnerlicht sind als in der
»Kulturnation« Deutschland. An Amerika - seiner ökonomischen Macht und
seinem »kulturellen Imperialismus«, der die in einem erschreckenden
Maße nazifizierte ostdeutsche Jugend leider viel zu wenig infiltriert
hat - kommt Deutschland derzeit noch nicht vorbei.

Dies ist die beste Hoffnung, welche Antifaschisten derzeit haben.


/Anmerkungen/

(1) «Man soll erstens ihre Synagogen verbrennen und dem Erdboden
gleichmachen, zweitens ihre Häuser zerstören und sie wie die Zigeuner
unter Dächer und Ställe tun ..., damit wir Deutschen in
geschichtlicher Begründung auch wissen möchten, was ein Jude sei,
unser Christentum vor ihnen als dem Teufel selbst zu warnen.«(Martin
Luther, »Tischreden«)

(2) «Aber ihnen die Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens
kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe
abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch keine jüdische
Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein
anderes Mittel, als ihnen das gelobte Land zu erobern, und sie alle
dorthin zu schicken.« (Fichte, zitiert nach Otto Köhler »Unter
Deutschen« in konkret 10/96)

(2a) Auswärtiges Amt, September 1939: »Die deutsche Regierung hat,
ergriffen vom Leid der von Polen gequälten und unmenschlich
behandelten Bevölkerung, dennoch fünf Monate lang geduldig zugesehen,
ohne auch nur einmal gegen Polen eine ähnlich aggressive Handlung zu
betätigen. Sie hat nur Polen gewarnt, dass diese Vorgänge auf die
Dauer unerträglich sein würden« (zit. Nach Hannes Hofbauer:
Balkankrieg, S. 170). »'Am vorigen Sonntag', schrieb der deutsche
Generalkonsul in Thorn am 28. August 1939 an sein Auswärtiges Amt,
'hielten die Polen die Stunde für gekommen, um Rache an der deutschen
Bevölkerung zu nehmen. Im Rahmen der Evakuierungsmaßnahmen wurde der
größte Teil der Volksdeutschen wie ein Herde zusammengetrieben und ins
Innere des Landes in Marsch gesetzt. ... Eine schwangere Frau, die
einfach nicht mehr weitermarschieren konnte, wurde von der
Begleitmannschaft so schwer geschlagen, daß sie frühzeitig niederkam
und dabei verstarb. Die Volksdeutschen dürften in eines der
zahlreichen Konzentrationslager getrieben worden sein.'

(2b) Ich möchte nicht unterstellen, dass der ausschlaggebende Grund
hierfür Antisemitismus gewesen ist. Laut Angelika Timm war die
Israelpolitik der DDR nur bis zu Stalins Tod antisemitisch
geprägt. Was bis zuletzt blieb, war jedoch die Unfähigkeit der
DDR-Führung, den Staat Israel als Ergebnis der Judenvernichtung zu
begreifen. »Andererseits hat die SED seit Ende der sechziger Jahre
versucht, extremistische Politiker in den arabischen Staaten und in
der PLO, die sich für die Zerstörung Israels aussprachen, zu
beschwichtigen oder zu isolieren«(Angelika Timm). Allerdings muss auch
darauf hingewiesen werden, dass die DDR noch 1988 einen Staat
»Palästina« anerkannte - zwei Jahre vor der Sowjetunion.

(3) Wir wissen allerdings heute, dass es in der BRD seit Anfang der
50er Jahre Planungen für eine Wiedervereinigung gegeben hat, die sich
zum Teil verblüffend mit dem decken, was später tatsächlich gemacht
wurde (vgl. Etwa Karl Heinz Roth »Anschließen Angleichen
Abwickeln. Die westdeutschen Planungen für die Übernahme der DDR
1952-1990«)

(4) vgl. hierzu: Walter von Goldendach u.a.: Von Krieg zu Krieg. Die
deutsche Außenpolitik und die ethnische Parzellierung Europas.

*

Als Ergänzung zu meinem Text »Antideutsch für Einsteiger«, der eine
systematische Einführung in das Thema ist, antworte ich im folgenden
auf die übliche Kritik an der antideutschen Linken, wie sie von
anderen Linken und Linksliberalen geäußert wird. Grundsätzlich sollte
man keine Abitur haben müssen, um gegen Deutschland sein zu können.

Die grundlegenden Argumente sind sehr einfach, da Deutschland und
seine Geschichte so übel sind, dass man keine besondere Ausbildung
benötigt, um dieses zu bemerken. Es erfordert im Gegenteil eine
besondere intellektuelle Zurichtung, um sich und andere über die
deutschen Verhältnisse täuschen zu können. Da Politik und Massenmedien
dieser Aufgabe effizient und zuverlässig nachkommen, ist es leider
erforderlich, hier auf einige Selbstverständlichkeiten hinzuweisen,
die antideutschen Linken sicher klar sind, darüber hinaus jedoch kaum
Verbreitung gefunden haben.

(letzte Überarbeitung: 9.9.01)


/Zur Kritik an antideutschen Positionen/

»Antideutsche übersehen, dass es überall in Europa Rassismus und
neofaschistische Erscheinungen gibt, nicht nur in Deutschland.«

Kein Antideutscher würde bestreiten, dass es auch in anderen Ländern
Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Faschisten en masse gibt,
und zwar ziemlich flächendeckend dort, wo Kapitalismus herrscht.

Gleichzeitig gibt es wesentliche Unterschiede, auf die verschiedene
Autoren schon vor Jahren hingewiesen haben

Wolfgang Pohrt schrieb 1991 über einige dieser Unterschiede:

»In Polen gabe es vor dem [2.Welt-] Krieg einen widerlichen
Antisemitismus, aber die Juden stellten auch einen nennenswerten
Anteil an der Bevölkerung - der klassische Fall von modernem
Tribalismus. Die Nation zerfällt in Religionsgemeinschaften oder
ethnische Kollektive, die es in der bürgerlichen Gesellschaft ihrem
Begriff nach gar nicht mehr geben dürfte, und der Mensch benimmt sich
wie das liebe Vieh, d.h. ein Stamm will den anderen aus seinem Revier
vertreiben. In Deutschland war das anders. Da betrug der Anteil der
Juden an der Bevölkerung 1 Prozent, die meisten Deutschen dürften
keinen Juden persönlich gekannt haben. Nur 10 Prozent der Juden, die
von den Deutschen umgebracht worden sind, haben die Deutschen im
eigenen Land gefunden, die anderen haben sie in ganz Europa aufsuchen
müssen. In Polen also ein Antisemitismus, dessen Praxis nach dem
Modell der Wirtshausschlägerei funktioniert, in Deutschland Spürtrupps
und Exekutionskommandos.

Analog dazu betragt der Ausländeranteil heute in der ehemaligen DDR 1
Prozent, eine Zahl, die man nicht oft genug wiederholen kann... In
London, Paris und Marseille gibt es ganze Stadtteile, in denen nur
Araber wohnen, und wenn es dort zu Feindseligkeiten kommt, ist das
wieder der klassische Fall von modernem Tribalismus. In der Zone
dagegen sind die Ausländer kein Kollektiv, sie sind verstreute
Einzelne, an denen man sich im Alltag nicht reiben kann, die man
vielmehr erst aufspüren muß, um sie quälen und töten zu können. » (aus
»Das Jahr danach«)

Ergänzend hierzu Hermann Gremliza 1993:

»Rassismus, Xenophobie, die gibt es tatsächlich überall, auch in den
Nachbarländern. Aber fällt wirklich niemandem der eine Unterschied auf
zwischen den Straßenschlachten, die in England und auch in Frankreich
geschlagen werden, bei denen sich Kerle gleichen Alters, gleicher
Stärke und vergleichbarer Bewaffnung offen entgegentreten und einander
die Figur polieren, und den Tausenden durchweg heimtückischen
Anschlägen hierzulande, deren Opfer ja nicht zufällig fast immer nur
Frauen und Kinder werden?«

Ich empfehle jedem, der daran zweifelt, hierzu Zeitungsmeldungen zu
studieren. Wer eine Meldung mit einem Titel wie »Straßenschlacht
zwischen rechten und ausländischen Jugendlichen in Frankfurt« findet,
möge mir eine Mail schicken, denn solche Meldungen sind in Deutschland
selten, und ich lerne gerne dazu. Die Meldungen, die man in
Deutschland liest, funktionieren fast immer nach dem Schema »20 rechte
Jugendliche hetzen einen Afrikaner durch die Innenstadt - niemand
greift ein«. Im Ausland überwiegt bei weitem das Prinzip »Prügelei
zwischen rechter und ausländischer Gang«, während
Vernichtungsoperationen des rechten Mobs nur einen Bruchteil der
Vorfälle ausmachen.

(für Fans des Kritischen Rationalismus: Eine gegenläufige Meldung
falsifiziert gar nichts, denn ich habe eine Wahrscheinlichkeitsaussage
getroffen, wenn auch eine entschiedene)

»Manche Antideutsche hypostasieren die USA als zivilisatorisch weiter
fortgeschrittenes Land. Dort gibt es jedoch die Todesstrafe, massiven
Rassismus, jährlich hunderte von toten Mexikanern an der Grenze. Die
USA sind das Land, das nach 1945 die meisten Kriege geführt hat. Die
USA sind die derzeit mächtigste und mörderischste imperialistische
Nation und man darf sich ihnen nicht an den Hals werfen, wenn man
nicht jede vernünftige linke Politik verraten möchte.«

Zu sagen, die USA seien das kleinere Übel, heißt nicht, sich ihnen an
den Hals zu werfen. Hermann L. Gremliza schrieb 1989:

»Die USA waren und sind, spätestens seit dem Korea-Krieg, die bei
weitem aggressivste imperialistische Macht; ihre Opfer zählen nach
Millionen; wer, wie ich, ihr mörderisches, verhaßtes Militär
auffordert, in der BRD zu bleiben und die Reste des Besatzungsrechts
nicht aufzugeben, sondern notfalls mit aller Macht wahrzunehmen, muß
Schlimmeres fürchten: eine große Koalition der Wähler von Kohl,
Mayer-Vorfelder, Schönhuber und Gorbatschow, den Abriß der Mauer, die
Wiedervereinigung, »die Deutschen« und Deutschland, Deutschland über
alles. Ami stay here!«

Wen das noch nicht überzeugt, den möchte ich zu einem kleinen
Gedankenexperiment einladen: Man stelle sich vor, nach dem
II. Weltkrieg wäre zwar der Nationalsozialismus beseitigt und die BRD
wäre eine kapitalistische Demokratie, hätte jedoch die Stellung in der
Welt eingenommen, welche die USA in den letzten Jahrzehnten innegehabt
haben. Get the picture? Hätten die Deutschen an Stelle der USA in
Vietnam mit dem Morden aufgehört? Die USA haben in ihrer Geschichte
meist eine relativ rationale Machtpolitik betrieben und mit
Massenmorden immer dann aufgehört, wenn sie keinen Vorteil mehr
brachten. In Deutschland sieht das anders aus (siehe etwa den Versuch,
die Judenvernichtung noch in den letzten Kriegstagen - nach Hitlers
Tod - zu vollenden). Man kann das natürlich alles auf »die Nazis«
schieben, aber das führt nicht weit: Mehr als 100.000 - nach Goldhagen
in zahllosen Fällen, etwa bei den an den Morden beteiligten
Polizeieinheiten, zufällig ausgewählte - Deutsche (in der Regel keine
Parteimitglieder) haben sich an dem »Projekt Judenvernichtung«
beteiligt und bis zuletzt, als das III. Reich schon praktisch am Ende
war, haben sie ihre Aufgabe mit großem Eifer erfüllt.

Die Deutschen haben seit dem II. Weltkrieg aus meiner Sicht nicht die
weniger mörderische Bilanz, weil man hier die Sonne im Herzen hat,
sondern weil sie a) keine Gelegenheit hatten (alliierte Aufsicht), und
b) es im Interesse einer autonomen Zukunft war, den energischsten
Verfechter von freedom und democracy zu mimen. Diese Zeit neigt sich
nun dem Ende zu, und zwar um so schneller, je mehr sich die
ökonomische, politische und militärische Macht Macht Deutschlands der
der USA annähert.

(Für alle Fans des Kritischen Rationalismus, die gerade darüber
nachdenken, mir etwas ganz Kluges zu mailen: Die Punkte a) und b) und
auch einige andere Statements auf dieser Seite sind keine
wissenschaftlichen Aussagen im Sinne von Poppers Theorie, denn sie
lassen sich nicht falsifizieren. Sie sind spekulativ. Ich könnte
falsch liegen. Und ich weiß es).

»Antideutsch sein ist eine Form des Rassismus, die sich nur nicht
gegen Fremde, sondern gegen die eigene Nation richtet. Antideutsche
sind deshalb nicht besser als andere rassistische Deutsche.«

Hierauf hat Wolfgang Pohrt 1993 geantwortet: »Den Deutschen Rassismus
vorzuwerfen heißt gerade nicht, der großen, starken Partei zu
erklären, eine andere, kleinere, schwächere sei schuld. Das aber ist
das Funktionsprinzip aller rassistischen Demagogie... Den Deutschen
Rassismus vorzuwerfen heißt, die Schuld bei der Mehrheit zu suchen,
statt bei irgendwelchen Minderheiten und kleinen Randgruppen.«

Man könnte hinzufügen: Antideutsche zünden keine von Deutschen
bewohnten Häuser an, fordern keine Abschaffung des Asylrechts für
Deutsche, haben mit gleichen Rechten für Deutsche und Nichtdeutsche
überhaupt kein Problem, und sind ansonsten auch gar nicht so übel!

»Antideutsche unterstellen, die Deutschen besäßen einen
unveränderbaren, überhistorischen »Nationalcharakter«, was im Grunde
eine rassistische Position ist. Menschen aber verändern sich ständig
mit den Umständen, entscheidend sind Erziehung und gesellschaftliche
Verhältnisse.«

Ich kenne keine Antideutschen, die den Deutschen jegliche
Veränderungsfähigkeit absprechen. Andererseits sind Menschen aber auch
keine »black boxes«, denen man nur den richtigen »input« verpassen
muss, damit sie sich in die gewünschte Richtung ändern. Es gibt so
etwas wie Charakterstruktur und deren Tradierung über Generationen
hinweg, sprich Mentalitätsgeschichte. Auch wenn es reaktionäre
(biologistische, unhistorische) Definitionen von »Nationalcharakter«
geben mag, gibt es ebenso fortschrittliche, wie die von Reinhard
Kühnl, der »Nationalcharakter« begreift »als ein Ensemble von Denk-
und Verhaltensformen, von Gewohnheiten und Mentalitäten..., das sich
als Produkt bestimmter historischer Bedingungen und Erfahrungen
herausgebildet hat, also... als Resultat der Geschichte und nicht der
Biologie. Einmal entstanden, entwickelt ein solcher Nationalcharakter
dann freilich eine gewisse Eigendynamik, wird selber zur geschichtlich
wirkenden Potenz, modifiziert sich aber gleichwohl permanent durch
neue Bedingungen und Erfahrungen, ist also niemals nur fertiges
Faktum, sondern immer auch Prozeß.«

Gerade die Geschichte der DDR, wo die die aus Exil und KZ
zurückgekehrten Antifaschisten »im fast aussichtslosen Kampf gegen 17
Millionen auf verlorenem Posten« (Wolfgang Pohrt) standen, hat
übrigens gezeigt, wie resistent Menschen gegenüber Versuchen der
»Umerziehung« sein können. Die »deutschen Verhältnisse« haben bisher
noch jeden Versuch der Aufklärung überdauert, was keine Voraussage für
die Zukunft sein soll - ich würde mich freuen, würden sich diese
ändern. Der Glaube daran, den Deutschen etwa mit den »besseren
Argumenten« à la Habermas beizukommen, ist nichts als die Vorbereitung
von Enttäuschung, die dann bei allzu vielen Linken in die
Entpolitisierung und manchmal auch zu Schlimmerem führt.

»Antideutsche überschätzen die Bedeutung der Nationalität auf
Verhalten und Einstellungen von Menschen. Wichtiger ist die
Klassenzugehörigkeit.«

Keineswegs soll die Bedeutung der Klassenzugehörigkeit, sowohl an sich
als auch erst recht für sich, hier negiert werden. Es bleibt jedoch
Fakt, dass in entscheidenden Momenten der deutschen Geschichte die
Klassenzugehörigkeit hinter dem Deutschsein zurückstehen musste: 1914
stimmte die damalige Arbeiterpartei SPD den Kriegskrediten zu, und die
SPD-Abgeordneten sangen im Reichstag die Nationalhymne. Saul Padover ,
der 1944/45 zahlreiche Deutsche interviewte, beobachtete, dass bis zum
Ende des II. Weltkriegs selbst Kommunisten und Sozialdemokraten
anstandslos in den Fabriken mitarbeiteten und es praktisch keine
Sabotageakte gab. Diese Menschen waren gegen Hitler, es hatte jedoch
kaum Folgen für ihr Verhalten. Deshalb kann man sich in Deutschland
dann, wenn Widerstand gegen den Faschismus zu leisten ist, nicht auf
den Faktor Klassenzugehörigkeit verlassen. Das würde womöglich wieder
schiefgehen, und das sollte man der Welt nicht antun, vor allem als
von gutem Willen beseelter Linker. Es ist für Herrschende immer von
großer Wichtigkeit, das Entstehen einer Arbeiterklasse »für sich« zu
verhindern, und es wäre eine ziemliche Überraschung, wenn dieses so
völlig erfolglos geblieben wäre. Auch wenn man als wackerer linker
Geschichtsphilosoph davon ausgeht, dass in letzter Instanz Fragen der
Klassenzugehörigkeit den Ausschlag geben werden, kann man ohne
weiteres zugestehen, dass bis dahin andere Faktoren die
ausschlaggebende Rolle spielen können.

»Antideutsche sind im Grunde Menschen, die sich selbst hassen. Man
kann sich nur selbst achten, wenn man seine nationale Identität
annimmt.«

Nachdem ich kurz nach nebenan gegangen bin, um mich ein wenig
auszupeitschen, fühle ich mich in der Lage, auch hierauf zu antworten.

Grundsätzlich ist es der Traum aller Herrschenden, eine so tiefe
Identifikation von Menschen mit ihrer Nation zu erzeugen, dass deren
Selbstachtung, gar ihre Liebefähigkeit hiervon abhängt. Widerstand
besteht auch darin, die Identifikationsangebote der Nation, welcher
man angehört, zurückzuweisen.

Natürlich werden wir geprägt von der Nation, in der wir aufwachsen,
von unseren Eltern, unserer Familiengeschichte etc. Gleichzeitig gibt
es die Möglichkeit der Selbsterziehung. Wir tragen letztlich die
Verantwortung dafür, uns zu ändern, wenn wir Dinge an uns feststellen,
die wir nicht mögen.

Eine ganze Menge der Eigenschaften, die Deutschen zugeschrieben
werden, sind Merkmale, die für sich genommen harmlos sind. Worauf es
ankommt, ist u.a.: Gibt es

- die Sehnsucht nach einem starken Führer?

- die Bereitschaft zu »pathischer Projektion«?

- die Bereitschaft, eigene Missetaten zu verdrängen und
wegzurationalisieren?

- eine antizivilisatorische Grundhaltung? (diese Merkmale vgl.
»Antideutsch für Einsteiger«)

Wer diese Eigenschaften bei sich selbst nicht aufweist, hat sich das
Recht verdient zu sagen, dass er zwar ein »Deutscher an sich«, sprich
Inhaber eines deutschen Passes, jedoch kein »Deutscher für sich«, also
Inhaber einer deutschen Identität ist.

Das Gerede über die »nationale Identität« hört man hierzulande seit
den 80er Jahren, und zwar auch aus linksliberalen Kreisen. Deren
Variante finden wir etwa bei Jürgen Habermas, der schrieb:

»Nach Auschwitz können wir nationales Selbstbewusstsein allein aus den
besseren Traditionen unserer nicht unbesehenen, sondern kritisch
angeeigneten Geschichte schöpfen«

Hierzu bemerkte Wolfgang Pohrt seinerzeit (1987), dass Habermas »sich
den Einwand gefallen lassen muss, dass noch unverfrorener als die
Verharmlosung der Vergangenheit nur der Wille ist, aus einer nicht
verharmlosten Vergangenheit nationales Selbstbewusstsein zu schöpfen.
Fast rührend erscheint daneben in ihrer unvermeidlichen
Stümperhaftigkeit die Geschichtsklitterung der Nationalkonservativen,
die sich immerhin den Blick dafür bewahrt zu haben scheinen, dass aus
der Vergangenheit, wie sie wirklich war, sich ein brauchbares
nationales Selbstbewusstsein beim besten Willen nicht zu destillieren
läßt und die deshalb zum Mittel der Retusche greifen. Wenn im
Unterschied Habermas es wagt, Auschwitz und nationales
Selbstbewusstsein in einem Atem zu nennen, wenn er den seichten
pädagogischen Imperativ »kritische Aneignung« als zweckdienliches
Mittel betrachtet, die deutsche Geschichte inklusive Auschwitz als
Quelle für nationales Selbstbewusstsein, zu erschließen, dannn
deshalb, weil die Verleugnung oder Verharmlosung von Auschwitz für ihn
den Teilverlust jener nationalen Identität bedeuten würde, zu welcher
er sich mit besorgniserregender Vehemenz bekennt, wenn er postuliert,
was das Ausland oder der Himmel verhindern möge: 'Wir müssen also zu
unseren Traditionen stehen, wenn wir uns nicht selber verleugnen
wollen'. Weit radikaler noch als sein Gegner verwirft Habermas die
nationale Selbstverleugnung, obgleich der selbstverleugnende Vorsatz,
anders zu werden, als man ist und zur eigenen Tradition nicht zu
stehen, sondern mit ihr zu brechen, von jedem Taschendieb erwartet
werden darf und viel mehr noch von einem Kollektiv, dessen
Sündenregister die fabrikmäßig betriebene Massenvernichtung von
Menschen einschließt.« Volker Radke


Maurice Merlin

unread,
May 7, 2004, 11:16:59 AM5/7/04
to
Udo Winterstein <udo_win...@yahoo.de> schrieb:

> erzählen die Quatsch mit Soße oder ist das wirklich eine innerlinke
> Bewegung ?


Auszug aus: DIE ANTIDEUTSCHE IDEOLOGIE


Wer Antisemit ist, bestimmen wir

Identitätslogik als Verfahren der denunziatorischen Zuschreibung

Von Robert Kurz

Die paradoxe Identität von Kritik und Affirmation, wie sie die
„materialistische Aufklärung“ der antideutschen Bürgervernünftler
kennzeichnet, muß angesichts der zeitgenössischen realen Krisenprozesse
die Kritik ins Nirwana setzen und die Affirmation beinhart machen bis
zur Bejubelung der imperialen Militärmaschine. Das bedeutet, daß jedes
Anzeichen praktischen Widerstands, das heißt unterschiedslos jede
Regung sozialer Bewegung, per se abzuwehren, anzuschwärzen und
ideologisch ins Gegenteil zu verkehren ist. Jeder Ansatz realer Kritik
soll madig gemacht und seine Träger in Selbstzweifel gestürzt werden.
Die Folie dafür liefern die Erscheinungen der Barbarei des Kapitalismus
selbst in Vergangenheit und Gegenwart (NS, Islamismus etc.), die vom
Kapitalverhältnis wegpräpariert und den sozialen Kritikbewegungen
generell untergeschoben werden, als wären diese an sich die Träger der
Barbarei gegen das „zivilisatorische“ Kapital. Dieses Vorgehen muß sich
zuspitzen, je mehr sich die kapitalistische Weltkrise verschärft und je
deutlicher wird, daß in den Grenzen der Aufklärungsvernunft nicht nur
keinerlei emanzipatorischer Gedanke mehr gefaßt werden kann, sondern
diese „objektive Vernunft“ unter Einschluß ihrer sämtlichen
Nationalformen selber die Barbarei ist. In die Enge ihres eigenen
Formprinzips getrieben, treten die Aufklärungsvernünftler die militante
Flucht nach vorne an, die offiziellen imperialen Ideologen ebenso wie
ihre antideutschen Hiwis.

Zwar versuchen diese Hiwis, um in der Linken ein Alibi vorweisen zu
können, sich des Begriffs der Kritik schlechthin zu bemächtigen, indem
sie ständig wiederholen, daß einzig ihr Denken „wahre“ Radikalität
beanspruchen könne. Aber indem sie die angeblich radikale Kritik an die
bürgerliche „objektive Vernunft“ gekettet, zum sekundären Moment
degradiert, in einen ahistorischen Raum gesetzt und damit entwirklicht
haben, während der „Kairos“ ihres immerwährenden „Jetzt“ nichts als die
ordinäre Parteinahme für die imperiale Weltpolizei hervorbringt, vermag
diese Scheinkritik am Kapitalverhältnis allein ihnen keinen Einfluß zu
verschaffen. Was sie gegen den Kapitalismus noch zu sagen haben (und im
selben Atemzug schon zurücknehmen) ist offensichtlich
vernachlässigenswert. Wirksamkeit kann die antideutsche Ideologie daher
nur gewinnen, indem sie die Kraft der Negation pervertiert, also diese
mit der Schläue der begriffshubernden Wesensschau gegen die
Unzulänglichkeit der realen Kritik kehrt: nicht um diese zulänglich zu
machen, sondern um sie von „links“ abwürgen zu helfen.

Die Vorgehensweise, die sich dafür anbietet, ist die Methode der
Denunziation. Dabei changieren die antideutschen Hardliner zwischen den
beiden verschiedenen Bedeutungen dieses Begriffs. Denunziation ist
bekanntlich einerseits der heimtückische Verrat, die Auslieferung von
widerständigen Menschen an die herrschende Macht. In der Übertragung
dieses Bedeutungsgehalts auf die bürgerliche Öffentlichkeit ist
Denunziation das Anschwärzen von unliebsamen Personen, der Rufmord, das
„Anhängen“ von so nie begangenen Verfehlungen durch Lügen,
Halbwahrheiten und Verdrehungen. Andererseits kann Denunziation auch in
einem ganz anderen, emanzipatorischen Sinne verstanden werden, nämlich
als das offene Anprangern der repressiven herrschenden Macht, als
Denunziation der schlechten Verhältnisse und ihrer Hüter. In dieser von
Marx gelegentlich gebrauchten Bedeutung hat Denunziation etwas
Befreiendes, schwärzt sie nicht an, sondern sagt, was ist, auch gegen
alle bürgerliche „Klugheit“; macht sie die Schmach der Geducktheit und
der affirmativen Heuchelei, wie Marx sagte, „noch schmachvoller“, indem
sie diese Schmach publiziert.

Der perverse Charakter der antideutschen Agitation besteht gerade
darin, daß sie diese beiden Bedeutungen vermengt und in einer Pose, als
würde sie im emanzipatorischen, befreienden Sinne schmachvolle
Geducktheit denunzieren, gerade jeden Ansatz praktischer Kritik und
ebenso jede kritische Theoriebildung denunziert, die von ihrer paradox
auf die bürgerliche (Anti)Vernunft zurückgebundenen Version abweicht;
und zwar hemmungslos mit genau jener Perfidie, wie sie rufmörderischen
und anschwärzenden denunziantischen Agenten der herrschenden Macht
zukommt.

Die Voraussetzungen für diese Vorgehensweise sind eben das
Unmittelbarkeitsdenken, das Ausblenden von Empirie und Geschichte und
der „ideologiekritische“ Reduktionismus, der selber zutiefst
ideologisch ist. Erst vor dem Hintergrund dieser reduktiven und
deutsch-ideologischen Voraussetzungen, die zum „theoretischen Gewissen“
der gesamten einschlägigen antideutschen und vom antideutschen Denken
kontaminierten linken Szene gemacht worden sind, kann sich die
denunziatorische Agitation entfalten. Denn erst dieser systematische
Ausblendungsmechanismus ermöglicht eine identitätslogische
Gleichsetzung von Ungleichnamigem, um in einer auf ahistorische
Ideologie reduzierten Welt alles unliebsame Denken außerhalb des
eigenen und alle unliebsame, weil heute schnell an die Grenzen der
bürgerlichen Vernunft stoßende soziale Bewegung als angeblichen
„Antisemitismus“ und „Nationalsozialismus“ identifizieren zu können.

Identitätslogik heißt nichts anderes als das wesentliche Verfahren des
Verwertungsprozesses, alle Gegenstände und Beziehungen gleichermaßen
negativ identisch zu machen, indem sie unabhängig von ihrer
unterschiedlichen Eigenqualität auf gleichnamige Erscheinungsformen der
Wertabstraktion reduziert werden. Unter dem Zugriff dieser
gesellschaftlichen Realabstraktion verwandeln sich alle Gegenstände in
bloße Quantitäten einer einzigen identischen Substanz. A = A heißt in
diesem Sinne, daß alles Beliebige immer schon qualitativ gleichermaßen
A ist und sein muß, gewissermaßen das Ur-A der Wertform, also nichts
als gleich-gültige Materiatur des einen und einzigen substantiellen
Wesens Wert. Der destruktive und repressive Charakter dieses
unaufhörlichen realabstraktiven Angleichungsprozesses, der die Dinge
nach seinem Muster zurechtstutzt ohne Rücksicht auf Verluste,
wiederholt sich in der ideellen (ideologischen) Reproduktion dieses
Prozesses.

Die antideutsche Ideologie bildet geradezu einen Musterfall dieser
Vorgehensweise. Wie das Kapital immer schon jeden „produktiven“ Zugriff
unabhängig vom wirklichen Inhalt in die identische Relation der
Wertabstraktion setzt (betriebswirtschaftliches Kalkül), und wie auf
dem universellen Markt immer schon Äpfel, Hosen und Handgranaten in die
identische Form von Wert, Geld und Preis gesetzt werden, so geht der
Drang der antideutschen Ideologie dahin, in denunziatorischer Absicht
sowohl unterschiedliche Kontexte von Aussagen als auch unterschiedliche
Aussagen selbst auf einen identischen, negativen Nenner zu bringen, als
scheinbare Allzweckwaffe einer totalen Selbstbehauptung im
Distinktionskampf um die Interpretation der kapitalistischen
Verhältnisse. Auch hier ist alles identisch „A“, egal ob Attac,
Islamismus, Nazis oder „Nürnberger Wertkritik“; in den eigenen Worten
der Antideutschen: „...der Nachbar und die Regierung, der Robert Kurz
und der Horst Mahler, der Papst und die Imame...“ (Redaktion Bahamas
u.a., Gegen die antisemitische Internationale, Aufruf zur antideutschen
kommunistischen Konferenz, Juni 2003).

Das identitätslogische Vorgehen als denunziatorisches
Zurechnungsverfahren entspricht der kapitalistischen Reproduktionslogik
nicht zufällig, denn diese bildet ja, zur „objektiven Vernunft in der
Geschichte“ geadelt, den positiven Bedingungsgrund dieses Denkens, das
als ideologische Vorwärtsverteidigung des Wertsubjekts in dessen Krise
agiert. Den Startschuß für dieses Verfahren gab beim zweiten Golfkrieg
1991 der Publizist Wolfgang Pohrt, als er in der damals zuerst sich
linksbellizistisch und proimperial outenden Zeitschrift „Konkret“
folgende, seither von den antideutschen Denunzianten immer wieder neu
kolportierte Zuordnung vornahm: „(Wenn) die Autonomen hier nocheinmal
unter der Nazi-Parole >Kein Blut für Öl< den Zusammenhang von Militanz
und völkischem Bewußtsein demonstrieren – dann vergeht auch mir zur
Polemik die Lust...Das Wort vom Linksfaschismus stellt sich als
Untertreibung dar, weil man sich die Vorsilbe >Links< sparen kann, und
die Regel lautet: Je weiter links einer stand, ein desto engagierterer
Nazi ist er nun, alle politischen Gliederungen sind erhalten geblieben,
haben aber das Vorzeichen gewechselt, man braucht keine Phantasie mehr,
um sich die Antiimpis oder die Autonomen als Volkssturmabteilungen der
Hitlerjugend oder als Verbände der Aktion Werwolf vorzustellen“
(Wolfgang Pohrt, Musik in meinen Ohren, in: Konkret 3/1991, S. 14 f.).

Schon diese ursprüngliche Matrix der antideutschen Denunziation trägt
alle Züge der falschen identitätslogischen Zuordnung. Die
Friedensbewegung wird nicht als Friedensbewegung kritisiert, zum
Beispiel wegen ihres bloß moralisierenden Pazifismus, wegen der
Elemente eines kulturalistischen Antiamerikanismus, ihrer verkürzten
Kapitalismuskritik usw., sondern als unmittelbare Nazi-Bewegung
identifiziert und denunziert. Das Mittel dieser identitätslogischen
Gleichsetzung ist zum einen natürlich der falsche historische
Analogieschluß, wie er überhaupt das Markenzeichen der antideutschen
Ideologie geworden ist: Alle Konflikte, egal worum es geht, werden
gewaltsam in das Muster des Zweiten Weltkriegs und der Anti-Hitler-
Koalition gepreßt. In Wirklichkeit ist natürlich kein einziger der
Kriege nach 1945 mit der Konstellation des Zweiten Weltkriegs
gleichzusetzen, weil es sich um ganz andere historische und
gesellschaftliche Bedingungen handelt.

Zum andern wird ein bestimmtes Merkmal, etwa antiamerikanische Töne,
herausgefiltert und fürs Ganze genommen, um die identitätslogische
Gleichung scheinbar aufgehen zu lassen: Die Nazis waren
antiamerikanisch, die Friedensbewegung ist antiamerikanisch, also ist
die Friedensbewegung eine Nazi-Bewegung. Das ist ein klassischer
logischer Fehler, ein Fehler im Syllogismus, etwa nach dem Beispiel
zahlloser Logik-Lehrbücher: Sokrates ist sterblich, Ochsen sind
sterblich, also ist Sokrates ein Ochse. Beliebige einzelne Merkmale
können nicht zur Conclusio des Syllogismus kombiniert werden. In Bezug
auf den Krieg ist es zum Beispiel ein wesentlicher Unterschied zwischen
Nazis und Friedensbewegung, daß letztere eben einem moralischen
grundsätzlichen Pazifismus folgt, was man von den Nazis beim besten
Willen nicht behaupten konnte.

In gewisser Weise ist es genau das, was die realgesellschaftliche
Identitätslogik des Werts macht: Ungleichnamiges gleich setzen nicht
nach tatsächlichen qualitativen Eigenschaften, ohne den qualitativen
Unterschied zu ignorieren, sondern eine brutale Identifizierung nach
einem transzendentalen Wesensbegriff, der die qualitativen Unterschiede
willkürlich einebnet. Insofern könnte man die gesellschaftliche
Realabstraktion des Werts gewissermaßen als einen weltzerstörenden
logischen Fehler betrachten, der allerdings nicht zufällig bei
einzelnen Bestimmungen auftritt, sondern universellen Charakter hat.

Drittens wird dieser logisch falsche Schluß durch rein assoziative
Zuordnungen gestützt. Ist etwa das Element eines kulturalistischen
Antiamerikanismus noch eine reale Schnittmenge von Friedensbewegung und
Nazi-Ideologie, die zwar Kritik, aber keinesfalls einen Schluß im Sinne
des Syllogismus rechtfertigt, so folgt die Nazi-Zuordnung der Parole
„Kein Blut für Öl“ einer völlig gewaltsamen Assoziation, die allein mit
dem Reizgehalt des Wortes „Blut“ spielt. Daß diese Parole
vulgärmaterialistisch den Krieg auf das Ölinteresse reduziert, wäre als
typische Verkürzung des traditionellen marxistischen Antiimperialismus
zu kritisieren; aber das gäbe keine Nazi-Zuordnung her, und deshalb muß
die antideutsche Denunziation das „Blut“ assoziativ aufladen. Der
pazifistischen Verwendung des Wortes „Blut“, die mit der Assoziation
von Tod und Verstümmelung bei militärischen Auseinandersetzungen
operiert, wird eine Assoziation von „Blut“ untergeschoben, wie sie etwa
in der Nazi-Parole „Blut und Boden“ erscheint. Damit ist die
identitätslogische Setzung natürlich bei der blanken Willkür angelangt,
denn mit demselben Recht könnte man ganz beliebige Begriffe und sogar
sprachliche Funktionen entsprechend zuordnen, etwa nach dem Muster: Die
Nazis verwenden Adverbia, die Friedensbewegung verwendet Adverbia, also
ist die Friedensbewegung eine Nazi-Bewegung. Oder noch besser: Die
Nazis sprachen deutsch, die Antideutschen sprechen deutsch, also sind
die Antideutschen Nazis. Wie wäre es damit?

Dabei bezieht sich der falsche Syllogismus nicht bloß auf tatsächliche
Aussagen und willkürliche assoziative Zuordnungen, sondern auch auf
unterschiedliche historische, soziale oder politische Kontexte und
„Sprechorte“. Zieht die postmoderne Ideologie aus der tatsächlichen
Relativität der „Aussageorte“ die falsche Schlußfolgerung eines
wahrheitslosen unvermittelten Nebeneinander beliebiger Standpunkte, so
eliminiert die antideutsche Ideologie diese tatsächliche Relativität
zugunsten ebenso unvermittelter identitätslogischer Setzungen. Was
erkenntnistheoretisch im einen Fall die Auflösung in einen paradoxen
„absoluten Relativismus“ bedeutet, ist im anderen Fall die
Versteinerung zu einer ebenso paradoxen „absoluten Identität“, die in
Wahrheit willkürlich hergestellt, bloß äußerlich und denunziatorisch
gemacht ist. In gewisser Weise reproduziert sich hier die Verkehrung im
Verhältnis von postmoderner und antideutscher Ahistorizität: Wie sich
das postmoderne Denken auf eine ahistorische Phänomenologie bezieht und
das antideutsche Denken auf ein ebenso ahistorisches „Wesen“, so haben
wir es nun mit einem entsprechenden Verhältnis von Zuordnungs-
Beliebigkeit und Zuordnungs-Absolutismus zu tun.

Sowohl das Relativum als auch das Absolutum sind aber vermittelt, und
zwar negativ durch die Wertform. Die einzelnen Waren sind stofflich
qualitativ verschieden, also insofern bloß relativ vergleichbar durch
das Tertium der sie negativ gesellschaftlich vermittelnden
Wertabstraktion; diese aber setzt sich im Kapital absolut als das
„Wesen“ der unterschiedlichen Qualitäten, mit denen sie sich dennoch
ihrerseits vermitteln muß. Der eine verkürzende Blick sieht nur die
falsche Vielfalt der beliebig nebeneinander stehenden Waren, der andere
nur ihre falsche Wesensidentität als Werte.

Diese doppelte, seitenverkehrte Verkürzung reproduziert sich im
Verhältnis zur Ideologiebildung. Der eine läßt das gemeinsame
Bezugssystem der Wertform/Denkform gänzlich verschwinden, der andere
verabsolutiert es und schließt es kurz mit dem Antisemitismus. Der eine
sieht den Antisemitismus als eine beliebige Denkware neben beliebigen
anderen, der andere sieht in allen Denkwaren (außer der
„vermittlungslosen“ eigenen) nur noch lauter Antisemitismus. Der eine
tut so, als gäbe es den identitätslogischen Formzwang gar nicht, als
hätten wir es mit einer „offenen“ Gesellschaft zu tun, die bloß von
totalitären „Großtheorien“ bedroht sei, ohne selber in ihrer
Fetischform bereits real totalitär zu sein; der andere reproduziert den
totalitären Formzwang als willkürliche identitätslogische Setzung. Der
eine sieht nur noch unterschiedliche „Aussageorte“, ohne sich
Rechenschaft über das gemeinsame Bezugssystem der gesellschaftlichen
Form abzulegen; der andere verwandelt diese Form in eine absolute
denunziatorische Zuordnung, ohne sich Rechenschaft über die
unterschiedlichen „Aussageorte“ etc. innerhalb des gemeinsamen
Bezugssystems abzulegen. Der eine sieht den Wald vor lauter Bäumen
nicht; der andere sieht keine Bäume mehr, sondern nur noch Wald.

Die postmoderne Ideologie neigt also zwangsläufig dazu, den
Antisemitismus und überhaupt die ideologischen Identitäten zu
verharmlosen, die antideutsche umgekehrt dazu, sie in beliebige
Aussagen identitätslogisch hineinzuinterpretieren. Ein Klischee, das
vielleicht antisemitisch konnotiert sein kann, aber keineswegs
eindeutig sein muß (z.B. ein antiintellektueller Affekt) wird so immer
und überall identitätslogisch als „Beweis“ für Antisemitismus genommen,
allein daraufhin angegriffen und mit expliziten Nazi-Aussagen
gleichgesetzt. Und zwar egal, von wem, unter welchen Umständen und vor
dem Hintergrund welcher Geschichte ein Klischee benutzt wird. Mit
anderen Worten: Das Klischee wird nicht als solches in seinem
wirklichen Kontext kritisiert, was immer berechtigt ist, sondern dient
lediglich als Mittelglied des falschen Syllogismus. Und das gilt nicht
nur für tatsächliche Klischees, sondern überhaupt für alle Aussagen,
die den antideutschen Ideologen nicht passen. Ihr Motto lautet: Wer
Antisemit ist, bestimmen wir. Die zunehmend willkürliche
identitätslogische Setzung hängt schließlich gar nicht mehr vom Inhalt
der Aussage ab, sondern allein davon, ob eine Person, Gruppe,
Zeitschrift etc. die antideutsche Ideologie gläubig akzeptiert oder
nicht. Wer gesinnungslogisch „auf Linie“ ist, wird in Ruhe gelassen,
sogar wenn er selber völkische, antisemitismus-kompatible und
rassistische Klischees in anderem Kontext benutzt (etwa gegenüber der
albanischen Bevölkerung des Kosovo, den PKK-Kurden, den Tschetschenen,
Arabern usw.); wer davon abweicht, wird als Nazi und Antisemit
definiert und diffamiert.

Der Gipfel der denunziatorischen Perfidie ist es, daß völlig skrupellos
auch jüdische Menschen mit der identitätslogischen Zurechnung belegt
werden, sobald sie nicht den antideutschen Vorstellungen davon
entsprechen, was „richtige Juden“ denken sollten. Seit mittlerweile
schon einigen Jahren läuft so eine beispiellose Hetze gegen Moshe
Zuckermann, den Direktor des Instituts für deutsche Geschichte an der
Universität Tel-Aviv, einen jüdischen Denker in der Tradition der
Kritischen Theorie Adornos, der jedoch in den Augen der antideutschen
Ideologen das unverzeihliche Verbrechen begeht, ihre kontrafaktischen
Interpretationen der Weltlage und insbesondere der israelischen Politik
unter der rechtsgerichteten Likud-Regierung nicht zu teilen. Somit
verfällt er nach derselben absurden Logik der Einordnung in die
„antisemitische Internationale“ wie rechtspopulistische deutsche
Politiker und deren „israelkritisches“ Gerede: „Man sei nicht gegen die
Juden, man nehme nur sein Recht in Anspruch, auch Israel kritisieren zu
dürfen, ganz wie der Mölle- oder der Zuckermann (!), die NPD oder die
PDS...“ (Redaktion Bahamas u.a., Kommunismus statt Antikapitalismus,
Flugschrift, München 2003).

Eine größere Geschmacklosigkeit als diese widerwärtige Gleichsetzung
des völkisch-neoliberalen Populisten Möllemann, der als Stimmenfänger
auf der Klaviatur antisemitischer Ressentiments spielen wollte, und des
jüdisch-israelischen kritischen Intellektuellen Zuckermann, ist kaum
noch vorstellbar, wobei mit der primitiven Denunziationstechnik der
assoziativen Parallelisierung von gleichlautenden Endungen des
Nachnamens operiert wird. Es sind die Methoden eines Hetzjournalismus
nach dem Muster des „Stürmer“, deren sich die Antideutschen mit einer
außerhalb der NS-Propaganda beispiellosen Hemmungslosigkeit bedienen.

Das identitätslogische Zurechnungsverfahren setzt sich fort in der Form
des logisch und inhaltlich ebenso falschen Umkehrschlusses. „Wenn 87 %
der Deutschen einer Meinung sind, dann muß man dagegen sein“ (Redaktion
Bahamas, Nennen wir die Halunken ruhig beim Namen, in: Bahamas 41,
Berlin 2003, S. 31). Hier wird die Quantität demoskopischer
Umfragewerte assoziativ kurzgeschlossen mit dem Negativ-Attribut
„deutsch“ und so ein rein formales Kriterium festgelegt, das von jedem
Sachgehalt abstrahiert und damit wieder auf einen falschen logischen
Schluß hinausläuft: Eine Mehrheit der Deutschen ist gegen den Krieg,
was deutsche Mehrheiten denken ist immer abzulehnen, also muß man für
den Krieg sein. Das würde dann auch so gehen: Eine Mehrheit der
Deutschen ist gegen die Todesstrafe, deutsche Mehrheiten liegen stets
schwer daneben, also müssen gute Antideutsche für die Todesstrafe sein.
Und das paßt sogar, denn bekanntlich ist das Mutterland von freedom and
democracy in die Todesstrafe geradezu verliebt, und welcher
Antideutsche wollte diesem Aspekt der „Vernunft in der Geschichte“ bei
solch ehrenwerter Protektion widersprechen?

Dasselbe formale Kriterium des logisch falschen Umkehrschlusses, mit
dem die Lage und Tendenz des Weltkapitals nach bundesdeutschen
demoskopischen Werten beurteilt wird, führt natürlich zur ebenso
automatischen Parteinahme für die letzte Weltmacht des Kapitals, weil
eben „der Feind meines Feindes auch mein Freund sein kann“ (Redaktion
Bahamas, Nennen wir die Halunken ruhig beim Namen, a.a.O., S. 31). Auch
hier ist der formale Schluß logisch unausgewiesen und abstrahiert von
der Sachlage: Das Saddam-Regime ist böse, die USA greifen dieses Regime
an, also sind die USA gut und ihr Überfall auf den Irak ebenso. Daß es
sich hier nur um zwei verschiedene Übel handelt und das US-
Besatzungsregime für die Iraker keinerlei Verbesserung bedeutet, wie
sich mit jedem Tag deutlicher zeigt, fällt beim falschen formalen
Umkehrschluß notwendigerweise unter den Tisch. Auch dafür hatte Pohrt
in „Konkret“ schon 1991 die Matrix geliefert mit seiner Feststellung:
„Verglichen mit der PDS ist der CIA eine hochmoralische Anstalt“
(Wolfgang Pohrt, Musik in meinen Ohren, a.a.O., S. 15).

Die falschen antideutschen Syllogismen und Umkehrschlüsse lassen sich
beliebig erweitern, etwa auf die sogenannten ökologischen Fragen: Weil
die völkischen Neonazis sich an die Kritik der ökonomischen Zerstörung
von Naturgrundlagen, an die Einpunkt-Bewegungen gegen Atomkraft, gegen
Flughafenausbau usw. anzuhängen und diese mit ihren Begriffen zu
infiltrieren suchen, gilt dem antideutschen Bewußtsein der
betriebswirtschaftliche Zerstörungs- und Verpestungsprozeß, der wie
alles andere in „Ideologie“ und diese wieder in NS/Antisemitismus
aufgelöst wird, fast schon als ein Prozeß antifaschistischer Vernunft;
jedenfalls kann die Kritik daran, statt sie zur Kritik der abstrakten
Arbeit zu erweitern, umstandslos dem völkischen Mob zugeordnet werden.

In ihrer erstaunlichen Primitivität und Durchsichtigkeit sind die
antideutschen logischen Fehlschlüsse einem ideologischen Willen
geschuldet, der, eben weil er sich dem Selbsterhaltungstrieb des
Wertsubjekts in seiner finalen Krise verdankt, nicht mehr viel nach
Logik und Sachhaltigkeit fragt. Es geht einzig und allein darum, die
bürgerliche Warenseele zu retten, und zwar in einer diffusen Verbindung
des kapitalistischen Aufklärungssubjekts und des „caput mortuum“
gefallener arbeiterbewegungs-marxistischer Identität, verschmolzen zur
paradoxen Affirmation der Wertform des warenproduzierenden Systems als
der einzig denkbaren Form gesellschaftlichen Lebens.

Indem die Reduktion auf „Ideologie“ eine willkürliche, ahistorische
Zuordnung nach einzelnen Aussage-Merkmalen unabhängig von der realen
gesellschaftlichen Situation, unabhängig von historischen Bedingungen
und unabhängig von jedem Kontext zuläßt, wird das denunziatorisch-
identitätslogische Konstrukt in doppelter Weise mobilisiert. Zum einen
als das Konstrukt einer mittels falscher Syllogismen rein aus
ideologischen Versatzstücken zusammengeleimten Schein-Objektivität der
Weltlage nach dem Muster des Zweiten Weltkriegs, wobei wahlweise der
Islamismus bzw. die arabischen Länder oder die heutige BRD oder beide
zusammen den Nazi-Part und die USA allein bzw. zusammen mit
Großbritannien die Anti-Hitler-Koalition spielen (also die USA auch ein
wenig „Sowjetunion“ sein müssen). Dieses mehr als wacklige Konstrukt
ist so lächerlich dumm und kontrafaktisch, seine Begründungen derart an
den Haaren herbeigezogen, daß dieser Teil der identitätslogischen
Zuordnung allein dem antideutschen Denken ebensowenig Einfluß
verschaffen könnte wie seine schwache, zurückgebundene und
irrealisierte Kapitalismuskritik.

Zum andern aber wird auf diese falsche Konstruktion der objektiven
Weltlage aus Elementen willkürlich identitätslogisch verbundener
ideologischer Aussagen dann in einem zweiten Schritt eine ebenso
identitätslogische „Ideologiekritik“ an den sozialen Bewegungen und der
weltweiten Linken bezogen. Mit anderen Worten: Das Verhältnis von
Realanalyse und Ideologiekritik verwandelt sich in ein
„innerideologisches“ Verhältnis, da es angeblich sowieso nur Ideologie
gibt bzw. diese unvermittelt identisch mit dem objektivierten
gesellschaftlichen Verhältnis und dessen historischer Entwicklung sein
soll. Statt die Ideologie in ihrem Verhältnis zur kapitalistischen
Entwicklung zu dechiffrieren und zu kritisieren, wird sie in der Form
einer Tautologie aus sich selbst erklärt und auf sich selbst bezogen:
gewissermaßen als Ideologie in flüssiger Form auf Ideologie in einer
zur Weltlage geronnenen Form. Tautologisch wird damit auch die negative
ideologische Zuordnung der Linken und der sozialen Bewegungen, weil
diese sich nicht an das phantasmatische Drehbuch der Antideutschen
halten. „Ideologiekritik“ bedeutet somit nichts mehr weiter, als die
Abweichungen der Häretiker vom eigenen ideologischen Konstrukt zu
konstatieren.

Für ungeübtes linkes Denken (und das Denken der gesamten „Szene“, in
der sich die antideutsche Ideologie breit gemacht hat, ist ungeübt, aus
kruder Politpraxis stammend und identitätspolitisch ausgerichtet) kann
dieses tautologische Konstrukt deswegen plausibel erscheinen und
Einfluß gewinnen, weil es eine tatsächliche Aufgabe kritischer
Theoriebildung sozusagen parodiert und mit dieser verwechselt wird. Es
steht ja in der Tat eine Transformation der Linken an vom obsolet
gewordenen Paradigma des Arbeiterbewegungsmarxismus zum Paradigma der
Wertkritik. Und es steht ja tatsächlich eine Ideologiekritik an in
mehrfacher Hinsicht, nämlich an der offiziellen demokratisch-
krisenimperialen Ideologie ebenso wie an den ethno-religiösen,
antisemitischen und rassistischen Verarbeitungsformen der Krise und am
„verkürzten Antikapitalismus“ der sozialen Bewegungen. Letztere
Verkürzung kann nicht mehr am arbeiterbewegungsmarxistischen
Verständnis und dessen Statements gemessen werden, sondern ist im
Kontext der Herausbildung des neuen wertkritischen Paradigmas zu
leisten.

Es geht also um eine äußerst komplexe Aufgabe. Der negative Begriff des
gesellschaftlichen Verhältnisses selbst muß neu bestimmt werden, die
Realanalyse der historischen und aktuellen Entwicklung ist daraufhin
neu zu formulieren, und die Ideologiekritik bedarf daher ebenfalls
eines neuen Bezugs auf ihren Gegenstand. Nicht nur die spontane
Verkürzung der üblichen Bewegungs-Ideologie ist zu kritisieren, sondern
auch der bisherige Standpunkt, von dem aus traditionell solche
Verkürzungen kritisiert wurden, als ein selber verkürzter. Da jedoch
diese traditionelle, im Marxismus geronnene Verkürzung keine
gesellschaftliche Grundlage in objektivierten Entwicklungsschüben des
Kapitals mehr hat, ist sie nicht nur als verkürzte zu erkennen und zu
kritisieren, sondern auch in ihren Verfallsformen zu analysieren.

In den Verwesungsprodukten des systemimmanenten „Klassenkampfs“ und
seiner Ideologie (zu denen auch die antideutsche Version selber zählt)
erscheinen tatsächlich Konvergenzen von traditionell „linken“ und
traditionell „rechten“ Positionen, aus denen sich auch die
neonazistische „Querfront“-Strategie speist; die in der Vergangenheit
verborgenen, vom unversöhnlichen Kampf der Gegensätze überdeckten
gemeinsamen Formen und ideologischen Schnittmengen treten ans
Tageslicht und müssen kritisch analysiert werden, ohne in
identitätslogische denunziatorische Gleichsetzungen zu verfallen und
damit den Querfront-Nazis und Völkertümlern auch noch ungewollt
Berechtigung zu verleihen.

Genau das jedoch geschieht in der antideutschen Ideologie, die sich der
Komplexität der Aufgabe nicht stellen kann, weil sie den
Arbeiterbewegungsmarxismus nicht wertkritisch überwindet, sondern
vielmehr seine historische Paralyse in Gestalt einer mystifizierenden
Regression in die bürgerliche Aufklärungsvernunft mimetisch darstellt.
Das Resultat ist eine gewaltsame Simplifizierung und Reduktion des
Problems auf jene doppelte identitätslogische Setzung. Daß darin die
USA als Hort der „objektiven Vernunft“ und der Islam/die arabischen
Länder/die BRD als der neue NS jenseits dieser Vernunft gesetzt werden,
bildet nur die Folie für eine rein denunziatorische Bestimmung der
sozialen Bewegungen und der gesamten Linken in der Welt, um die es
eigentlich geht – zur Freude der rechten Querfront-Strategen.

Weil sie nicht der antideutschen Interpretation der Weltlage folgen,
werden die sozialen Bewegungen und die Linke insgesamt genauso
unmittelbar als Nazis und Antisemiten identifiziert wie „Deutschland“
und „der Islam“. Statt die Verkürzungen und ideologischen
Verfallsformen des traditionellen Linksradikalismus, sozialen
Reformismus, des Bewegungsdenkens etc. historisch aufzuarbeiten und
ihre nunmehr ans Licht tretenden gemeinsamen Momente mit dem
bürgerlich-demokratischen, aber auch dem völkischen Denken kritisch und
unnachsichtig zu benennen, werden sie identitätslogisch-denunziatorisch
unvermittelt dem schlechthin „Bösen“ zugeschlagen und alle Differenzen
in Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen zugeschüttet und
eingeebnet.

Was die Parteinahme für die imperiale Macht und deren
Weltordnungskriege äußerlich verlangt, aber aus der inneren Dynamik der
antideutschen Antinomien seine Logik bezieht, wird so praktisch und in
der „theoretischen“ Argumentation manifest: Der „Hauptfeind“ ist weder
das Kapital noch „Deutschland“, weder der Islamismus noch das Neonazi-
Potential; der „Hauptfeind“ sind vielmehr einzig und allein die Linken
und die sozialen Bewegungen. Nicht um deren wertkritische
Transformation geht es, sondern um ihre Liquidation zugunsten der
„Vernunft“ des Wertsubjekts. Und deswegen müssen die Linken und
sozialen Bewegungen die eigentlichen Nazis und Antisemiten und das
eigentliche Objekt des denunziatorischen Angriffs sein.

Stolz behaupten die Hardcore-Antideutschen, „zwischen den Mühlsteinen
der Kritik in der BAHAMAS“ sei das „Kollektivsubjekt die >Linke< zu
braunem Schrot zermahlen“ (Redaktion Bahamas, Zur Verteidigung der
Zivilisation, Erklärung vom 31.10.2001) worden; es sei „nicht nur die
deutsche Nachkriegsordnung, sondern auch und gerade (!) ihre Linke als
legitime Erbin des Faschismus (zu denunzieren), insofern ihr Dasein
darin besteht, dieses Erbe kompetent und zukunftsträchtig
weiterzubewirtschaften“ (Redaktion Bahamas, Stein des Anstoßes,
Erklärung Ende Juli 2003). Einerseits gibt es auf der Welt überhaupt
nur noch Nazis und Antisemiten mit den „vermittlungslosen“ Ausnahmen
der Antideutschen, der neokonservativen Hardliner-Administration der
USA und der israelischen Rechten; andererseits verdichten sich die
Zuschreibungen des Nazismus und Antisemitismus auf das „Nahobjekt“ der
linken Sozialkritik.

Schon 1968 hatte Habermas als negativer Querfront-Ideologe mit seinem
ausgekotzten denunziatorischen Begriff des „Linksfaschismus“ die (bei
ihm wenigstens noch offen und ehrlich formulierte) Selbstaffirmation
des westlich-demokratischen warenproduzierenden Wesens gegen mögliche
Gefährdungen durch Sozialrevolten und durch eine tiefergehende Kritik,
die drohte, an das Problem der modernen Fetischform heranzukommen, mit
äußerster Aggressivität vorgetragen. Es war kein Zufall, daß Pohrt
diesen Begriff 1991 wieder ausgrub und noch zu überbieten suchte.
Ebensowenig zufällig überbieten die Antideutschen in dieser Hinsicht
heute Pohrt bei weitem in der Maßlosigkeit ihrer identitätslogischen
Denunziation.

Denn die schärfste Waffe der prokapitalistischen Apologetik ist es seit
dem Menschheitsverbrechen der Nazis, die wie immer unausgegorene, in
vielfältigen Mischungsverhältnissen mit Ideologie befindliche
Sozialkritik als mögliche Trägerwelle radikaler Formkritik gerade
dadurch stillzustellen, daß sie als nazistisch und antisemitisch
denunziert, damit an der Wurzel ihres emanzipatorischen
Selbstverständnisses getroffen, irritiert und paralysiert wird. Mit der
heuchlerischen Formel, daß „solches nie wieder geschehe“ (was in
Wahrheit aus dem Kapitalismus selbst und einzig aus ihm hervorgegangen
war), legitimieren sich nicht nur die Weltordnungs- und
Menschenrechtskriege des Krisenkapitalismus in Ex-Jugoslawien, im Irak
und anderswo, sondern auch die liquidatorischen Angriffe der imperialen
Administrationen und ihrer antideutschen Hiwis auf die unsicheren
sozialen Bewegungen und auf die in einem schwierigen theoretischen
Transformationsprozeß begriffene Linke.

Die Aufgabe einer kritisch vermittelnden Analyse wäre es, von der neuen
wertkritischen Position aus das gemeinsame fetischistische Bezugssystem
der historischen Bewegungen und der sich in der Reaktion auf diese
selber transformierenden Macht ebenso wie die heutigen ideologischen
(auch länderspezifischen) Verfalls- und Zersetzungsprodukte dieser
Geschichte in den Blick zu nehmen, um von da aus die verborgenen
Affinitäten und untergründigen Verbindungen der kämpfenden Parteien
aufzudecken, also auch die Schwächen, die regressiven Momente und die
selbstzerstörerische falsche Immanenz des emanzipatorischen Verlangens,
ohne dieses aber als immer schon identisch mit seinen Schlächtern zu
denunzieren.

Die negativen historischen und aktuellen Identitäten müssen kenntlich
gemacht werden im Interesse einer Transformation der emanzipatorischen
Kritik, ohne deswegen aufzuhören, die Differenzen ernst zu nehmen. So
stand etwa die affirmative Ontologie der „Arbeit“ und der Nation bei
den Sozialisten und Kommunisten in einer gespenstischen Affinität zum
positiven Arbeitsbegriff („Arbeit macht frei“) und dem völkischen
Nationsbegriff der Nazis, was in einer neuen kategorialen Kapitalismus-
und damit Arbeits- wie Nationskritik mit aller Schärfe herauszustellen
ist; erst recht gespenstisch wäre es jedoch, mittels der Aufdeckung
dieser Affinität wiederum den falschen syllogistischen Schluß zu
ziehen, daß die Sozialisten und Kommunisten alle Nazis waren.

Die antideutsche Ideologie tendiert, getrieben von ihrer Eigendynamik,
genau dazu, Vergangenheit und Gegenwart der Kapitalismuskritik
unterschiedslos in ihre identitätslogische denunziatorische Zuordnung
aufzulösen. Den entsprechenden Zugriff auf die Vergangenheit darf ein
frisch angelernter und ideologisch aufgepäppelter Adept wagen:
„...>Massenbewegungen< sind zugleich die authentische Verlaufsform der
>faschistischen<, institutionalisierten >Revolutionen< und Adressat und
Wunschbild der offiziellen kommunistischen Bewegungen seit den 20er
Jahren. >Linke< und >rechte Massenmobilisierung< lassen sich
voneinander kaum unterscheiden...Noch in den gutwilligsten Bekundungen
der KPD...geistert noch >das Volk<...“ (Sören Pünjer, Vom Anti-
Faschismus zum Anti-Globalismus, in: Bahamas 41, Berlin 2003, S. 50
f.). In der kurzschlüssigen Rückkoppelung auf die heutige Situation
bedeutet dies, „...daß Linke wie Nazis argumentieren, es also in der
Hauptsache keinen Unterschied gibt und hüben wie drüben ein und
derselbe antiimperialistische und befreiungsnationalistische Impuls zur
Antiglobalisierungsbewegung drängt“ (Sören Pünjer, a.a.O., S. 51,
Hervorheb. Pünjer).

So vollendet sich die negative Querfront-Ideologie der Antideutschen,
die der völkischen Querfront-Strategie in die Hände arbeitet. Die
Begriffe der „Masse“ und des „Volkes“, die für Identisches wie für
Differentes standen, werden als einheitliche unmittelbare NS-Identität
gesetzt. Autoritäre Strukturen bei den historischen Kommunisten werden
nicht in ihrem Kontext kritisiert, mit dem autoritären Charakter aller
Politik als Staatsbezogenheit in Beziehung gesetzt und mit den Formen
der Nazi-Mobilisierung in ihren Ähnlichkeiten verglichen, um sie in
einem neuen Kontext zu überwinden, sondern sie dienen ebenfalls wieder
nur als Mittelglied eines falschen Syllogismus, um die historischen
Kommunisten unmittelbar als Nazis zu denunzieren und diese
Transposition wiederum unmittelbar an der heutigen
Antiglobalisierungsbewegung festzumachen.

In dieser Fall-Linie der identitätslogischen denunziatorischen
Gleichsetzungen wird auch ein scheinbares Essential der antideutschen
Ideologie mitgerissen, nämlich das Beharren auf der Singularität des
Holocaust, und ein weiterer innerer Widerspruch in der antinomischen
Denkstruktur entfaltet. Einerseits muß der NS von der Konstitution der
kapitalistischen Gesellschaft abgetrennt werden, um die bürgerliche
„Vernunft in der Geschichte“ zu retten; und eifersüchtig werden deshalb
bestimmte aus der Gesamtgeschichte der Modernisierung hervorgewachsene
Formen der Reduktion auf „nacktes Leben“ (Giorgio Agamben) wie das
Konzentrationslager kontrafaktisch allein für die NS-Gesellschaft
reserviert, obwohl die Herstellung des Zusammenhangs mit der
kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte in keiner Weise die
Singularität von Auschwitz berühren würde. Andererseits zwingt aber die
Logik der historischen Analogie und der denunziatorischen Gleichsetzung
die Antideutschen dazu, selber diese Singularität preiszugeben,
„Deutschland“ im Islamismus wiederzuerkennen, die Selbstmordattentate
von New York geschichtsrevisionistisch als eine Art Holocaust im
Kleinformat zu definieren, vor allem aber die heutigen Linken und
Globalisierungskritiker als die eigentlichen neuen Nazis zu
identifizieren, diese absurde Zuordnung auf die Linken der 68er
Bewegung, die angeblich „nach 20 Jahren Nachhilfe im Konsumkapitalismus
wieder die Mobilmachung probten“ (Redaktion Bahamas, Stein des
Anstoßes, Erklärung Ende Juli 2003) und schließlich auf die gesamte
alte Arbeiterbewegung und den Staatssozialismus nachholender
Modernisierung auszudehnen. Letzteres ist allerdings neu; aber darin
zeigt sich nur, daß die einmal entfesselte identitätslogische
Denunziation vor nichts mehr Halt macht.

Am Ende entdeckt die „pathische Projektion“ der antideutschen
Ideologie, daß sie alle, alle eben doch immer schon ausnahmslos Nazis
und Antisemiten waren, sind und sein werden. Haben sie nicht gesungen:
„Völker, hört die Signale“? Wenn das nicht Beweis genug ist...Aufgabe
einer kritischen Aufarbeitung wäre es, im Kontext eines Durchbruchs zur
kategorialen Kritik auch den Begriff des „Volkes“ zu destruieren und
seine Konnotationen in der Modernisierungsgeschichte zu untersuchen.
Das würde zum Beispiel bedeuten, den komplexen Zusammenhang von
westlicher Aufklärung, völkischer deutscher Ideologie und nationalen
Befreiungsbewegungen der 3. Welt aufzurollen, die differenten Gehalte
des „Volks“-Begriffs in Bezug auf die Wertvergesellschaftung zu
analysieren und so diese Begrifflichkeit im emanzipatorischen Denken
auf der Höhe des heutigen Krisenprozesses zu überwinden.

Genau diese Untersuchung haben die Antideutschen nie geleistet und
werden sie auch nie leisten. Sie müssen die Besetzung dieses Begriffs
in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten und die historischen
Zusammenhänge im Gegenteil gerade im Dunkeln lassen. Denn ihnen geht es
eben nicht darum, die affirmativen Begriffe des „Volkes“, der Nation
und der geschlossenen „Nationalkultur“ in der sozialkritischen Bewegung
zu überwinden, um diese zu transformieren, sondern einzig darum, diese
unreflektiert aus dem traditionslinken Bestand übernommenen Begriffe
assoziativ denunziatorisch auszuschlachten, um die sozialkritische
Bewegung im Interesse der Erhaltung kapitalistischer „Vernunft“ zu
liquidieren.


Aus: Robert Kurz: DIE ANTIDEUTSCHE IDEOLOGIE - Vom Antifaschismus zum
Krisenimperialismus: Kritik des neuesten linksdeutschen Sektenwesens in
seinen theoretischen Propheten,
ISBN: 3-89771-426-4
Ausstattung: br., 316 Seiten
Preis: 16.00 Euro / 28.00 sfr


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