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[de.rec.buecher] Re: Wikipedia schlaegt den Online-Brockhaus

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Frank Beck

unread,
Jan 2, 2008, 1:19:50 AM1/2/08
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Subject: Re: Wikipedia schlaegt den Online-Brockhaus
Date: Sun, 30 Dec 2007 21:49:52 +0100
From: rha...@t-online.de (Ralf Heinrich Arning)
Newsgroups: de.rec.buecher
Message-ID: <1i9y4s6.v2rksw1n47t5wN%rha...@t-online.de>

[SN: Nicht wirklich witzig, aber IMHO wichtig und richtig und daher
aufhebenswert]


Werner Hintze <use...@floridante.de> wrote:

> On 2007-12-12 22:21:39 +0100, Werner Tann <wt...@gmx.at> said:
>
> > So kam es durchaus vor, daß
> > der Weg in die UB zweimal umsonst war. Einmal zum Bestellen, einmal
> > zum Abholen. Wien, UB, um 1980.

Bestellen und die Überprüfung der Verfügbarkeit ist heutzutage in vielen
Fällen auch online möglich. Dieses Problem ist eine andere Baustelle.
>
> Aber das kam mit Sicherheit nicht vor, wenn es darum ging, in einem
> Lexikon oder anderen Nachschlagewerk nachzusehen. Die stehen in jeder
> halbwegs anständigen Bibliothek im Lesesaal und sind gar nicht
> auszuleihen. Dafür findet man dort dann aber Werke, die nicht nur die
> Wikipedia (die sowieso) sondern auch viele andere Werke, die sich ein
> Normalbürger anschaffen kann (selbst wenn er sehr reicht ist) weit in
> den Schatten stellen.

Die Lexika-Abteilungen größerer Bibliotheken bieten zudem die
Möglichkeit, in unterschiedlich alten Enzyklopädien den Wissensstand
verschiedener Zeiten zu vergleichen oder dort Erklärungen zu finden, die
in neueren Ausgaben wegfielen, weil sie von den Redaktionen nicht mehr
als relevant erachtet wurden.
>
> Im übrigen kann ich mir kaum vorstellen, dass man heute keine
> Bibliotheken mehr braucht. Ich lese zwar genug Arbeiten, die
> offensichtlich aus Online-Quellen zusammengeklickt sind, aber ich bin
> doch sicherlich nicht der einzige, der so etwas ohne weitere Diskussion
> ablehnt, oder?

Mal abgesehen von den Plagiatcollagen, mit denen einige Studenten ihre
Scheine bekommen wollen, obwohl ihre Quellen nur Realschulniveau haben,
bietet das Internet durchaus braucbares Material, einfach weil vieles
inzwischen digitalisiert wurde und gerade wissenschaftliche Bibliotheken
daran gehen, ihre wertvollen Bestände ins Netz zu stellen oder per CD
zugänglich machen. (Manches davon ist übrigens aus lizenzrechtlichen
Gründen nur in den Gebäuden dieser Bibliotheken zugänglich.)
Zwischen Bibliothek und Internet gibt es keine Alternative. Bibliotheken
werden nicht durch das Internet ersetzt.
>
> Übrigens fand ich es sehr bemerkenswert, dass sich kürzlich einer der
> Wikipedia-Begründer beklagte, er erhalte so viele Beschwerden von
> Studenten, die mit dem Wikipedia-Wissen bei der Prüfung durchgefallen
> sind.

Es ist faktisch so, daß die Mehrheit der Hochschullehrer, die vor 1950,
vielleicht sogar vor 1960 geboren sind, die Entwicklung des Internet
nicht mitbekommen haben, selbst wenn sie selber "online" sind.
Andernfalls hätte die Einschätzung der Qualität von Quellen schon längst
zur Didaktik gehört. Die Bibliotheken haben eben den Vorteil, daß nach
Qualität angeschafft und sortiert wird. Sie haben ein Management, das
nicht nur für die technischen Abläufe, sondern auch für den Inhalt
verantwortlich ist. Das Internet im allgemeinen hat das nicht. Man
bekommt dort keine Qualitätskriterien geliefert. Die muß man selbst von
außen mitbringen. Man kann sich darauf verlassen, daß Bibliotheken
strukturiert sind, das Internet es aber nicht ist.
Die Studenten, die auf Wikipedia-Basis durchfallen, kommen gar nicht auf
die Idee, daß Internetquellen nicht ohne weiteres brauchbar sind. Es ist
eben ein Grundirrtum die Wikipedia wie eine große gedruckte Enzyklopädie
zu benutzen. (Fairerweise muß man sagen, daß Leihtgläubigkeit auch dem
mit Druckerschwärze gedruckten Wort gegenüber verbreitet ist. Und das
Referieren von Brockhaus-Artikeln dürfte an der Uni wohl auch nicht
reichen.)

> Weniger bemerkenswert finde ich, dass das gesammelte Wissen der
> Wikipedia nicht weit reicht, wenn es wirklich darauf ankommt. Aber dass
> allein der Coolness-Faktor ausreicht, die Leute so weit zu verblöden,
> dass sie glauben, was da steht, sei schon das Wissen, das man
> benötige... Und das bei Leuten, die doch anscheinend über ein gewisses
> Maß an Intelligenz verfügen - oder mal verfügt haben...

Man kann mit der Wikipedia sehr unterschiedliche Erfahrungen machen. Es
ist natürlich bequem, wenn man sich mit ein paar Klicks schnell
informieren kann - wenn denn die Informationen stimmen. Darauf ist auch
bei der Wikipedia kein Verlaß. Denn jederzeit kann jemand bei Störungen
seines Hormonhaushalts die Texte ändern und falsche Daten eingeben. Und
das geschieht auch - nicht nur in Gestalt des offenkundigen Vandalismus.
Daß solche Fehler korrigiert werden können, ist kein Trost. Denn die
Schüler, Studenten und Journalisten stützen sich ersteinmal auf die
Fehlinformation. Von den Editwars und ideologischen Scharmützeln will
ich jetzt gar nicht reden. Die Wikipedia ist für manche Themen einfach
das falsch Medium.

Ja, es scheint mir überhaupt nich allgemein klar zu sein, was für ein
Medium die Wikipedia denn ist. Das macht den Coolness-Faktor aus. Man
kommt ohne viel Aufwand zu irgendwelchen Ergebnissen, ohne zu wissen
warum. Man soll eine Aufgabe erfüllen, z. B. für eine Prüfung, und man
findet so leicht eine Antwort. Das ist natürlich berauschend.

Der große Irrtum über die Wikipedia ist der, daß man sie für eine
Online-Enzyklopädie hält. Schon die technische Anlage widerspricht der
Idee einer Enzyklopädie prinzipiell. Denn das Wiki-System ist auf
Offenheit angelegt, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Jeder kann zu jeder
Zeit Ergänzungen und Änderungen einbringen. Themen sind nicht
ausgeschlossen. (Das Relevanzprinzip ist sehr weit auslegbar.) Die
Wikipedia findet keinen Abschluß.

Eine Enzyklopädie dagegen gibt den Wissenstand ihrer Zeit wieder. Das
tut sie auch noch nach Jahrhunderten, wenn längst neue Enzyklopädien
aufgelegt worden sind. Sie beschränkt sich auf das, was die Herausgeber
als relevant für die Allgemeinheit erachten, womit sowohl fanzinemäßiger
Tratsch wie vertieftes Fachwissen ausgeschlossen sind. Ihre Artikel sind
redigiert nach Editionsprinzipien, die zuvor von ausgesuchten Fachleuten
geschrieben wurden.

Die Wikipedia ist vielmehr eine Informationsplatform. An ihrem Namen ist
nur "Wiki" treffend. Mit -pädie, im Sinne von Bildung oder Erziehung,
oder einer Enzyklopädie, die das zur Allgemeinbildung gehörige Wissen in
einem gewissen Umfang umfaßt, hat sie nur soviel zu tun, wie es
Überschneidungen gibt.

Deshalb findet man dort vieles, was nicht in einer Enzyklopädie steht.
Aber bei allem, was man findet - auch bei den lesenswerten Artikeln -
kann man nicht sicher sein, daß der aktuelle Text fachkundig überprüft
wurde. Wenn man erst angefangen hat, sich durch die Diskussionen und die
Versionsgeschichte zu kämpfen, ist die Wikipedia überhaupt nicht mehr
cool.

Trotz aller Regeln über das Abfassen von Artikeln wird kein
gleichmäßiges Niveau erreicht. Es schwankt zwischen Jugendzeitschrift
oder Fanzine, wenn Personen penetrant nur beim Vornamen genannt werden,
über die Widergabe von Erklärungen auf dem Stand des 19. Jahrhunderts
bis hin zu Auszügen oder Kurzfassungen von Examensarbeiten.

Die Wikipedia hat bei zeitgeschichtlichen Themen, z. B. den Biographien
lebender Personen, Landesgeschichte, Sport, Firmen- und
Institutionengeschichte, eher den Charakter von Loseblattsammlungen à la
Munzinger-Archiv, Gesetzeskommentar und anderen Informationsdiensten,
die auch so angelegt sind, daß einzelne Artikel ergänzt werden können,
ohne daß wie bei einer Enzyklopädie das ganze Werk neu aufgelegt werden
müßte.
Das hat den Nachteil, daß Informationen wegfallen, nur weil sie nicht
mehr aktuell sind. Unangenehm fällt auf, daß Wikipedia-Artikel dieser
Art zwar so begonnen wurden, daß sie sich auf wichtige Fakten
beschränken, daß dann allerdings aktuelle, letztlich aber irrelevante
Fakten eingebaut wurden. Da erreicht die Wikipedia nicht das Niveau von
Loseblattsammlungen, die eben eine Redaktion haben.

Die Wikipedia verkürzt oft die Suche mit Suchsmaschinen wie Google,
deren Ergebnisse zunehmend mit völlig unbrauchbaren Treffern durchsetzt
sind. Der Grund dafür ist einfach: Suchmaschinen finden Wörter, aber
keine Begriffe. Deshalb kann die Wikipedia am Anfang einer
Internetrecherche sinnvoll sein oder überhaupt eine Recherche begleiten.
Und genau das ist ihre Funktion. Man findet Gutes, Brachbares,
Mangelhaftes und auch Ärgerliches. Manchmal kann man etwas verbessern.
Ob die Informationen stichhaltig sind oder für den gegebenen Zweck
ausreichen, ob sie einem bei weiterem Suchen helfen, muß man mit anderen
Mitteln herausfinden als der Wikipedia.
Um die Wikipedia sinnvoll zu nutzen, muß man bereits mitbringen, was
andere aus ihr zu gewinnen hoffen: Bildung.

Ralf

--
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