Als vitruvianischer Mensch (lat. homo vitruvianus, auch: Vitruvianische Figur) wird eine Darstellung des Mannes nach den vom antiken Architekten und Ingenieur Vitruv(ius) formulierten und idealisierten Proportionen bezeichnet. Das berhmteste Beispiel ist eine 34,4 cm 24,5 cm groe Zeichnung von Leonardo da Vinci, die um 1490 entstand. Es handelt sich um eine Skizze mit Notizen aus einem seiner Tagebcher, die einen Mann mit ausgestreckten Extremitten in zwei berlagerten Positionen zeigt. Mit den Fingerspitzen und den Sohlen berhrt die Figur ein sie umgebendes Quadrat (homo ad quadratum) bzw. einen Kreis (homo ad circulum).
Die Studie zeigt, wie sehr Leonardo an Krperbau und -proportionen interessiert war und sich auch selbst immer wieder darstellte,[1] und ist bis heute nicht nur ein Symbol fr die sthetik der Renaissance, sondern eines der berhmtesten und am meisten vervielfltigten Bildmotive.
Leonardos Beschriftung seiner Zeichnung legt ebenfalls die Krperverhltnisse fest, indem er das seit der Antike verbreitete, vom Menschen abgeleitete Masystem referiert: 4 Finger sollen einen Palm (Handbreite) ergeben, 4 Palm einen Fu, 6 Palm eine Elle, 4 Ellen die Gesamtgre eines Menschen, dieselben 4 Ellen ein Klafter (d. h. eine Armspanne).[2] Das Idealbild der menschlichen Schnheit ist daher kein absolutes, sondern besteht aus der Beziehung einzelner Teile zueinander.
Der erhaltene Teil von Leonardos Beschriftung nimmt weniger auf Kreis und Quadrat Bezug als auf die Proportionierung der einzelnen Krperteile. Im oberen Teil des Blattes ist folgender Text geschrieben:
Die Doppelfigur in Kreis und Quadrat kann auch als Lsungsvorschlag Leonardos zur in endlich vielen Konstruktionsschritten unmglichen Quadratur des Kreises verstanden werden. Tatschlich lsst sich der Zeichnung ein sehr eleganter Algorithmus zur annhernden Kreisquadratur (in unendlich vielen Konstruktionsschritten) entnehmen, der eine rekursive Folge von Paaren Kreis und Quadrat erzeugt, die mit hoher Genauigkeit gegen ein Flchenverhltnis von ca. 1,0003 konvergiert.[4]
Beweise sind gefunden worden, dass Leonardo durch die Arbeit von Giacomo Andrea de Ferrara, einem Renaissancearchitekten, Experten fr Vitruv und engen Freund, beeinflusst worden sein knnte.[5] Giacomo Andreas originale Zeichnung hat nur eine Reihe von Armen und Beinen, aber Leonardo hat die Position des Kopfes und der Beine seines Mannes verndert.[6]
Ein anderer mglicher Einfluss fr die Darstellung von Leonardo knnten die Codexabbildungen der menschlichen Proportionen in der Architektur von Francesco di Giorgio Martini sein, einem sienesischer Architekten, der im Jahre 1470 eine unverffentlichte Abhandlung zur Zivil- und Militrarchitektur (Trattato di architettura civile e militare) zusammenstellte.
War Leonardos Zeichnung bis in die 1930er Jahre vor allem dem engsten Kreis der Leonardo-Fachliteratur und in der Proportionslehre an den Kunstakademien bekannt, gewann die Figur durch Verwendung als Symbol von Leonardos naturwissenschaftlichem Ordnungsdenken in der Mailnder Ausstellung zu Ehren des Knstlers 1939 internationale Aufmerksamkeit.[7]
Heute ist der vitruvianische Mensch eine populre und hufig adaptierte Figur. Neben Reproduktionen in Wandbildern oder Postern oder als Tattoo-Motiv, findet er sich auf der Rckseite der italienischen 1-Euro-Mnze, auf dem Emblem des Skylab 3, als Zeichen der evolutionr-humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung oder als Logo der Krankenversichertenkarte (KVK) und elektronischer Gesundheitskarte (eGK) der deutschen gesetzlichen Krankenkassen. Es gibt auch Skulpturen in verschiedenen Stdten der Welt, wie z. B. Homage to Leonardo aus. 1982 von Enzo Plazzotta am Belgrave Square in London.
Eine groe Rolle spielt Leonardos Zeichnung in der Esoterik- und New-Age-Szene. Mit einem Tierkreis umrandet, gilt der vitruvianische Mensch als Symbol des Neuen Menschen. Im Bestseller-Roman Sakrileg platziert sich der sterbende Jacques Saunire in Form des vitruvianischen Menschen, um seine Ziehtochter Sophie und Robert Langdon auf die Verwicklung der Werke Leonardo da Vincis in ein Geheimnis aufmerksam zu machen.
Das Studienblatt bezieht sich auf eine Beschreibung der idealen Proportionen des Menschen in dem Werk "Zehn Bcher ber Architektur" des antiken Architekten Vitruv (1. Jh. v. Chr.). Die "Zehn Bcher ber Architektur" sind das einzige aus der Antike erhaltene Buch ber Architektur. Da das Werk ohne Abbildungen berliefert wurde, war lange Zeit unklar, wie sich Vitruv die idealen Proportionen eines Menschen vorstellte. Leonardo war der erste, dem es gelang, Vitruvs Beschreibung so zu illustrieren, dass alle von Vitruv genannten Regeln sich in der Zeichnung wiederfinden.
Der Vitruvianische Mensch hat hauptschlich eine architekturtheoretische Bedeutung. Die Zeichnung illustriert dabei die antike Erkenntnis, dass die Mae der einzelnen Glieder eines Menschen mathematischen Gesetzmigkeiten folgen. Daher sollten auch von Menschen errichtete Bauwerke so wohlproportioniert und durchdacht sein, wie der Mensch selbst. Weil Leonardos Skizze Kreis und Quadrat in einer Darstellung vereint, wird die Zeichnung auch in einen spirituellen Zusammenhang gebracht. Der Kreis ist dann ein Symbol fr Weiblichkeit, das Quadrat ein Symbol fr Mnnlichkeit. Auerdem soll Leonardo in der Zeichnung eine Lsung zu einem alten mathematischen Problem versteckt haben, der Quadratur des Kreises.
Insgesamt demonstriert der Vitruvianische Mensch die antike Ansicht, nach der alle Menschen aus denselben Proportionen zusammengesetzt sind, und sich nur in ihrer Abweichung darin voneinander unterscheiden. So haben einige Menschen z.B. etwas lngere Arme oder etwas krzere Beine, doch im Mittel zeigen alle Menschen die von Vitruv festgestellten Proportionen. Daher entsprachen bis zur Einfhrung des Meters die frheren Maeinheiten den genormten Lngen bestimmter Krperteile. Zum Beispiel gab es die Maeinheit 1 Elle (vom Ellbogen bis zur Fingerspitze) oder auch den noch heute im englischen Sprachraum verwendeten 1 Foot (Fulnge).
Denn es kann kein Tempel ohne Symmetrie und Proportion in seiner Anlage gerechtfertigt werden, wenn er nicht, einem wohlgeformten Menschen gleich, ein genau durchgefhrtes Gliederungsgesetz in sich trgt.
Ein Blatt Papier. In der Blattmitte eine Zeichnung. Gezeigt wird ein lterer nackter Mann mit lockigem Haar in Frontalansicht. Arme und Beine sind in jeweils zwei Ansichten dargestellt. Sie sind so angeordnet, dass die seitwrts ausgestreckten Arme und die Krperhhe des Mannes ein Quadrat aufspannen.
Eine zweite Ansicht berlagert die erste. Sie zeigt die erhobenen Arme und die gespreizten Beine des Mannes. Der Bauchnabel bildet den Mittelpunkt eines Kreises, der den Mann vollstndig umschliet. Dabei haben Mann, Kreis und Quadrat drei gemeinsame Punkte am Mittelfinger der erhobenen Hnde, sowie am rechten Zeh. Auf dem Mann selbst sind weitere Striche zu sehen, die seinen Krper in Abschnitte unterteilen.
Oberhalb und unterhalb der Zeichnung befinden sich handschriftliche Notizen in italienischer Sprache. Die Texte sind in Spiegelschrift geschrieben. Der Autor hat im oberen Teil die Schrift um den Kreis herumgefhrt. In der unteren rechten Ecke ist die Zeichnung mit "Lionardo da Vinci" signiert.
"Vitruv, der Architekt, sagt in seinem Werk ber Architektur, dass die Mae des menschlichen Krpers von der Natur folgendermaen verteilt werden:
4 Finger ergeben eine Handflche,
4 Handflchen ergeben einen Fu,
6 Handflchen ergeben eine Elle;
4 Ellen ergeben die Gre eines Menschen. Und
4 Ellen ergeben einen Schritt, und
24 Handflchen ergeben einen Mann;
und diese Mae verwendete er in seinen Gebuden.
Wenn du deine Beine so weit ffnest, dass sie deine Hhe um 1/14 verringern, und deine Arme ausbreitest und anhebst, bis deine Mittelfinger die Hhe deines Kopfes berhren, musst du wissen, dass der Mittelpunkt der ausgebreiteten Gliedmaen im Nabel liegt und der Raum zwischen den Beinen ein gleichseitiges Dreieck ist."
Leonardos begleitender Text zu der Zeichnung ist eine Zusammenfassung des ersten Kapitels vom dritten Buch aus "Zehn Bcher ber Architektur", das der antike Architekt Vitruv zu Beginn der rmischen Kaiserzeit verfasst hat (um 30 v. Chr.). Der vollstndige Text des Kapitels befindet sich am Ende dieser Seite.
Die von Leonardo anfangs zitierten Maeinheiten fr Finger, Handflche, Elle usw. entsprechen den Maeinheiten im antiken Griechenland, die auch Vitruv verwendete. Alle Mae beruhten auf der Fingerbreite (1 Daktylos), der kleinsten Maeinheit.
Vitruv schreibt, dass der Mittelpunkt des Krpers sich im Nabel befindet, ohne das nher zu erlutern. Es ist Leonardos Verdienst, die Position des Nabels so festzulegen, dass der Mensch insgesamt natrlich erscheint: "Wenn du deine Beine so weit ffnest, dass sie deine Hhe um 1/14 verringern, und deine Arme ausbreitest und anhebst, bis deine Mittelfinger die Hhe deines Kopfes berhren, musst du wissen, dass der Mittelpunkt der ausgebreiteten Gliedmaen im Nabel liegt".
Insofern ist Leonardos Zeichnung keine bloe Illustration der Angaben Vitruvs, sondern eine kritische Rezeption, die sich nicht davor scheut, eigene Erkenntnisse aus anatomischen und mathematischen Studien einflieen zu lassen, wobei sie aber nicht frei von Fehlern bleibt. Ob es sich dabei tatschlich um Fehler handelt, ist heute unklar. Es knnte sich auch um das fr Leonardo typische Spiel mit der Aufmerksamkeit der Betrachtenden handeln oder aber Betrachtende zum weiteren Nachdenken anregen.
Vitruv (um 80-70 v. Chr. bis ca. 15 n. Chr.) war zu Lebzeiten ein bedeutender Architekt und Kriegsingenieur, der zuerst fr den rmischen Herrscher Julius Csar, und dann fr seinen Nachfolger Kaiser Augustus ttig wurde. In zeitgenssischen Quellen wird Vitruv nur am Rande erwhnt und so ist ber sein Leben nur das bekannt, was er in seinem einzigen berlieferten Werk niedergeschrieben hat, "De architectura libri decem" (lat. 'Zehn Bcher ber Architektur').
Der Titel des Werkes ist leicht irrefhrend, vielmehr handelt es sich um ein etwa 400 seitiges Buch mit 10 Kapiteln. Das Buch gilt heute als das einzig erhaltene Buch ber Architektur und Bauingenieurwesen aus der Zeit der griechisch-rmischen Antike. Vitruv behauptet, es sei die bis dahin einzige Zusammenfassung der damaligen Baukunst, was auch die moderne Forschung besttigt.
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