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FOCUS-Fakten

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Ralf Roschinski

unread,
Jul 6, 1996, 3:00:00 AM7/6/96
to

"Hinz & Kunzt" Hamburg
Extrablatt zum FOCUS-Titel "Das süße Leben der Sozial-
Schmarotzer"

--------------------------- ZITAT ----------------------------

*Das süße Leben der Meinungsmacher*

Eigentlich hätte sich Focus gar nicht so viel Umstände machen
müssen. Das Titelbild der Ausgabe 43/1995 sagt doch im Prinzip
schon alles. Da hätten sich die Redakteure jedes weitere Wort
sparen können. Wir sehen eine riesige Sahnetorte, gespickt mit
Markstücken - der Wohlfahrtsstaat als Zuckerwerk. Darüber lesen
wir: "Das süße Leben der Sozialschmarotzer - Die Millionen Täter
- Die miesen Tricks - Der 150-Mrd.-Schaden".

Die Marzipanschrift auf der fetten Torte verrät, wie uns die
"Millionen Täter" den "150 Mrd.-Schaden" eingebrockt haben:
"Sozialhilfe, BAFöG, Arbeitslosengeld, Wohngeld, Rente, Kuren".
Kommentar überflüssig. Stammtischbrüder verstehen die Botschaft,
wußten es sowieso schon längst: Die angeblich Bedürftigen zocken
uns in Wahrheit nur ab.

*Fakten, Fakten, Fakten*

Das süße Kunstwerk hat allerdimgs einen häßlichen
Schönheitsfehler: Den 150-Milliarden-Mark-Schaden haben nämlich
vor allem Steuerbetrüger zu verantworten. Das hat zumindest der
Sozialforscher Dr. Werner Bruns herausgefunden, auf den sich
Focus stützt. Der Mißbrauch von direkten Sozialleistungen kostet
laut Focus 17 Milliarden Mark. Bruns hatte 500 Sachbearbeiter und
Amtsleiter befragt, wie hoch sie den Mißbrauch schätzen würden.
Das Ergebnis der Untersuchung, so Bruns in der "Tageszeitung":
Die Quote der "Sozialbetrüger" ist gegenüber seiner ersten
Umfrage vor drei Jahren gleich geblieben. Focus schreibt: "Immer
mehr Bundesbürger bedienen sich reichlich." Wie dem auch sei:
Irgendwie wurde wohl auf dem Focus-Titelbild das Riesen-
Tortenstück "Steuerbetrug" einfach vergessen...

Verzichten mußten Focus-Leser leider auch auf das vollständige
Interview mit dem Hamburger Sozialamtsleiter Dr. Helmut Hartmann.
Rund 15 Prozent der Sozialausgaben würden verschwendet, so Focus
und fragte: "Was tun Sie dagegen?" Hartmanns Antwort liest sich
so, als sei er mit der Schätzung einverstanden. Dabei ist das
Gegenteil der Fall. "Diese Schätzung halte ich für übertrieben",
hatte Hartmann gesagt. Mit diesem entscheidenden Satz hatte er
das Interview für den Abdruck freigegeben. Focus strich den Satz
trotzdem raus.

Aber man soll nicht nur über Focus schimpfen. Schließlich kann
man aus der Story ja auch etwas lernen. So erfährt der Leser zum
Beispiel endlich die Wahrheit über das angebliche Elend der
Obdachlosen. Es ist laut Focus nämlich so: "'ohne festen
Wohnsitz' heißt die Zauberformel für das grenzenlose
Abkassieren." Man braucht bloß einen "käuflichen Aufkleber" auf
dem Personalausweis, "ausgeleierte Jogginghosen", ein
"zerknautschtes Hemd" und "wirres Haar", und schon erobert man
"die Herzen und Kassen der Ämter". Die zahlen dann einen
"Tagessatz zum Überleben" - und das auch noch "widerstandslos".
Ein "Schlaraffenland", so Focus. Zwei Fotos dokumentieren die
bittere Wahrheit: Der obdachlose Abzocker aalt sich bierselig in
der Sonne; eine offenbar ahnungslose Bayernmaid serviert
freundlich lächelnd Kaffee. Das sind sie, die "Fakten, Fakten,
Fakten", die Chefredakteur Markwort seinen Lesern in der Werbung
verspricht. Hart und schonungslos, so wollen wir es haben.

*Focus-Absahner unterwegs*

Und hier die Fakten, die Hinz & Kunzt recherchiert hat: Der Mann,
der als "Siggi" Heldt auf Absahn-Tour ging, bekam vom Landratsamt
Traunstein 14,25 Mark am Tag für seinen Lebensunterhalt vom
Sozialamt. (Das ist 'ne Menge Geld, da konnte der gute Siggi so
richtig im Luxux schwelgen: Für 14,25 kriegt man immerhin vier
Curry-Würste. Oder drei bis vier Bier vom Faß. Oder 2,9 Big Mäcs.
Und das jeden Tag!) Untergebracht war der "Tester" in einer
Pension, die gerade mal 22 Mark pro Nacht kostete, Frühstück
inklusive. Mit "bayerischer Freizügigkeit" oder gar Verschwendung
hat das nichts zu tun. Das Amt hat im Gegenteil vergleichsweise
sparsam gehandelt. Und was den idyllischen Bergblick angeht, den
der Schmarotzer genießt, ohne dafür zu bezahlen: "Das kann man
uns nun nicht auch noch vorwerfen. Für die Natur hier können wir
nichts", kommentierte Roman Schneider vom Landratsamt Traunstein.
"Wir haben hier halt überall diesen Ausblick auf die Berge..."

Trotzdem, ein "Vorteil" blieb "Siggi" Heldt noch: "Er konnte sich
in den umliegenden Gemeinden Aschau, Bernau oder Bad Endorf noch
den Tagessatz für Nichtseßhafte abholen." Doch es ist natürlich
nicht so gewesen, wie der Leser denken könnte: Held "Siggi" hat
nämlich gar nicht an einem Tag in mehreren Sozialämtern den
Tagessatz abgezockt. "Der Herr war an verschiedenen Tagen in den
verschiedenen Ämtern"; erklärt Roman Schneider. "Er war als
durchreisender Obdachloser jeden Tag in einer anderen Gemeinde,
und solchen Menschen soll mit dem Tagessatz ja auch geholfen
werden."

*"Melkkuh" Universität*

Na ja, was soll's. Schließlich hat wenigstens der Leiter des
Maizer Sozialamtes gegenüber Siggi "resignierend" die
Mißbrauchsfälle bestätigt. Seltsam ist nur, daß sich der Mann
überhaupt nicht an das Gespräch mit Siggi Heldt erinnern kann.
Aber was ist denn nun mit den Absahn-Touren, die unter
Obdachlosen angeblich ein "begehrtes Handelsgut" sind? Laut des
jüngsten Hamburger Armutsberichts (1993) liegt der
Sozialmißbrauch in der Hansestadt mit 260 Fällen von !71.149
Sozialhilfeempfängern bei nur etwa 0,15 Prozent. Innerhalb
Hamburgs ist es so gut wie unmöglich, doppelt den Tagessatz zu
kassieren. "Die Sozialämter sind per Computer vernetzt", so Dr.
Helmut Hartmann, Leiter des Hamburger Landessozialamtes. "Das
gilt für viele deutsche Großstädte. Ich denke, daß in zwei bis
vier Jahren in Deutschland alle Sozialämter mit dem speziellen
EDV-Kontrollverfahren PROSA ausgestattet sind, das automatisch
anzeigt, ob schon Sozialhilfeleistungen bezogen werden."

Laut "Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe" in Bielefeld
ist der Focus-Bericht schlicht "realitätsverzerrend", da etwa 50
Prozent der Sozialämter den Obdachlosen einen Tagessatz von nur
fünf bis acht Mark zahlen. Wahrlich, Zustände wie im
Schlaraffenland...

Wie die Maden im Speck leben bekanntermaßen auch die Studenten.
Sie arbeiten nicht und kassieren dafür auch noch BAföG. Focus
deckte eine besonders miese Nummer der elitären Abzocker auf:
"Problemlos kann sich ein Student an mehreren Universitäten
einschreiben und jeweils BAföG kassieren. Sobald am Ende das
Bundesverwaltugsamt die Riesensumme zurückfordert, funktioniert
ein Trick: sich ins Ausland absetzen."

Mal abgesehen davon, daß bislang allgemein angenommen wurde,
dieser geniale "Trick" werde eher von Bankräubern und anderen
Desperados praktiziert: Dem Bundesverwaltungsamt in Köln sind
keine derartigen Mißbrauchsfälle bekannt. "Ich weiß nicht, woher
Focus diese Informationen haben will", sagt Behördensprecher
Horst Flätgen. "Es gab mal zwei Fälle, wo wir den Verdacht
hatten, Studenten hätten sich an mehreren Unis eingeschrieben, um
doppelt BAföG zu kassieren. Aber die Ermittlungen haben den
Verdacht nicht erhärtet." Fakten, Fakten, Fakten...

Aber kein Grund, sich das schöne Thema Sozial-Schmarotzer
vermiesen zu lassen. Focus belegt schonungslos, wie das soziale
Wertesystem ins Wanken gerät: Sozialbauten werden "immer
schicker" und sind "echte Schnäppchen". Der Skandal: "Allein in
Hessen ist jede fünfte Sozialwohnung von einem gutverdienenden
Haushalt besetzt."

Tatsächlich lernen wir aus diesem Satz allerdings vor allem, was
"Gutverdiener" sind. Zur Zeit müssen laut Wohnungsbauministerium
Wiesbaden bereits Hauhalte eine Fehlbelegungsabgabe zahlen, die
im Jahr gerade mal über 25.000 Mark verfügen.

Ähnlich äußert sich auch der Leiter der Hamburger
Mietausgleichszentrale: "Das Wort vom Sozial-Schmarotzer ist hier
unangebracht", so Möller. "In Hamburg zahlen zur Zeit 20 bis 25
Prozent aller Mieter von Sozialwohnungen Fehlbelegungsabgaben.
Deshalb sind das aber keine reichen Leute. Darunter sind
Haushalte, die mit 2500 Mark netto auskommen müssen." Ab 1.
Januar 1996 drohen sogar "gepfefferte Kosten": "Dann müssen
Mieter mit höheren Einkommen für 70 Quadratmeter mehr als 1100
Mark zahlen, und da sind die Betriebskosten noch nicht drin";
sagt Möller. "Das ist ja keine soziale Wohltat mehr. Es gibt
Mieter, die sich das vom Munde absparen müssen."

Es ist also alles eine Frage der Auslegung. Auch unser soziales
Netzt, das "Trampolin", wie Focus schreibt. Und so nimmt es auch
nicht Wunder, daß Focus die Studie "Zeit der Armut - Lebensläufe
im Sozialstaat" in einen etwas anderen Zusammenhang stellt als
die Autoren selbst. Fast die Hälfte aller Sozialhilfeempfänger
verläßt innerhalb von einem Jahr die Sozialhilfe wieder, fanden
die Bremer Sozialwissenschaftler Prof. Stephan Leibfried, Litz
Leisering und ihre Mitarbeiter heraus. Schade nur, daß die
Autoren nicht so richtig glücklich sind mit der Focus-
Darstellung:" Unsere Studie weistfür den Regelfall des
Sozialhilfebezuges das Gegenteil von dem nach, was in dem Focus-
Artikel dem Sozialstaat allgemein unterstellt wird", so
Leibfried. "Wenn die durchschnittliche Bezugszeit für Sozialhilfe
vier Monate beträgt, kann man schlecht immer weiter davon reden,
daß das soziale Netz eine Hängematte wäre."

Interviewt hat Focus die Autoren der Studie übrigens nicht, auch
wenn man das glauben könnte. "Es kam ein Fotograf vorbei und
machte Aufnahmen", so Leibfried. "Das annoncierte Interview fand
dann nicht mehr statt." Vielmehr wurde aus dem Buch "Zeit der
Armut" zitiert, auf das die Autoren zur Vorbereitung des
Interviews verwiesen hatten. Muß ja auch nicht sein. Ehrlich
gesagt, ist es ja auch ein Skandal, was Focus da aufgedeckt hat.
Da haben doch bei einer Umfrage des Blattes von 1300
Bundesbürgern 92 Prozent glatt zugegeben, daß sie "jede
staatliche Leistung in Anspruch nehmen, auf die sie ein Recht
haben". Und zwar "ohne Gewissensbisse"!

Das ist dreist! Wo kommen wir denn da hin, wenn jeder Arbeitslose
sein Arbeitslosengeld auch tatsächlich ausbezahlt haben will?
Oder wenn jeder Rentner schamlos auf seine Rentenansprüche pocht?
Das geht doch zu weit. Aber wie gesagt, das alles wußten wir doch
sowieso schon. Dazu hätten wir den Focus-Artikel nun wirklich
nicht gebraucht.

Petra Neumann

------------------------- ZITAT ENDE ----------------------------


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