Berlin:
*Hungerstreik in Humboldts heiligen Hallen*
Der Philosoph Karl-Friedrich Wessel kämpft um die Erhaltung
seines Instituts
Das Interdisziplinäre Institut für Wissenschaftsphilosophie und
Humanontogenetik (IIWH), das im Mai 1990 an der Berliner
Humboldt-Universität gegründet wurde, steht vor dem Aus. Nach
dem Ende des Sommersemesters 2000 geht der Direktor des
Instituts, Professor Karl-Friedrich Wessel, fristgemäß in
Ruhestand. Für das Wintersemester soll der Lehrstuhl für
Humanontogenetik nicht mehr neu besetzt werden. Damit verlöre
ein international beachtetes Forschungsprojekt aus DDR-Zeiten
seine institutionelle Grundlage. Um das zu verhindern, ist
Wessel am Montag in einen unbefristeten Hungerstreik getreten.
* Ein deutscher Professor im Hungerstreik ist ein seltenes Bild.
Warum haben Sie sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt
entschieden?
Ungewöhnlich ist die Art und Weise des Umgangs mit dem Institut,
dem Lehrstuhl für Humanontogenetik und den Möglichkeiten
interdisziplinären Arbeitens an der Humboldt-Universität. Bis
zum heutigen Tag wurde das Institut für Humanontogenetik nicht
evaluiert. Alle Versuche, mit der Universitätsleitung darüber
ins Gespräch zu kommen, sind gescheitert. Seit neun Jahren gibt
es keinen echten Dialog über die Chancen und Möglichkeiten der
Humanontogenetik. Ein 1997 erstelltes Papier zu Forschung und
Lehre des Instituts, das acht international renommierte
Wissenschaftler positiv begutachteten, wurde von Seiten des
Universitätsleitung einfach nicht zur Kenntnis genommen.
* Was ist eigentlich das Besondere an der Humanontogenetik? Was
leistet sie mehr als traditionelle Disziplinen, die
sich um ihren Fortbestand keine Sorgen machen müssen?
Die Humanontogenetik ist eine ganzheitliche Betrachtung des
Menschen als biopsychosoziale Einheit. Das heißt, sie untersucht
die Entwicklung des Individuums von der Zeugung bis zum Tod, die
Humanontogenese. Die traditionellen Disziplinen konzentrieren
sich meist nur auf eine Seite dieser Einheit, etwa auf die
biologische oder die soziale. Nicht selten mündet dieser
einseitige Standpunkt in biologistische und soziologistische
Heilslehren, wie uns die Geschichte des 20. Jahrhunderts
schmerzlich gelehrt hat. Außerdem verlieren die klassischen
Disziplinen oft die Gesamtperspektive ihres Gegenstandes aus den
Augen, da sie nur einen kurzen zeitlichen Ausschnitt der
Humanontogenese betrachten.
* Was sind Ihre wichtigsten Forderungen an die Universität?
Meine Hauptforderung ist die Neubesetzung der Professur als
minimale institutionelle Bedingung für die Lehre und Forschung
der Humanontogenetik. Denn ohne akademische Anbindung bleibt
eine junge Wissenschaftsdisziplin chancenlos. Zweitens fordere
ich, dass die Diskussion über mögliche Studiengänge fortgesetzt
wird, was trotz mehrerer Zusagen bislang nicht erfolgt ist.
Drittens möchte ich erreichen, dass die Zukunft des Instituts
für Humanontogenetik, das in der Welt bislang einmalig ist, in
einem sachlichen Diskurs zwischen Vertretern aller
humanwissenschaftlicher Disziplinen erörtert wird.
* Was geschähe mit Ihren Mitarbeitern im Fall der Nichtbesetzung
des Lehrstuhls?
Nach Auskunft des Präsidenten der Humboldt-Universität sollten
sie auch weiterhin qualifizierte humanontogenetische Forschung
betreiben können. Ich halte es jedoch für eine Illusion, dass
wissenschaftliche Mitarbeiter ohne den Rückhalt eines Lehrstuhls
in der rauen akademischen Landschaft der Bundesrepublik
irgendwelche wissenschaftlichen Ansprüche durchzusetzen
vermögen.
* Zu DDR-Zeiten galt die Begründung der Humanontogenetik als
hoffnungsvoller Versuch einer marxistisch inspirierten
Anthropologie, die auch im Westen viel Aufmerksamkeit fand.
Jetzt wird die Notwendigkeit des ganzen Unternehmens aus der
gleichen Himmelsrichtung angezweifelt. Wie erklären Sie sich
diesen Meinungsumschwung?
Die Anerkennung der Humanontogenetik war niemals ungeteilt, auch
zu DDR-Zeiten gab es viele Einwände von Seiten dogmatischer
Wissenschaftsfunktionäre, die dem neuen Konzept die
philosophische "Linientreue" absprachen. Nach der Wende war ich
überrascht, dass auch bei Neugestaltung der
Wissenschaftslandschaft in Ostdeutschland ideologische und
persönliche Vorurteile häufig eine Rolle spielten. Vieles, was
DDR-Wissenschaftler geleistet hatten, wurde ohne eingehende
Prüfung negiert. Eine Evaluierung der Humanontogenetik fand
deswegen nicht statt, weil es keine vergleichbare Disziplin im
Westen gab, die den westdeutschen Abwicklern als Orientierung
hätte dienen können. Sollte der Lehrstuhl jetzt verschwinden,
käme das einer verspäteten Abwicklung des Instituts gleich.
* Halten Sie die zauderlichen Umgang mit der Humanontogenetik
für einen Sonderfall? Oder kommen hier generelle Defizite des
akademischen Systems der Bundesrepublik zum Vorschein?
Zweifellos. In der Bundesrepublik wird zu wenig Geld für die
Wissenschaft ausgegeben. Außerdem werden die wenigen Mittel
lobbyistisch verteilt. Das belastet in der gegenwärtigen
Situation vor allem die Entfaltung neuer Disziplinen. Es war mit
Sicherheit kein glücklicher Umstand, dass im Zuge der
Neuformierung der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft die in
vielen Fragen bereits überalterten Vorstellungen der
Bundesrepublik übernommen wurden. Längst überfällige Reformen
blieben seither auf der Strecke. Nicht nur die Potenzen der
Humanontogenetik, auch die anderer Wissenschaftsdisziplinen im
Osten wurden auf diese Weise leichtfertig verschenkt. Insofern
möchte ich mit meinem Hungerstreik auch auf die finanzielle
Misere der Humboldt-Universität aufmerksam machen.
* Wie stellen Sie sich die künftige Arbeit des Instituts vor,
sollte Ihr Hungerstreik die Leitung der Humboldt-Universität
zum Umdenken veranlassen?
Ich wünsche mir, dass die Universität der Entfaltung des
humanwissenschaftlichen Denkens künftig mehr Aufmerksamkeit
schenkt. Und dass sie auch die Studenten stärker in dieser
Richtung ausbildet. Beides halte ich deswegen für notwendig,
weil in unserer Gesellschaft ein spürbarer Bedarf nach
ganzheitlichen, dialektischen Sichtweisen auf den Menschen
besteht, um den Erfordernissen einer dynamisch sich verändernden
Welt gerecht zu werden. Es ist meine feste Überzeugung, dass ein
humanontogenetisches Institut hierzu einen wichtigen Beitrag
leisten könnte.
Fragen: Martin Koch