Google Groups no longer supports new Usenet posts or subscriptions. Historical content remains viewable.
Dismiss

ND: Ein besonderes Hotel in Kaendler

89 views
Skip to first unread message

LEO.T...@bionic.zerberus.de

unread,
Nov 29, 1998, 3:00:00 AM11/29/98
to
************************************
neues deutschland vom 28./29.11.1998
************************************

Strahlender als das Licht der
Lüster ist die Freude, die
Freundlichkeit:

Im sächsischen Kändler führen 20
geistig behinderte junge Menschen
ein besonderes Hotel


Zwiebeln schneiden macht Spaß

Von Christina Matte

Zwiebeln schneiden macht Spaß. Fünf Zwiebeln, zehn
Zwiebeln, zwanzig Zwiebeln. Viele Zwiebeln. Salat aus
Paprika und Zwiebeln. Er hat ihn angerichtet. Er hat
nichts angerichtet dabei. Der Salat schmeckt.

So einfach ist Gluck, Sebastians Glück Sebastian ist
20 und lernbehindert. Er empfindet es nicht, hier nicht.
Er legt ein weißes Tuch auf den Tisch, darauf Messer,
Gabel, Serviette. Der Salat schmeckt, ich sage es ihm.
Er lacht, er weiß es: Das ist das beste. Er weiß, wozu er
fähig ist. Seine Grenzen hat er vergessen. Etwas, das wir,
die wir unsere Grenzen nur zu gut kennen, geben können.

Das Glück ist gebündelt in einem Haus. Es schmiegt
sich in einen alten Park mit alten Bäumen, von denen das
Laub fällt. Innen zeigt es gediegene Pracht, Kristalllüster
tauchen das Entré in ein festlich heiteres Licht. Anders
als viele andere Häuser hat das Haus eine Geschichte:
Der Unternehmer Erhardt Wunsch ließ es Ende der 20er
Jahre nahe seiner Textilfabrik im sächsischen Kändler
errichten. Nach dem Krieg wurde die Familie enteignet,
das Haus diente als Gästehaus der SED-Bezirksleitung,
1995 fiel es zurück an die Wunsch-Enkel. Heute ist
es ein Hotel. Ein besonderes Hotel: Das »Landhaus
Wunsch« wird von 20 jungen Menschen wie Sebastian
betrieben. Jungen Menschen mit Down-Syndrom, Autismus
oder Geburtsschäden. Ich habe mich eingemietet.

Das Zimmer war nicht leicht zu kriegen. Häufig
finden Tagungen statt, dann ist das »Landhaus«
ausgebucht als Tagungs- oder Schulungshotel eignet
es sich mit der Intimitat von 26 Betten am besten.
Mieter und bevorzugter Gast ist der Verein
Lebenshilfe, dem vor allem Mutter und Väter
geistig Behinderter angehören. Sie initiierten
auch jenes Projekt, das »Integration 2000« heißt
und in drei Ländern Europas läuft - in Deutschland,
Italien und Österreich. Es begann im August '96,
mit Fördermitteln der EU und, hier in Sachsen, des
Freistaates. Zu beweisen war: Junge Menschen mit
geistigen Behinderungen können innerhalb von drei
Jahren darauf vorbereitet werden, »verwertbare
Arbeit zu verrichten« - und zwar auf dem offenen
Arbeitsmarkt. Zu beweisen war, daß es zum Unterricht
in speziellen Förderschulen und der Arbeit in
Werkstätten eine Alternative gibt.

"Es ist bewiesen«, sagt Romy Dietze, die zur
Projektleitung gehört. Ein überraschend bestimmter
Satz von einer Frau die mit 27 noch selbst wie ein
junges Mädchen aussieht. Die auch bestimmte Sätze
sanft spricht. Ursprünglich wollte Romy Dietze
Lehrerin in einer Grundschule werden, nach der
Wende studierte sie dann doch lieber
Sozialpädagogik. Hier, bei »Integration 2000«,
hat sie ihre erste Anstellung. Es ist wie eine
erste Liebe: Sie kann sich nicht vorstellen, jemals
eine schönere Arbeit zu finden. Das Haus sei ein
Traum, schon weil es im Rahmen des Projekts jede
Möglichkeit biete, die »Teilnehmer«, je nach
Befähigung, auszubilden und einzusetzen. Ein Hotel
wie dieses verlange ein ganzes Spektrum von
Tätigkeiten: Gärtnern und Laub harken im Park,
waschen und bügeln, Zimmerservice, Kuchenarbeit
einschließlich kochen, Service vom Eindecken bis
zum Servieren. Sie sieht, wie die »Teilnehmer« sich
entwickeln. Sie sagt »Teilnehmer« weil ich fremd
bin, jemand, dem sie etwas erklärt. Sobald sie das
einen Moment lang vergißt, sagt sie »der Sebastian«,
»der Andre«, »die Susan« oder »die Kristin«. Es geht
freundlich-familiär zu.

Mein Zimmer hat Andre hergerichtet. Ich
weiß das, weil er eine Karte auf den kleinen
Couchtisch gelegt hat. Er hat das Bad gereinigt, den
Teppich gesaugt, die Glühbirne in der Lampe gewechselt,
das Bett bezogen, den Blumentopf auf der Fensterbank
gewässert und die Mini-Bar aufgefüllt. Andre ist
mongoloid. Ein einziges Chromosom zuviel ist dafür
verantwortlich: Er wird immer täppisch laufen sich
immer abrupt bewegen und niemals wirklich intelligent
sein. Er ist im Zimmerservice tätig. Romy Dietze zitiert
Sätze aus einem Bericht der Projektleitung: Ein »sehr
großer" Leistungszuwachs sei bei Andre zu verzeichnen.
Um dieses Niveau zu halten sei zunächst eine
Bezugsperson ständig an seiner Seite gewesen; er habe
die Tätigkeiten mehrfach wiederholen müssen. Nun
arbeite er sorgfältiger, bestehen blieben »Schwankungen
in Bezug auf Selbständigkeit, Ausführung komplexer
Tätigkeiten, Arbeitstempo und Ausdauer".

Das Glas, aus dem ich trinke blitzt. Susan hat
das Glas poliert. Sie putzt, reibt, wischt, wienert
und rubbelt, sie streichelt mit ihrem Leinentuch:
Serviettenringe, Gläser, Bestecke. Außerdem hat sie
heute bereits Kartoffeln geschält, eine Garnitur
aus Tomaten und Petersilie auf die Mittagsteller
gelegt und die Tische abgeräumt. Romy Dietze: »Sie
ist sehr fleißig. Kleinere Aufgabenkomplexe kann
sich Susan selbst einteilen. Weil Susan so eifrig
ist, macht sie manchmal kleine Fehler. Ihre
Kritikfähigkeit hat sich aber in letzter Zeit
merklich verbessert."

Auch Susan leidet am Down-Syndrom. Es fällt
ihr schwer, deutlich zu sprechen. Ich frage sie, weshalb
die Bestecke so makellos glänzen müssen Sie stammelt
etwas von Wasserflecken; ich ahne es mehr, als ich es
verstehe. Ich ertappe mich dabei, wie ich unversehens
zum »Du" wechsele und unerlaubt jene Distanz
überschreite, die zwischen Erwachsenen gesetzt ist.
Dabei ist sie volljährig. Es gelingt mir nicht, sie
so zu sehen. Spürt sie es, verletzt es sie? Leidet
sie, weil sie anders ist?

Wie Sebastian und Andre wirkt Susan
fröhlich. Ich habe geistig behinderte Menschen in
geschützten Werkstätten und Rehabilitationszentren
gesehen, hier empfinde ich ihre Nahe seltsamerweise
nicht als bedruckend. Sie waren nirgends so
selbstverständlich so selbstbewußt, so selbstsicher.
Eine Freundlichkeit, eine Freude geht von diesen
Menschen aus, strahlender als das Licht der Lüster.
Dieses Licht überfällt einen nicht, es berührt einen
langsam, zögerlich, bis es einen plötzlich erreicht.
Es ist dasselbe innere Leuchten, das Romy Dietze
meint, wenn sie schwärmerisch von »besonderer
Atmosphäre" spricht: Die »Teilnehmer" konnten nicht
böse sein. Wenn sie einander doch einmal verletzten,
seien sie anschließend bedrückt.

Irgendwo habe ich gelesen, daß Güte und
Freundlichkeit bei Menschen mit Down-Syndrom zum
gängigen Krankheitsbild gehören. Ich mag Gute und
Freundlichkeit nicht als Krankheitssymptome sehen,
ich behaupte, es ist anders: Sie haben die Seele
von Kindern. Seelen, die die Zärtlichkeit, die sie
empfangen, zurückgeben Seelen, deren Schönheit sie
vor Bitterkeit und Verzweiflung schützt. Man weiß
es nicht, doch man wünscht es sich.

Ich spüre, daß es ihr Haus ist. Nur, wer kein
Haus als Zuhause ansieht, kann Gaste als Gastgeber
empfangen - dann unterscheidet sich das »Landhaus" von
anderen Hotels. Hier wird Gastlichkeit nicht gespielt,
der zufriedene Gast wiegt mehr als sein Geld. Rund um
Kändler weiß man das. Man feiert hier gern Geburtstage,
Hochzeiten und Jugendweihen. Morgen, wenn ich abreise,
wird hier ein Ehepaar aus Chemnitz seine
Silberhochzeit begehen, in der Küche wird gerade das
kalte Buffet vorbereitet. Verantwortlich ist Herr
Hickstein, der Koch; zur Hand gehen ihm Jaqueline,
Kristin, Jeanette, Samira und Sebastian.

Für Hickstein sind sie alle »Azubis". Der
56jährige, der einst in Berlin als Stabskoch begann,
die Küchen von FDGB-Ferienheimen und großen VEB
leitete hat immer Lehrlinge ausgebildet der "Umgang
mit jungen Menschen« war all die Jahre für ihn das
beste. Auch hier nimmt er seine Azubis »voll ran Ich
bin ja dafür verantwortlich, daß sie mal ihren Mann
stehen". Sicher, manchmal haben sie, was er morgens
erklärte, mittags vergessen. Doch sie seien
wißbegieriger, eifriger und dankbarer als »nichtbehinderte
Azubis": »Da ist viel rauszuholen", sagt er, »Basti fällt
das Würzen noch schwer, Jeanette kann schon Salat
zubereiten, Kristin kann servieren und sogar
kassieren."

Kristin, ein hübsches Mädchen von 19.
Sie war so schüchtern, ängstlich, gehemmt, daß sie
sich am ersten Arbeitstags draußen neben den
Tennisplatz setzte und dort stundenlag hockenblieb.
Romy Dietze weiß es noch genau: »Wir mußten sie
hereinholen. Inzwischen hat sie sich aber gut ins
Kollektiv integriert.« Daß sie nun hinausgehe, zu
den Gästen, sei wirklich eine »Riesenleistung"! Daß
man nett zu ihr ist, sie anerkennt, stärke ihr
Selbstvertrauen weiter. Romy Dietze lächelt sanft:
»Und es macht ja nichts, wenn mal ein Glas umfällt.
Von Unseren Gästen nimmt das keiner übel.«

Natürlich, man kann es drehen und wenden:
Auch dieses Haus ist geschützter Raum. Die Gäste sind
vorbereitet; ein Projektleiter, vier Pädagogen, eine
Gastronomin, ein Koch, eine Bürokraft und drei Zivis
begleiten die jungen Menschen. Bleibt der Schritt in
die Welt, auf den Arbeitsmarkt. Noch einmal Kristin:
Sie sei schon zwei Mal im Elbsandsteingebirge gewesen,
dort habe sie im Herbergshof »Dir zuliebe« arbeiten
dürfen. Sie hat Zimmer gereinigt, das Frühstücksbuffett
vorbereitet und Tische gedeckt, Tee ausgeschenkt, bei
der Zubereitung der Mittagsmahlzeiten geholfen und das
Essen ausgegeben. »Das war in Nenntmannsdorf«, sagt
Romy Dietze, »wenn wir schon mal Partner finden die
Praktika ermöglichen, möchten wir sie auch namentlich
nennen." Mit anderen Worten: Die »Teilnehmer« haben das
Klassenziel erreicht, doch die Welt reißt sich nicht
ums sie. Wieso auch? Der Markt ist überfüllt.

Die anderen sind längst nach Hause
gefahren, ich bin mit Sebastian allein. Sebastian
hat heute die Spätschicht. Es ist wenig zu tun, die
nächsten Tage bleiben schulungs- und tagungsfrei,
26 Betten warten, ich konnte in allen schlafen, wenn
ich dazu Lust hätte. Nächstes Jahr endet das
Projekt. Dann enden auch die Fördermittel, dann muß
das »Landhaus Wunsch" schließen. Oder es muß sich
selbst tragen. Undenkbar, da die Hotelauslastung
selbst in einer Stadt wie Chemnitz unter 25 Prozent
liegt.

Sebastian führt mich durch das Haus.
Wäschekammer, Lehrküche, Speisesaal und
Frühstückskeller, Grillpavillon, Computerraum -
hier drucken sie Speisekarten aus. Ein großes,
großzügiges Haus. Für ein großzügiges Projekt;
20 Menschen sind hier glücklich. Es gilt als
Modellprojekt. Ich denke, daß Modellprojekte so
ähnlich wie Forschungsprojekte sind: Wir sammeln
Wissen, testen aus, wozu wir in der Lage sind,
und stellen fest, es ist erstaunlich. Wir sind
zu Spitzenleistungen fähig, rein wissenschaftlich,
rein theoretisch. Der Alltag ist oft armselig.
Eine erneute Förderung durch den Europäischen
Sozialfonds ist durch die Satzung ausgeschlossen.
Viel zu viele Zielgruppen sind auf Förderung
angewiesen: Alte, Kranke, Arme, Schwache alle
haben sie verdient. Und doch will mir ein Bild
nicht aus dem Sinn: Kätzchen die man von Geburt
an im Haus hält und nur ein Mal, ein einziges Mal
hinaus in den Garten läßt. Dort entdecken sie die
Gerüche, tanzen im Mondschein über die Wiese,
und wenn sie wissen, wie Freiheit schmeckt,
schließt man sie für immer wieder weg.

Abends kommt Sebastians Vater.
Manchmal holt er ihn ab, seinen Sohn. Meistens
allerdings fährt Sebastian mit öffentlichen
Verkehrsmitteln. Das habe er gelernt, sagt Herr
Wenzel. Er habe sich, seit er hier arbeite,
geradezu unglaublich verändert. So bewältige
er inzwischen viele Dinge des Lebens besser:
Er besorge die Sichtkarte selbst, sei in der
Lage, den Haushalt zu führen und habe die
Übersicht über seine Termine im Schichtdienst.
Ein Stück Unabhängigkeit, das ihm vielleicht
mal ermöglichen könnte, eine eigene Wohnung zu
nehmen - Stefan Wenzel wird nicht jünger.
Dieses Stück Unabhängigkeit soll Sebastian
nicht wieder verlieren.

Deshalb arbeitet Stefan Wenzel in der
Elterninitiative mit. Er weiß, wie die Wirklichkeit
aussieht: Unternehmen sind kaum interessiert,
behinderte Menschen einzustellen. Obwohl das Gesetz
sie verpflichtet, auf jeweils 16 Arbeitnehmer einen
Behinderten einzustellen zahlen sie lieber die
monatliche Abgabe von 200 Mark - das kommt sie
letztlich billiger als eine behinderte Arbeitskraft,
die sie nicht entlassen dürfen und die sie nie mehr
»loswerden". Erschwerend sei, daß die
Projektteilnehmer Erwerbsunfähigenrente beziehen.
Kein großes Geld, nur eine kleine Absicherung für
alle Fälle. Sobald sie mehr als 520 Mark im Monat
dazuverdienen, verlieren sie die Rente für immer.
Herr Wenzel meint, man mußte die Rente für Zeiten,
in denen es ihnen gut geht und in denen sie
arbeiten können vorübergehend aussetzen. Das
würde ihre Chancen erhöhen.

Wie die Dinge im Augenblick liegen, scheint
es die einzige Möglichkeit, das »Landhaus« irgendwie
weiterzuführen. Vorstand und Geschäftsleitung seien
fest dazu entschlossen - irgendwie muß man
Sponsoren finden, irgendwie muß man wirtschaftlich
werden. Vieleicht entdecken ja Unternehmen das
»Landhaus« für Betriebsausflüge. Dann konnte die
»Stammmannschaft« bleiben, man könnte weiter
ausbilden und Personal gleichsam vermieten, mit
der Verpflichtung, die Jugendlichen im Stammhaus
weiter zu betreuen und gegebenenfalls
zurückzunehmen . . .

Modelle sind auch Visionen, Entwürfe,
nach denen man Leben gestalten kann. Stück
für Stück, vielleicht scheitert man. Am
schwersten von allen Chargen des Glücks ist
das einfache Glück zu haben. »Schon daß
Sie hier waren«, sagt Sebastian. Er lacht, es
war ein schöner Tag. Er hat viele Zwiebeln
geschnitten. Und vielleicht kommt er wieder
mal in die Zeitung.

0 new messages