Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert
errichteten Bauwerken: das Seidenbauhaus in Neuilly
In Neuilly hatte man ein bestehendes Gartenhaus "in dem
königlichen Park" umgebaut und in eine "der magnaneries
salubres" verwandelt. Man hat also ein "Seidenbauhaus"
daraus gemacht. Dazu wird in einem Text aus dem Jahre
1837 formuliert:
"Dieses Gebäude ist, wie erwähnt, als Gartengebäude er-
richtet worden, und erhielt erst in neuester Zeit seine jetzi-
ge Bestimmung, wozu, wie aus dem Grundrisse /.../ her-
vorgeht, an dem Gebäude zwei Gemächer /.../ angebaut
wurden." (1)
http://www.fotos.web.de/spaceoffice/Neuilly_Seidenbauhaus
(Grundriß, Schnitte, Einzelheiten)
Die Erwähnung, man habe auch dieses Gartenhaus zu ei-
nem Seidenbauhaus gemacht, ist interessant. Es scheint
so zu sein, daß in der Biedermeierzeit der "Seidenbau" er-
heblich ausgeweitet wurde. Das könnte daran gelegen ha-
ben, weil man es endlich verstand, die Seidenbauhäuser
besser zu klimatisieren. Seidenraupen reagieren offensicht-
lich sehr empfindlich auf Temperaturschwankungen und be-
nötigen einen ganz bestimmten Luftzug, um ihr Leben er-
halten zu können. Zu den Ventilazionseinrichtungen, die
folglich als technische Einbauten sehr wichtig sind, um Sei-
denfäden produzieren zu können, wurde geschrieben:
"Dieser Gegenstand ist in kältern Klimaten vorzüglich be-
achtungswerth, weil der Seidenbau dadurch so weit nach
dem Norden ausgebreitet werden kann, als der Maulbeer-
baum noch fortkommt; und selbst in wärmern Ländern er-
mangeln die Stuben, worin die Seidenraupen gepflegt wer-
den, oft der gehörigen Ventilazion und gleichmäßigen Tem-
peratur, so daß auch da öfters eine große Sterblichkeit
der Seidenraupen eintritt." (2)
Es besteht also einerseits ein Zusammenhang zwischen
dem Verbreitungsgebiet von Maulbeerbäumen und anderer-
seits der Tatsache, daß nicht überall da, wo es Maulbeer-
bäume in der Biedermeierzeit gab, Seidenraupen zum Sei-
denbau gehalten werden konnten. Man benötigte dazu eine
wohlabgewogene Klimatechnologie, welche den Seidenrau-
pen das Überleben garantierte. Diese raumklimatischen
Bedingungen herzustellen, war jedoch nicht so einfach,
denn es heißt, daß selbst in wärmeren Klimagebieten die
Seidenraupenzucht sehr schwierig und riskant ist. In der
Biedermeierzeit war man deshalb froh, wenn über die Fort-
schritte im Bau von Seidenbauhäusern fachlich gut infor-
miert wurde. Um den Stand der Technik, wie er in der Bie-
dermeierzeit erreicht wurde, zu verstehen, lohnt sich die
Auswertung der Veröffentlichungen zu diesen Seidenbau-
häusern. Allzuviele wird es vermutlich nicht geben können.
Bisher begegneten mir zwei Aufsätze, die aber schon eine
recht gute Vorstellung von dem ergeben, wie damals für
die Seidenraupenzüchter in Europa zu bauen war.
Wenn man sich die Zeichnungen zu den Gebäuden an-
schaut, entdeckt man einerseits die Seidenbaustube, an-
dererseits die Ventilationsanlagen, die für die Raupenzucht
erfunden worden waren. Zugeordnet sind Räume, in denen
die Maulbeerbaumblätter getrocknet und die Seidenfäden
gesponnen werden konnten. Auch die Erfindungen für die
Stellagen, auf denen die Seidenraupen gehalten wurden,
sind interessant durchdacht. Man muß die Grundrisse und
Schnitte, sowie alle Detailzeichnungen auswerten, um ein
solches Seidenbauhaus zu verstehen.
Der Grundriß von dem Gebäude in Neuilly zeigt uns das
Parterre von der gesamten Bauanlage. Wir entdecken
den Kernbau und die beiden Anbauten. Im Inneren des
Kernbaues sind, sehr symmetrisch, Zwischenwände ein-
gebaut, sodaß drei Raumabschnitte entstanden. In einem
dieser beiden schmaleren Innenräume wurde ein Treppen-
haus abgetrennt. Unter dem angehobenen Erdgeschoß
liegt ein Souterrain, in dem die klimatischen Verhältnisse
im Seidenbauhaus erzeugt wurden. Man konnte hier hei-
zen und kühlen. Über Luftkanäle wurde die wohltemperierte
Luft in die Seidenbauräumlichkeiten geleitet. Man muß, um
all diese Anlagen und Einrichtungen zu verstehen, den Text
zu den Architekturzeichnungen sehr genau auswerten.
Die Zwischenwände im angehobenen Parterre scheinen
aus der früheren Nutzung des Gebäudes als Gartenhaus
herzurühren, denn eine der beiden Innenwände ist für die
Raupenzucht hinderlich. Man wünschte sie zu entfernen,
damit eine einzige große Seidenbaustube entstehen kann.
Man hatte also, nach der Umwidmung in ein Seidenbau-
haus, mit zwei getrennte Seidenbaustuben die Produktion
begonnen:
"Diese sind zwar durch die Mauer /.../ in zwei getheilt, sol-
len aber, wenn das Gebäude seine jetzige Widmung behält,
in eine ununterbrochene Stube umgewandelt werden, da
die Zwischenmauer der Ventilazion hinderlich ist." (3)
Ob nachvollziehbar gemacht werden kann, wieso man
diese Zwischenwand nicht gleich zu Beginn entfernte,
läßt sich so einfach nicht beurteilen. Ob vielleicht noch be-
stehende Archivalien darüber Aufschluß geben können,
kann derzeit nur spekuliert werden. Denkbar ist, daß
man den geringeren Raumbedarf eines bestimmten bio-
logischen Abschnittes der Seidenraupen kannte. Denn
in einem anderen Seidenbauhaus hatte man eine beweg-
liche Trennwand in die Seidenbaustube eingebaut, die
dem wachsenden Raumbedarf der aufwachsenden Seiden-
raupen nachfolgte. Durch diese Trennwand ließ sich der
Ventilationsaufwand mit beheizter oder gekühlter Luft ver-
ringern und genauer an der Notwendigkeit bemessen. Das
sparte finanzielle Aufwendungen für Eis zum Kühlen und
Heizmaterial zum Wärmen der Seidenbaustube. Hinweise
dazu können anderswo bei mir nachgelesen werden. (4)
Die Balkenlage der Geschoßdecken geht, wie dem Quer-
schnitt durch das ehemalige Gartenhaus zu entnehmen ist,
in Richtung der langen Erstreckung des Gebäudes. Es
könnte also auch sein, daß bei der Umnutzung dieses Alt-
baus in ein Seidenbauhaus der Ausbau der Zwischenwand
deshalb vermieden wurde, weil dann zur Auflage der Balken
der Geschoßdecke zwischen Hochparterre und Dachge-
schoß ein schwerer Tragbalken in Querrichtung hätte ein-
gebaut werden müssen. Zu vermuten ist also eher diese
Einsparung der Kosten für den Einbau des schweren Trag-
balkens als Ersatz der Trennwand.
Das Auswerten der Zeichnungen kann viele Probleme be-
reiten, da wir heute einen anderen Standard bei Bauzeich-
nungen pflegen. Es fehlen zu diesem Bauwerk verschiede-
ne Grundrisse, und die gegebenen Schnitte zeigen anderer-
seits nicht den Zusammenhang der Anbauten mit dem
Kernbau. Der erläuternde Text aus der Biedermeierzeit gibt
zwar Hinweise, aber er erhält durch die Reduktion, die mit
den Zeichnungen auftritt, ein Gewebe aus Unklarheit, was
zum unvollständigen Verstehen des Seidenbauhauses
führt. Wenn man jedoch die beiden Seidenbauhäuser der
Biedermeierzeit, also das in Villemonble und in Neuilly
vergleicht, wächst wieder das Verständnis.
Im Keller des Kernbaus, der von den beiden Anbauten und
über ein Treppenhaus im Kernbau erreichbar ist, befinden
sich die Vorrichtungen zum Erwärmen oder Abkühlen des
Luftstromes, der über Luftkanäle in die Seidenbaustube
geleitet wird. Dort hängen die Ablagen für die Seidenraupen
an Schnüren, sodaß sie bei der Tagesarbeit der Seiden-
raupenzüchter auf- und abgelassen werden können. Das
erleichtert das Füttern der Seidenraupen mit Maulbeerblät-
tern, usw. Über der Seidenbaustube befinden sich Abluft-
kanäle, sodaß die wohl temperierte Luft, die in die Seiden-
baustube strömt, wieder abgeführt werden kann. Ein Luft-
verwirbler im Dachgeschoß, der durch die heiße Luft eines
Ofens, der im kleinen Heizkeller steht, in Gang gehalten
wird, drückt die Luft über das Dach durch einen Abluftkanal
nach draußen.
Jenachdem, ob der Luftstrom, der um die Seidenraupen
fließen soll, damit sie sich am Leben halten können, zu
warm oder zu kalt ist, muß im Keller dafür gesorgt werden,
daß die richtige Temperatur der Luft eingehalten wird. Dies
geschieht durch Beheizung des Luftstroms, oder durch
Abkühlung. Um abzukühlen, läßt man die Luft an kaltem
Wasser vorbeigleiten, oder legt sogar Eisbrocken in einen
Behälter, der in den Luftstrom gestellt wird. Die Vorrich-
tungen sind in den Zeichnungen kenntlich gemacht.
Neben der Seidenbaustube, befindet sich ein Magazinraum.
Es ist denkbar, daß hier die Maulbeerblätter getrocknet
werden und die Seidenfäden von den Kokons abgesponnen
werden.
Es lohnt sich, Seidenbauhäuser miteinander zu vergleichen.
Es fiel bisher dabei auf, daß solchen Gebäuden in Zeich-
nungen keine Fassadenansichten beigegeben sind. Dies
läßt eine Auswertung nicht zu, die den Baustil herausar-
beiten soll. Im Falle dieses Seidenbauhauses in Neuilly
fällt dieses Problem nicht so sehr ins Gewicht, weil es sich
um die Umnutzung eines Altbaus handelt. Jedoch müßte
auch dieser baugeschichtlich erschlossen werden.
K.L.
Dieser Text von Karl-Ludwig Diehl wurde in
http://groups.google.com/group/baugeschichte
zur Diskussion gestellt. Der Autor ist über folgende
Emailadresse erreichbar: baugeschichte (at)
email.de
Anmerkungen:
(1)-(2) zitiert aus: o.A.: Beschreibung des in dem königli-
chen Park zu Neuilly bestehenden Seidenbauhauses.
S.75-76 und Zeichnungen auf Blatt CXII in: Allgemeine Bau-
zeitung. Wien, 1837. S.75
(3) zitiert aus: o.A., wie vor, S.76
(4) siehe bei: Karl-Ludwig Diehl: Auswertung der Aufsätze
zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: ein Ge-
bäude für die Seidenzucht in der Nähe von Paris. In:
http://groups.google.com/group/baugeschichte
Es ist auch möglich, sich direkt an mich zu wenden.