Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: das Theater in Gent

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Karl-Ludwig Diehl

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Nov 20, 2008, 9:20:05 AM11/20/08
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Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert
errichteten Bauwerken: das Theater in Gent


Da Gent einen Eisenbahnanschluß erhielt, und man sich
zusätzliche Theaterbesucher in der Stadt erhoffen konnte,
wurde das alte Theater, das 1175 Zuschauer fassen konn-
te, abgerissen. Ein moderner Neubau, der schon lange ge-
wünscht war, kam zur Bauausführung. Als im Jahre 1838
in der Allgemeinen Bauzeitung in Wien darüber berichtet
wurde, befand sich das Gebäude noch in der Bauphase.

"Es sind mit diesem Theater das Postamt, ein Konzertsaal
und andere Säle, ein Kaffeehaus und eine Restaurazion ver-
einigt." (1)

Die Planung dieses multifunktionalen Bauwerkes, von dem
jedoch nur der Theaterbereich in Form von Zeichnungen
in dem Aufsatz aus der Biedermeierzeit zur Darstellung ge-
bracht wurde, hatte der Architekt Roelandt übernommen. Er
leitete auch das Bauvorhaben, dessen Bau durch die Regie-
rung genehmigt werden mußte. Vermutlich schoß der Staat
Geld hinzu. Es heißt zu diesem Bauwerk:

"Die Fasade des Theaters, welche sich in einer Länge von
90 Metres in der Theatergasse ausdehnt, ist eine der schön-
sten, die in den Niederlanden zu finden sind; sie liegt in ei-
ner Straße, die so eben beträchtlich erweitert, verschönert
und durch den prachtvollen, von dem nämlichen Architekten
neu ausgeführten Justizpalast geschmückt wird." (2)

Das Bauwerk scheint neu an alter Stelle errichtet worden
zu sein, wenn als Bauplatz die Theaterstraße genannt ist.
Diese Straße selbst wurde offensichtlich von demselben
Architekten "erweitert, verschönert", und mit einem neuen
Justizpalastgebäude aufgewertet. Somit dürfte das neue
Theater als Teil einer städtebaulichen Gesamtplanung an-
zusehen sein, was für ein Projekt spricht, das typisch für
die Biedermeierzeit gewesen ist, weil sich die Städte end-
lich ausdehnen konnten, und sich die Menschen nach ge-
sunder und frischer Luft, sowie Sonne und großzügigem
Städtebau sehnten. Man wollten aus den Beengtheiten
des mittelalterlichen Städtebaus endlich herauskommen.

Die Beschreibung des Theaterneubaus sollte mit den Zeich-
nungen verglichen werden.

http://www.fotos.web.de/spaceoffice/Gent_Theater
(Grundriß OG, Ansicht)

"Der mittlere Theil des Gebäudes, welcher das Drittel der
ganzen Fronte beträgt, hat ein Risalit mit drei großen Tho-
ren in elliptischer Form, die in eine Halle führen, wo die Ab-
fahrenden sowohl, als die Ankommenden auf- und abstei-
gen können. Der ausgebogene Vorsprung ist so gering,
daß durch denselben das Trottoir, welches mit Plattsteinen
zu belegen angetragen ist, nicht unterbrochen wird, und
dennoch bietet das Vestibul noch Raum genug, daß drei
Wagen zugleich vorfahren können." (3)

Es wurde also eine Kutschenein- und ausfahrt in eine ellip-
tische Halle in der Mitte des Gebäudes vorgesehen. Dort
konnten die Theaterbesucher ihre Kutsche verlassen und
der Wagen fuhr wieder aus der Halle durch eines der Tore
hinaus. In der Ansichtszeichnung ist dieser Mittelrisalit gut
zu erkennen, denn seine Prachtfassade hebt sich deutlich
von der langgestreckten Theaterfassade ab.

Leider ist nur ein Grundriß einer Etage veröffentlicht worden,
was die Auswertung erschwert. Man muß sich also an den
Text halten.

"Die Eingänge liegen ebensöllig mit dem Straßenpflaster
und führen in das Parterre, das Parquet, die Logen, das
Paradies oder die oberste und letzte Gallerie, zur Bühne
und den übrigen Theaterräumen, wodurch bei zahlreichen
Versammlungen jeder Unordnung und dem lästigen Ge-
dränge vorgebeugt wird." (4)

Es darf angenommen werden, daß sehr prachtvolle Innen-
architekturen eingebaut wurden, sodaß es ein Vergnügen
bereitete, durch diese Vorhallen und über diese Treppenan-
lagen in den Theaterraum zu gehen.

"Sechs verschiedene Treppen, vom Tageslicht, wie Abends
von Gas erleuchtet, unterstützen die Verbindung der Räu-
me." (5)

Da Vorsorge zu treffen war, damit bei Regen Hunderte von
Personen problemlos schnell in den Theatervorraum eilen
konnten, um sich zu schützen, schuf man dafür Raum.
Hier konnten die Theaterbesucher die Wartezeit verbringen,
bis der Einlaß in die Theaterräume gewährt wurde. Unweit
wurde "eine Restaurazion und ein Kaffeehaus angelegt".
Wer prominierte und etwas zu sich nehmen wollte, konnte
sich hierhin wenden.

"Im ersten Stockwerke liegt der Wärme- oder Konversa-
zionssaal (Foyer), dessen Geräumigkeit aus der Zeich-
nung ersichtlich ist, und der große eirunde Saal dient so-
wohl dem Foyer, als dem Konzert- und Redoutensaale als
Vorplatz." (6)

Diese Angaben lassen sich mit der Grundrißzeichnung des
Obergeschoßes in Verbindung bringen. In der Mitte des
langgestreckten Bauwerkes liegt ein "eirunder" Vorsaal,
der sowohl von den Theatergästen als auch den Konzertbe-
suchern genutzt werden konnte. Der Konzertsaal liegt im
Obergeschoß ganz rechts neben dem eirunden Vorsaal.
Das große Foyer wiederum liegt links von dem eirunden
Saal, ebenfalls im Obergeschoß. Darunter wird sich das er-
wähnte Kaffeehaus befinden. Der Theatersaal schließt sich
rückwärts an dieses Foyer im Obergeschoß an. Über im
Halbkreis gebogene Gänge gelangt man vom Foyer aus zu
den Logen, sodaß angenommen werden kann, daß über
die Vorräume im Erdgeschoß die Sitzreihen im Theatersaal
erreichbar gemacht worden waren. Noch weiter rückwärts,
im Anschluß an den Zuschauerraum, erhebt sich das Büh-
nengebäude. Im Vergleich zum alten Gebäude mit seinen
1175 Zuschauerplätzen bietet das neue Gebäude wesent-
lich mehr Besuchern Platz.

"Außer dem Orchester, Parquet und Parterre wird der
Schauplatz vier Reihen Logen enthalten, ferner eine ober-
ste Gallerie (Paradies) für 600 Menschen, auf welche Art
das ganze Theater bequem 1800 und bei einiger Unbe-
quemlichkeit auch 2000 Menschen fassen kann." (7)

Da in den Räumlichkeiten auch größere Feierlichkeiten
begangen werden sollten, war das Gebäude so konzipiert
worden, daß sich die Foyers und andere Säle zusammen-
schließen liessen.

"Bei größeren Feierlichkeiten werden diese unter sich ver-
bundenen Säle, die nach Gefallen auch mit dem Theater-
saale und selbst mit der Bühne erweitert werden können,
sämmtlich geöffnet und erleuchtet, wie es zur Ballzeit
ebenfalls geschieht; sie geben ohne der Bühne einer Ver-
sammlung von beiläufig 6000 Personen hinreichend Raum."
(8)

Das sagt nun, die Versammlung so vieler Personen zu
sehr großen Anlässen spiegelt den Wunsch wieder, einem
möglichst großen Teil der Bewohner der Stadt und sehr vie-
len Gästen der Stadt einen würdigen Empfang bereiten zu
können. Es ist sicherlich nicht unwichtig, genauer zu wis-
sen, aus welchen Gründen solche großen Empfänge abge-
halten wurden.

Zu dem Bühnengebäude mit seinen Nebenräumen fanden
sich Aussagen im Text. Es wurde in Gent die Größe der
Bühnen von Brüssel und Antwerpen angestrebt, was auch
verwirklicht wurde. Da der Staat das Projekt genehmigte,
werden die Genter sehr stolz auf ihr Theater gewesen sein,
da es nun ebenbürdig war.

"An den Seiten der Bühne befinden sich die Ankleidezim-
mer des Theaterpersonales, und über denselben 32 Garde-
robenzimmer nebst zwei großen Magazinen für die Deko-
razionsstücke. Endlich sind noch zu ebener Erde die Werk-
stätten der Dekorateurs, Maler, Zimmerleute, und andere
kleinere Lokalitäten vorhanden." (9)

Zum Teil lassen sich diese Räumlichkeiten im Oberge-
schoßplan auffinden. Das meiste ist jedoch nur der bieder-
meierzeitlichen Beschreibung zu entnehmen. Wichtig ist
auch ein Hinweis auf die Heizung, mit der die Theaterräu-
me dann bei kalter Witterung beheizt wurden. Es handelt
sich um eine Dampfheizung:

"Die Heizung des Gebäudes geschieht mittelst eines, unter
einem festen, gut versicherten Gewölbe angebrachten
Dampfapparates, der zugleich mehre, zum Luftwechsel im Theaterraume
befindliche Ventile, und nöthigen Falls auch
die zur Löschung eines Brandes allenthalben eingerichte-
ten Wasserpumpen in Bewegung setzt." (10)

Die Formulierung, der Dampfapparat sei in einem "festen,
gut versicherten Gewölbe" untergebracht, läßt darauf
schließen, daß man sich bewußt war, daß diese Technik
noch in den Anfängen steckte und durchaus gefährlich sein
konnte. Umgekehrt konnte diese Dampfheizung auch dazu
genutzt werden, um Wasserpumpen in Bewegung zu ver-
setzen, durch die Wasser zur Löschung von Bränden rasch
im Theater zur Verfügung stand. Die Heizungsarten, die in
der Biedermeierzeit zur Verfügung standen, sollten unbe-
dingt als Thema genauer bearbeitet werden. Auch der Fort-
schritt im Brandschutz und in der Bekämpfung von Brän-
den ist ein lohnendes Thema, weil Ausarbeitungen zulas-
sen, die Entwicklungen im 20.Jahrhundert besser zu verste-
hen.

Betrachtet man die Hauptfassade des neuen Theaters im
Gent der Biedermeierzeit, so hat man einen zweigeschossi-
gen Bau vor sich, der im Erdgeschoß eine Rustikafassade
zeigt und darüber ein Obergeschoß mit Türfenstern und
Wandöffnungen, die an Palladio und Serlio denken lassen.
Die Architektur der Renaissance war also Vorbild für dieses
Bauwerk. Eher ungewöhnlich ist der Mittelrisalit, der "ei-
runde" Säle enthält. Zu ebener Erde konnte man durch Tor-
durchlässe mit Kutschen einfahren. Oben deutete der Ar-
chitekt durch hohe Wandöffnungen mit Rundbögen an, daß
sich dahinter stattliche Festsäle befinden. Die Rundbögen
liegen auf Architraven auf, die unter sich hochrechteckige
Wandöffnungen haben. Die Architrave wiederum werden
von Säulenpaaren getragen. Darunter liegen im Erdge-
schoß die Durchfahrten, die jedoch nicht mit Rundbögen
überdeckt wurden, sondern weite horizontale Tragebalken
haben. Die Wandöffnungen oben und unten sind zueinan-
der in einen Bezug gesetzt, was die monumentale Wirkung
dieser Anordnung noch steigert. Ähnlich wurde der Mittel-
teil der seitlichen Fassadenabschnitte links und rechts ne-
ben dem Mittelrisalit behandelt. Hier liegen zwei große
Wandöffnungen übereinander, die obere hat ebenfalls einen
Rundbogen über sich. Begleitet werden diese weiten Tür-
fenster von kleineren hochrechteckigen Türfenstern, was
zusammen das sogenannte Palladio-Motiv ergibt, das Pal-
ladio an der Fassade der Basilika von Vicenza realisierte,
und welches von den Architektengenerationen danach sehr
bewundert wurde. Vor Palladio hatte bereits Serlio solche
Fensterkombinationen angewandt, Palladio hatte sie je-
doch meisterhaft weiterentwickelt.

Betrachtet man die horizontale Gliederung der Fassade, so
befindet sich unter der Sockelstreifen, der zugleich mit ei-
nem Gesimsband abschließt, das bei den Fenstern als
Fensterband dienen kann. Darüber liegt das hohe Rustika-
band, in das hochrechteckige Tür- und Fensteröffnungen
eingelassen sind. Nur im Mittelrisalit und in der Mitte der
seitlichen Fassaden befinden sich die anderen Tür- und
Fensteröffnungen. Über der Rustikafassade verlaufen Ge-
simsbänder, welche zum einen die Rustikafassade ab-
schliessen, zum anderen ein Brüstungsband ergeben, das
unter den hochrechteckigen Türfenstern der Obergeschoß-
fassade verläuft. Auch hier ergeben sich die Fensterbän-
ke durch den obersten Teil des Gesimsbandes. Über der
glatten Putzfassade des Obergeschoßes verläuft ein Ab-
schlußgesims, über dem sich das Fassadenband hinzieht,
in das kreisrunde Fenster eingelassen wurden, die als
Oberlicht der Vorsäle und Foyers dienen könnten. Erst da-
rüber verlaufen die Abschlußgesimsstreifen der Fassade
insgesamt, und darüber erhebt sich die Attika vor dem lang-
gestreckten Walmdach des Theaters und des Konzertsaa-
les dieses multifunktionalen Gebäudes. Über dem eirunden
Bauwerk des Mittelrisaliten erhebt sich ein Dach, das die
Form dieses rundigen Saalgebäudes aufnimmt und nach
oben strebt, ohne daß die Neigung dieses Daches die Hö-
he des langgestreckten Walmdaches übersteigt.

Vertikal wurde diese Prachtfassade durch Ecklisenen ge-
gliedert, die als Rustikawandpfeiler ansteigen und dann zu
anders gearteten schlankeren Wandpfeilern werden. Bei
genauer Betrachtung fällt auf, daß die mittleren Abschnitte
der seitlichen Fassaden links und rechts des Mittelrisaliten
als Palladio-Motiv ebenfalls etwas vor die übrige Fassaden-
fläche treten, also ebenfalls Risalite darstellen, an deren
Ecken Ecklisenen aufsteigen. Die Fenster und Türen bilden
zusammen Dreiergruppen, wenn sie zwischen diesen drei
Risaliten oder seitlich davon liegen.

Die gesamte Hauptfassade ist überaus symmetrisch ge-
staltet worden, was auf einen Klassizismus schließen
läßt, der zwar seine Ursprünge in der Antike und in der Re-
naissance hat, aber zugleich eine biedermeierzeitliche
Moderne zum Ausdruck bringen soll. Es dürfte angebracht
sein, die Bauwerke, die der Architekt Roelandt zeichnete
und ausführte, in einen Vergleich zu bringen, um die Ar-
chitektur dieser Epoche in Gent und anderswo, wo er ge-
baut hat, besser zu verstehen. Da der Wert dieser Archi-
tektur sicher als hochwertig angesehen wurde, dürften sich
viele Archivalien zu den Gebäuden erhalten haben, die
durchgearbeitet werden können. Gent erhielt also in der
Biedermeierzeit ein sehr eindrucksvolles Theater und gehör-
te zu dieser Zeit zu den Niederlanden.

K.L.

Dieser Text von Karl-Ludwig Diehl wurde in
http://groups.google.com/group/baugeschichte
zur Diskussion gestellt. Der Autor ist über folgende
Emailadresse erreichbar: baugeschichte (at) email.de

Anmerkungen:
(1)-(9) zitiert aus: o.A.: Ueber den Plan der neuen Schau-
burg in Gent. S.21-22 und Zeichnungen auf einem Blatt
zur S.22 in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1838. S.21
(10) zitiert aus: o.A., wie vor, S.22


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