Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: eine Einkaufspassage aus der Biedermeierzeit in London

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Karl-Ludwig Diehl

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Oct 28, 2008, 9:46:42 AM10/28/08
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Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert
errichteten Bauwerken: eine Einkaufspassage aus
der Biedermeierzeit in London


In London war in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts ein
großer Bazar zwischen zwei parallelen Straßen der Stadt
errichtet worden. Eine dieser Straßen ist genannt, die an-
dere leider nicht. Das erschwert die Suche nach der ur-
sprünglichen Lage dieser Verkaufsstätte. Der Hauptein-
gang lag an der Oxfordstreet. Er war repräsentativ gestal-
tet. Vermutlich wurden hier die Herrschaften vorgefahren.
Das Dienstpersonal betrat wohl von der Parallelstraße
aus einen Warteraum, denn es heißt fast schon abwer-
tend in einer Beschreibung zu dieser Neuheit in dieser
Metropole:

"Dann befinden sich daneben noch einige andere Zimmer
n, o, in denen man ruhen und Erfrischungen zu sich neh-
men kann, und wovon das Zimmer o für die Domestiken
bestimmt ist, die ihre Herrschaften erwarten." (1)

Die Allgemeine Bauzeitung, die im 2.Jahrgang darüber be-
richtete, hält diese Einkaufspassage, für die es Vorbilder
in Bazaren Vorderasiens gab, für eine ungewöhnliche Neu-
heit. Sie schwärmt über die Maßen von dem Bauwerk
und will später darüber berichten, sobald weitere Unterla-
gen vorliegen:

"Dieß ist ein flüchtiger Entwurf von dieser sehr bedeuten-
den Anlage, die wenige ihres Gleichen in der Welt haben
mag, und wovon wir unseren Lesern sobald als möglich
Zeichnungen und nähere Mittheilungen geben zu können
hoffen." (2)

Man hatte dem Bericht in der österreichischen Fachzeit-
schrift eine schlichte Grundrißzeichnung beigegeben.

http://www.fotos.web.de/spaceoffice/London_Bazar
(Grundriß)

An anderer Stelle im Text wird überschwenglich formuliert:

"Dieser Bazar, der in der Konstruktion und Anlage wirklich
höchst großartig ist, enthält einen ungeheuren Raum, in
welchem Waaren jeder Art, Gemälde, Skulpturen und an-
dere Kunstwerke, Kuriositäten, Antiken, alle Arten von Er-
frischungen, Blumen und seltene Gewächse, kurz alles,
was der Luxus nur erfinden mag, aufgestellt sind." (3)

Der Bazar, mit seiner orientalischen Prägung, wurde da-
mals offensichtlich als sehr aufregend erlebt. Wer ihn be-
trat, befand sich von Luxusgütern umgeben. Es ist zu ver-
muten, daß nicht jeder den Bazar betreten konnte, son-
dern darauf geachtet wurde, daß nur eine bestimmte Kli-
entel diesen Bazar betrat.

Wertet man den Text zum Verständnis der Zeichnung
aus, so ergibt sich folgende Anordnung der Räumlichkei-
ten:

a) ist der auf Säulen ruhende Vorbau vor dem Hauptein-
gang in den Bazar.
b) ist der Eingang auf der Rückseite.
c) ist das Vestibül am Haupteingang.
d) sind die Gänge und Galerien des Bazars.
e) ist der Vorraum vor der Treppe in die oberen Verkaufs-
räume.
f) ist die Treppe selbst, die nach oben führt.
g) ist ein großer und hoher Saal, der die Höhe der beiden
Verkaufsetagen hat. Durch Oberlicht wird der Saal erhellt.
h) ist eine weitere Treppe an anderer Stelle, die in die obe-
re Etage führt. Vermutlich bewegte sich der Einkäufer-
strom auf dieser Treppe wieder abwärts.
i) ist eine Rotunde, die sowohl unten wie oben vorhanden
ist.
k) ist ein Gewächshaus, von dem es heißt, es sei ganz
aus Eisen konstruiert. Die Blumen, die darin aufzufinden
waren, werden wohl sehr viel natürliches Licht gebraucht
haben.
l) ist der Springbrunnen im Gewächshaus.
m) ist ein Gewächshausanbau, erweitert um Sitznischen,
die im Halbrund um den Springbrunnen angeordnet sind.
Man hat hier offensichtlich Bänke eingebaut und zu die-
sen Nischenräumen Volièren hinzugefügt.
n) ist der schon erwähnte Erfrischungsraum, an den sich
der bereits genannte Warteraum
o) für die Domestiken anschließt. (4)

Es ist anzunehmen, daß die Domestiken nicht durch den
Bazar wandern durften, sondern dies ein Privileg der geho-
benen Gesellschaftsschichten war, die sich mit Dünkeln
vor Eindringlingen aus unteren Schichten schützte.

Obwohl der Text zu diesem Bazar sehr kurz ist, der aus-
gewertet wurde, bietet er doch sehr viel Einblick in die
sozialen Verhältnisse im London der Biedermeierzeit.
Dieser Bazar, wie es im Text heißt, "im türkischen Ge-
schmack", ist eigentlich ein Bazar, der anders als ein
türkischer Bazar, nicht jedem zugänglich ist, sondern als
Luxuseinrichtung ausgewiesen wurde, in der die besseren
Londoner Kreise in gediegener Umgebung Einkäufe tätig-
ten. Der Orientalismus, ein Thema für sich, schuf, als Aus-
stattungsbewegung, offensichtlich den gehobenen Schich-
ten ein adäquates Ambiente.

Es dürfte interessant sein, herauszufinden, ob sich dieser
historische Verkaufsraum noch erhalten hat. Desweiteren
wäre die Funktion des Orientalismus in der europäischen
Gesellschaft dieser Zeit herauszuarbeiten. Daß er als
Baustil eine Variante der historistischen Architekturströ-
mungen des 19.Jahrhunderts darstellt, darf angenommen
werden. Man wird diesen Baustil aber nicht einfach als
Stilgemisch auffassen können, sondern in der Begegnung
mit dem Orientalischen die Nähe zu den anderen Kultur-
räumen geboten haben. Man wollte in einer globalisierten
Welt leben. Diese galt vermutlich als ein offener Raum,
die den reichen Reisenden zur Verfügung stand. Die Do-
mestiken der jeweiligen Herrschaften hatten das Privileg,
unterwürfig mit auf Reisen gehen zu dürfen, waren dabei
aber ihrer Herrschaft ausgeliefert. Wer bereits unterwegs
gewesen war, konnte in solch einem Bazar in seiner
Erinnerung schwelgen. War er noch nicht unterwegs ge-
wesen, bot sich ihm zumindest die Illusion, unterwegs
zu sein.

Nach Recherchen stellte sich heraus:

Das Gebäude verschwand im Jahre 1937. (5) Zur genau-
eren Baugeschichte an diesem Ort gibt es gute Hinweise,
die sich auswerten lassen. (6) Eine Fotografie des unter-
gehenden Gebäudes fand sich. Weitere Recherchen
sind nötig.

K.L.

Dieser Text von Karl-Ludwig Diehl wurde in
http://groups.google.com/group/baugeschichte
zur Diskussion gestellt. Der Autor ist über folgende
Emailadresse erreichbar: baugeschichte (at) email.de

Anmerkungen:
(1)-(3) zitiert aus: o.A.: Der große Oxford Bazar oder das
Pantheon in Oxford Street zu London. S.430 in: Allge-
meine Bauzeitung. Wien, 1837
(4) siehe die Auflistung im Zusammenhang des Textes
von: o.A., wie vor, S.430
(5) siehe zur Vorgeschichte dieses Bauwerkes:
http://en.wikipedia.org/wiki/Pantheon,_London
Darin am Ende die Notiz:
"In 1833–34, the Pantheon was rebuilt as a bazaar by the
architect Sydney Smirke. The whole of the roof and part
of the walls of the old building were taken down, but the
entrance fronts to both Oxford Street and Poland Street
were retained, as were also the rooms immediately be-
hind the former. The main space of the new building was
a great hall of basilican plan, with a barrel-vaulted nave
of five wide bays. In 1867, the building was acquired by
W. and A. Gilbey, wine merchants, and was used by
them as offices and show rooms until 1937. It was
demolished shortly afterwards to make way for a branch
of Marks and Spencer, which is still there."
(6) siehe:
http://www.british-history.ac.uk/report.aspx?compid=41477
Foto vom Zustand des Gebäudes im Jahre 1937:
http://www.british-history.ac.uk/image.aspx?compid=41521&filename=figure0290-023-b.jpg&pubid=290




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