Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: ein Gebäude für die Seidenzucht in der Nähe von Paris

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Karl-Ludwig Diehl

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Oct 27, 2008, 12:07:11 PM10/27/08
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Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert
errichteten Bauwerken: ein Gebäude für die
Seidenzucht in der Nähe von Paris


Der Architekt Destailleurs hatte in Villemonble, in der Nähe
von Paris, für einen Herrn Grimaudet ein Gebäude für die
Seidenzucht entworfen. Um dies tun zu können, nutzte er
die Kenntnisse des H.d'Arcet, der ein Mitglied der franzö-
sischen Wissenschaften in Paris war. Dieser hatte in Süd-
frankreich auf einer Forschungsreise sogenannte "Seiden-
bauhäuser" aufgesucht, um sich ein grundlegendes Fach-
wissen von der Seidenraupenzucht und den dafür notwen-
digen Gebäuden zu schaffen. Seidenraupen brauchen be-
stimmte Überlebensbedingungen. Sie müssen "den zu
ihrer Zucht nöthigen Luftzug, so wie auch den passenden
Grad von Wärme und Feuchtigkeit" antreffen. (1)

Offensichtlich war die Biedermeierzeit ein kulturgeschicht-
licher Abschnitt, in dem in Europa die Seidenraupenzucht
eine besondere Stellung einnahm, denn es heißt im Text
aus dem Jahre 1836:

"Bei der großen Ausdehnung, deren sich der Seidenbau
gegenwärtig beinahe durch ganz Europa erfreut, und der
wichtigen Stellung, die dieser Artikel im jetzigen Handel
einnimmt, dürfte die Beschreibung eines zweckmäßig an-
gelegten Seidenbauhauses von nicht geringem Interesse
sein." (2)

Es fragt sich also, wie zu dieser Zeit ein zweckmäßig an-
gelegtes Seidenbauhaus aussehen sollte. Wir können zur
Beantwortung dieser Frage das von Destailleurs geplante
und für Grimaudet gebaute Bauwerk auswerten, da uns
Grundrisse, Schnitte und weitere Hinweise zur Verfügung
stehen. Was fehlt, sind Ansichten des Gebäudes, die uns
etwas über den Baustil des Gebäudes aussagen könnten.

http://www.fotos.web.de/spaceoffice/Villemonble_Seidenbauhaus
(Grundrisse, Schnitte, Details)

Zu den Abbildungen auf dem Blatt XCV ist gesagt:
"ist Fig. 1 der Grundriß des Erdgeschosses.
Fig. 2 der Grundriß des ersten Stockes
Fig. 3 Durchschnitt nach GH.
Fig. 4 Durchschnitt nach EF.
Fig. 5 Durchschnitt nach CD.
Fig. 6 Durchschnitt nach AB." (3)

Das Außenmauerwerk bildet ein langgestrecktes Rechteck.
An die Mitte der Längsseite des Gebäudes wurde ein Trep-
penhaus angebaut. Den großen Innenraum des Seidenbau-
hauses hat der Architekt durch zwei Innenwände im Erdge-
schoß verkleinert. Im Erdgeschoß stehen Pfeiler, welche
die Geschoßdecke zusammen mit dem Außenmauerwerk
tragen müssen. Durch die Trennwand wurde "ein Gemach
für kalte oder warme Luft" vom großen Raum abgeteilt. Es
wurde von hier aus die gleichmäßige Wärmeverteilung im
Gebäude abgesichert. Entweder wurde beheizte Luft zur
Zirkulation gebracht, oder man nahm Eis, um in der zu war-
men Jahreszeit die zu warme Luft abzukühlen, die verteilt
wurde.

"In diesem Gemache /.../ befindet sich der Herd /.../ mit
einem Rohre, welches in den Schornstein /.../ einmündet.
Hier sind Vorrichtungen angebracht, um den Luftstrom re-
guliren, und ihm nach Bedürfniß einen höhern oder niedern
Wärmegrad, so wie mehr oder mindere Feuchtigkeit mitzu-
theilen." (4)

Der große Raum im Erdgeschoß wurde zum Trocknen der
Maulbeerblätter genutzt. Außerdem wurden hier die Ko-
kons der Seidenraupen abgesponnen.

Das Obergeschoß ist ein sehr hoher Raum. In ihn mündet
vom Raum im Erdgeschoß, in dem die genau regulierte
Warmluft zur Zirkulation gebracht wird, hier und da "hölzer-
ne Kanäle", aus denen die Luft herausströmt. Auf hohen
Stellagen, zwischen die Arbeitsgänge eingebaut sind, lie-
gen die Gitter der "Seidenbaustube", wie der hohe Saal
im Text genannt wird. Auf den Gittern leben die Seidenrau-
pen und werden mit Maulbeerblättern gefüttert.

"Das Ausbrüten der Eier, Füttern der Würmer u. geschieht
in diesem, so wie in jedem andern Seidenbauhause auf
längst bekannte Weise." (5)

D'Arcet verweist auf die Schriften von Dandolo und Bona-
fous, wo sich sehr genaue Erörterungen dazu finden lies-
sen. Es ist anzunehmen, daß diese Schriften in der Bie-
dermeierzeit in guten Bibliotheken vorhanden waren. Ande-
rerseits sind im ausgewerteten Text andere Angaben ge-
geben, welche auf die Raumnutzung verweisen:

"Im Anfange der Zucht kann bloß 1/4 der Seidenbaustube
benützt werden; zu dem Ende wird /.../ eine mit Papier be-
zogene Leinwand nach der ganzen Breite des Gebäudes
aufgestellt, zugleich werden anfänglich alle Oeffnungen der
untern und obern Züge in dem so abgeschiedenen Raume
verstopft. Brauchen dann die Seidenraupen bei dem Fort-
gange der Zucht mehr Platz, so rückt man mit der Lein-
wand weiter vor, auch öffnet man nach und nach so viele
Zuglöcher, als für nothwendig erachtet wird. Auf diese Art
hat man jederzeit den Luftstrom in seiner Gewalt, ohne an
Brennmaterial oder an Eis mehr verbrauchen zu müssen,
als es die gerade vorhandene Menge der Seidenwürmer
erfordert." (6)

Man hat also, je nach Raumbedarf der Seidenraupen, die
Seidenbaustube, also das hohe Obergeschoß mit seinen
Stellagen, von einer verkleinerten Raumnutzung zu einer
immer größeren Raumnutzung verändert. Dabei half eine
Trennwand aus Leinwand, die mit Papier luftdicht verklebt
war. Dadurch war nur der gerade für die Aufzucht der Sei-
denraupen zu nutzende Raum zu temperieren. Folglich
ließ sich der Brennmaterialverbrauch optimieren, genauso
die Verbrauchsmenge des Kühlmaterials, um der zirkulie-
renden Luft die immer gleichmäßig hohe Temperatur zu
geben. Mit den damaligen Thermometern und Hygrometern
wurde in engen Zeitabschnitten sehr regelmäßig die Raum-
temperatur der "Seidenbaustube" kontrolliert. Man stieg
auch in das Dachgeschoß, da dort oben an der Qualität
der Luft gespürt werden konnte, ob die Bedingungen im
Zuchtraum für die Seidenraupen optimal waren.

Die technischen Einrichtungen, die zur Herstellung des
optimalen Luftstroms gebraucht wurden, waren sehr um-
fangreich. Man arbeitete mit "Schubern", "Windfächern",
Regulierschnüren im Obergeschoß und mit Ableitungs-
schläuchen verdorbener Luft z.B. im Erdgeschoß, um die
bei Trocknungsprozeß der Maulbeerblätter entstandene
Abluft entfernen zu können. Man müßte Zeit dafür einset-
zen, um die Seidenbauhäuser, die in der Biedermeierzeit
gebaut wurden, oder in Betrieb waren, in einen Vergleich
zu bringen. Dazu müßte sehr viel Archivmaterial zusam-
mengetragen werden. Die Literatur zum Thema wird be-
reits sehr umfangreich sein, die auszuwerten wäre.

K.L.

Dieser Text von Karl-Ludwig Diehl wurde in
http://groups.google.com/group/baugeschichte
zur Diskussion gestellt. Der Autor ist über folgende
Emailadresse erreichbar: baugeschichte (at) email.de

Anmerkungen:
(1) siehe dazu: d'Arcet: Beschreibung eines Seidenbau-
hauses, so wie dasselbe für die Gesundheit der Seiden-
raupen zweckmäßig erachtet wird, indem man demselben
stets den zu ihrer Zucht nöthigen Luftzug, so wie auch den
passenden Grad von Wärme und Feuchtigkeit mittheilen
kann. S.438-441 und Zeichnungen auf dem Blatt XCV in:
Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1836. S.438
Die Redaktion der Allgemeinen Bauzeitung scheint diesen
Text als Übersetzung in die deutsche Sprache abgedruckt
zu haben, es finden sich jedoch im Text Hinweise darauf,
daß die Redaktion eigene Textstellen eingebaut hat.
(2)-(4) zitiert aus: d'Arcet, wie vor, S.438
(5)-(6) zitiert aus: d'Arcet, wie vor, S.440


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